Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 8

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April 1941

Berlin

Der Riemen ihrer Ledertasche, die mit Büchern gefüllt war, schnitt in Hannahs Schulter. Das Sommersemester hatte angefangen und sie war auf dem Heimweg von der Universität. Wie vom Professor angekündigt, hatten tatsächlich einige Kommilitonen die Prüfungen nicht bestanden und mussten die medizinische Fakultät verlassen. Die ersten beiden Semester hatte Hannah in München absolviert, war jedoch zum Wintersemester in die Hauptstadt gewechselt. Ein Neuanfang. Eine Flucht vor ihrem alten Leben.

Hannah liebte die harte Arbeit, schonte sich nicht und wusste, dass sie als Frau mehr leisten musste als ihre männlichen Kommilitonen. Im besten Falle machten Frauen noch eine Ausbildung zur Krankenschwester, so wie ihre ehemalige Freundin Elsa. Manche verdienten als Telefonistin, Hausmädchen oder Erzieherin ein paar lausige Reichsmark. Trotz der Vorurteile, dass Frauen weniger leistungsfähig wären, mussten sie seit Kriegsbeginn Arbeitsplätze von Männern in der Industrie, der Verwaltung und im öffentlichen Verkehr übernehmen. Selbstverständlich für viel weniger Lohn und nur temporär, bis die Männer wieder aus dem Krieg heimgekehrt waren. Ein langes Studium galt als absolute Zeitverschwendung. Bis man fertig war, waren die besten Jahre der Frau vorbei. Sie war dankbar, dass ihr Vater ihr niemals das Gefühl gegeben hatte, dass sie als Mädchen weniger schaffen konnte als ihre beiden älteren Brüder. Er hatte sie ermutigt und an sie geglaubt. Er hatte ihren Geist beflügelt und ihren Ehrgeiz geschürt. Sie würde nicht eher aufgeben, bis sie ihr Examen in der Tasche hatte. Hannah verspürte einen gewissen Stolz, da sie zu den Jahrgangsbesten gehörte. Ihr wurde stets auf die Finger geschaut, ihre Zeichnungen wurden kritischer beäugt und ihre Abfragen erschienen ihr ruppiger. Misstrauen wurde ihr entgegengebracht und Zweifel schimmerten in den Augen der Professoren, die einer Frau ein solches Studium nicht zutrauten. Dennoch hatte sie sich wieder und wieder bewiesen und alle Prüfungen mit Bestnoten bestanden. In einer Klausur war es ihr sogar gelungen, die Ergebnisse ihres Bruders Hermann zu toppen. Der Wunsch, Menschen zu helfen und Ärztin zu werden, war größer als die Angst vor dem Versagen.

Normalerweise arbeitete Hannah sogar noch am Wochenende in einem Café. Ihr Vater Georg Sedlmayr, der im Süden Bayerns eine Arztpraxis besaß, schickte ihr zwar jeden Monat einen Geldbetrag, von dem sie gut leben konnte, und er bezahlte die Miete ihrer kleinen Stadtwohnung, aber sie wollte ihm nicht zur Last fallen und auf eigenen Beinen stehen. Für eine junge Frau galt es zwar als unschicklich, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden ohne die elterliche Kontrolle lebte, doch Hannah achtete nicht mehr auf das Gerede fremder Leute. Sie hätte auch in die Stadtvilla ihres Onkels ziehen können, hatte sich aber dagegen entschieden. Sie musste frei sein, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Ihr Onkel Tim, der als Mitglied der SPD im Reichstag gesessen hatte, hatte sich seit dem Reichstagsbrand aus der Politik zurückgezogen und arbeitete in einer hohen Position in einer großen Fabrik. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie sich an ihn wenden. Er war es auch gewesen, der ihr die Wohnung beschafft hatte. Ein beruhigender Gedanke, einen Verwandten in der Nähe zu haben.

Hannahs Bruder Hermann, der in München lebte, war bald am Ende seines Studiums angekommen. Sein Traum war es immer gewesen, die Praxis ihres Vaters in Rosenheim zu übernehmen, doch der Krieg hatte alle Pläne durchkreuzt – das Land brauchte Ärzte. Sie wollte gar nicht daran denken, wohin sie Hermann schicken würden, ohne jegliche Praxiserfahrung, die er vorher in einem Krankenhaus hätte sammeln dürfen. Man wurde heutzutage einfach ins kalte Wasser geworfen. Entweder man lernte zu schwimmen oder man ertrank, so einfach war das. Was die jungen Ärzte an der Front erwartete, das war wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellbar.

Ihr anderer Bruder Karl war schon vor über einem Jahr eingezogen worden. Mit seinen 22 Jahren beherrschte er den Morsecode wie seine Muttersprache und war als Funker eingesetzt. Wo genau, konnte Hannah nicht einmal mehr sagen. Es dauerte Wochen, bis einer seiner seltenen Briefe zu Hause einflatterte, und gesehen hatte sie ihn im letzten Sommer, als er auf Heimaturlaub war. Von ihrem immerlustigen, verrückten Bruder war nichts mehr übrig gewesen. Beim kleinsten Geräusch ging er in Deckung, seine Ohren und Augen schienen schärfer geworden zu sein. Eine Fähigkeit, die man zum Überleben brauchte.

Im Spätsommer war sie dann zusammen mit ihrer Freundin Marlene Liebreiz nach Berlin gezogen. Marlene wartete auf ihren großen Durchbruch als Schauspielerin und Sängerin. Eine Augenweide. Die Männer drehten sich reihenweise nach ihr um, wenn sie sich mit wiegenden Hüften an ihnen vorbeischlängelte. Hannah bewunderte sie für ihren Mut, ihr Selbstbewusstsein und den richtigen Riecher für die neueste Mode. Neben ihr war Hannah ein zwitschernder, kleiner Spatz, Marlene hingegen ein schillernder Pfau. Eine Exotin auch in ihrem Verhalten, denn sie gab nichts auf die Meinung von anderen. Hermann war ihrem Charme voll und ganz erlegen. Von Marlene wusste sie, dass sie nach wie vor Briefe austauschten und von Zeit zu Zeit telefonierten. Mit ihren 26 Jahren konnte Marlene zwar einen Haufen Verehrer an jedem Finger vorweisen, eine richtige Beziehung hatte sie aber noch nie geführt. Marlene liebte die Freiheit mehr als alles andere. Liebe war austauschbar – Freiheit unbezahlbar.

Immer noch war Hannah ihr unendlich dankbar, dass sie mit ihr in die Hauptstadt gegangen war. Allein hätte sie nie den Mut aufgebracht, in eine Stadt zu ziehen, die so weit weg von ihrem Zuhause lag. Sie hatte sich einen Tapetenwechsel gewünscht, und als Marlene ihre alte Heimat vorgeschlagen hatte, war es an der Zeit gewesen, die Koffer zu packen. Ein Neustart. Ein glatter Bruch. Knapp siebenhundert Kilometer lagen nun zwischen ihrer Heimatstadt Rosenheim und Berlin. Siebenhundert Kilometer, die ihr Platz zum Atmen gaben.

Nie hätte sich Hannah träumen lassen, dass sie mit nicht einmal zwanzig Jahren an gebrochenem Herzen leiden würde. Nie hätte sie gedacht, dass man in der Fremde seine Heimat so sehnsüchtig vermissen konnte.

Sie war ein Mädchen vom Land. Der Großstadtdschungel machte ihr immer noch ein wenig Angst, und manchmal stellte sie sich vor, den Asphalt gegen löwenzahnbedeckte Felder auszutauschen, die Pflastersteine gegen Mohnblumen. So sehr sie es auch versuchte, in Berlin konnte sie nie ganz zur Ruhe kommen. Sie sehnte sich nach den Bergen, der freien Landschaft, nach dem vertrauten Dialekt. Aber das neue Leben brachte auch seine Vorteile mit sich. Hier hatte Hannah die Chance, erwachsen und als eigenständige Person wahrgenommen zu werden, nicht nur als die kleine Arzttochter.

In ihrem alten Leben in Bayern war sie mit Jacob zusammen gewesen. Jacob Sternlicht. Wenn sie seinen Namen laut aussprach oder jemand anderes ihn in den Mund nahm, schmerzte es sie wie die Klinge eines Messers. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Sie waren miteinander aufgewachsen, waren zusammen zur Schule gegangen. Später verband sie eine verbotene Liebe. Denn anstatt glücklich sein, ins Kino oder zum Tanzen gehen zu dürfen, waren sie gezwungen gewesen, sich heimlich zu treffen, geheime Worte auszutauschen, sich hinter verschlossenen Türen zu küssen und sich im Verborgenen nahe zu sein. Dank des falschen Ausweises, den Marlene für Jacob besorgt hatte, hatten sie wenigstens in München ein wenig Freiheit genießen können. Dennoch, ihre Liebe galt als Rassenschande, denn Jacob Sternlicht war Jude.

Die Erinnerung an den Abschied schmerzte sie, und immer noch stachen ihr Tränen in den Augen, wenn sie darüber nachdachte. Jacob hatte ihr erzählt, dass sie eines der heißbegehrten Visa nach Amerika bekommen hatten. Es war ihr gemeinsamer Traum gewesen, dort ein neues Leben zu beginnen. Stattdessen hatte er sie vertröstet, dass sie nachkommen sollte nach New York. Der Abschied lag nun schon fast ein Jahr zurück. Es war das letzte Mal, dass sie von Jacob etwas gehört hatte.

Seitdem kam sich Hannah oft vor wie in einem Alptraum. Einer dieser Alpträume, in dem man rannte und rannte, ein Ziel vor Augen. Doch egal wie schnell man sich bewegte, wie sehr die Lunge brannte, das Ziel rückte immer weiter und weiter in die Ferne und blieb unerreichbar.

Doch die Zeit verging, selbst für Hannah. In den ersten Tagen war sie unfähig gewesen, aus dem Bett zu kommen. Allein ihre Wohnung in München zu verlassen, bereitete ihr unglaubliche Anstrengungen. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, irgendjemanden zu sehen oder um Hilfe zu bitten. Keine Kraft gehabt zu essen.

»Mir reicht es jetzt, Hannah! Du kommst mit mir nach Berlin!«, hatte Marlenes Stimme sie zurück in die Realität geholt. Abgemagert und wie ein Häuflein Elend hatte Marlene sie aus dem Bett gezogen und ihr etwas zu Essen gekocht. In diesen Wochen hatte Hannah oft an den Tod gedacht. Wäre er nicht eine Erleichterung gewesen? Heilsam und erlösend. Doch der Gedanke an Jacob ließ sie weiteratmen. Hannah wusste, dass sie sich irgendwann einmal wiedersehen würden.

Sie hielt inne und zog einen Brief aus ihrer Tasche. Wie jeden Freitag warf Hannah den Brief in den Luftpost-Briefkasten. Die Adresse einer Unterkunft für Flüchtlinge in New York war dieses Mal nicht von Tränen verwischt. Marlenes Quellen hatten ihr diese zugespielt. Von dort wurden die Menschen an andere Orte verteilt und ihnen ein Start ins Leben ermöglicht. Wenn die Familie Sternlicht New York erreicht hatte, dann war sie mit Sicherheit dort registriert worden. Doch es war Krieg und sie war sich nicht sicher, ob ihre Worte jemals bei Jacob ankommen würden, ob die letzten Briefe jemals bei ihm angekommen waren. Als der Umschlag durch den Schlitz glitt, versteiften sich Hannahs Muskeln und sie erstarrte. Dieser Briefkasten war die einzige Verbindung zu Jacob, die sie noch hatte. Es war ein lähmendes Gefühl, sie schnappte nach Luft und kämpfte gegen die Taubheit an, die sie jede Woche aufs Neue verspürte, wenn sie zum Postkasten lief. Der Schmerz jagte in Wellen durch ihre Glieder, doch er war auszuhalten. Schmerz war ihr lieber als Gleichgültigkeit. Ein Schmerz, der über die Monate nicht nachgelassen hatte, aber mit der Zeit gelang es Hannah, ihn zu ertragen.

»Kann ick Ihnen helfen, meen Frollein?«, sagte eine Stimme. Obwohl sie direkt neben ihrem Ohr erklang, schien sie von weit her zu kommen. »Warten Se wohl auch auf jemanden?« Eine warme Hand fasste sie am Ellbogen und rüttelte sanft.

Ein älterer Mann stand vor ihr und nickte zum Briefkasten hin: »Meen Sohn is auch verschwunden. Ick wees nich mal, ob der überhaupt noch lebt.« Der Berliner Dialekt war immer noch fremd für sie und würde es wohl auch immer bleiben. Zu Hause in Rosenheim sprach sie mit ihren Eltern und Geschwistern bayerisch, doch hier in der Hauptstadt wurde sie nicht mehr verstanden, wenn sie ein paar Begriffe aus der Heimat einfließen ließ.

»Darf ick?« Der Mann schob sich an Hannah vorbei und versenkte seinen Brief im Schlitz. »Also, ick wünsch einen schönen Tag.« Er fasste sich an die Kappe und nickte Hannah zu.

Die Tatsache, dass auch Menschen um sie herum mit Schmerz, Unwissenheit und Verlust klarkommen mussten, gab ihr wieder etwas Kraft. Sie war nicht allein. Der verdammte Krieg versuchte, auch gestandene Männer in die Knie zu zwingen. Noch pulsierte aber das Leben durch ihre Adern und sie würde sich nicht so leicht geschlagen geben.

Hannah lief an einem Schaufenster vorüber und ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild hängen. War sie dünner geworden? Der Liebeskummer und der Stress an der Universität hatten ihr den Hunger verdorben. Die Wangenknochen standen spitz hervor, das Gesicht wirkte eingefallen, ihre blonden Haare reichten ihr bis über die Brust. Die Frauen hier in Berlin hatten sie beinahe alle bis auf Schulterlänge geschnitten, doch Hannah liebte ihren dicken Zopf heiß und innig. Auch von Hüten hielt sie nichts. Wenn sie sich umschaute, schien sie die einzige Frau zu sein, die keinen Hut trug. In Bayern war dies nicht üblich gewesen, mit Ausnahme von Trachtenhüten. Sie hatte zusammen mit Marlene schon öfters Hüte anprobiert. Doch egal ob diese eine große Krempe hatten, ob sie rund oder eckig waren, schwarz oder bunt, jedes Mal war ihr ihr Spiegelbild so fremd, dass sie den Hut sofort wieder abnahm. Auch mit den leuchtenden Lippenstiften wie Marlene sie trug, konnte Hannah nichts anfangen. Ihr Gesicht war fast ungeschminkt und sie blieb ein »Landei«. So wurde sie zumindest hin und wieder von Marlene aufgezogen.

Allein mit den Kleidern, die man in Berlin trug, konnte sie sich anfreunden. Breit geschnittene Schultern, eine schmale Taille, die hin und wieder von einem Gürtel oder einer Schleife betont wurden, und flatternde Röcke. Von ihrer Garderobe zu Hause hatte sie nur eines ihrer vielen Dirndlkleider mit nach Berlin genommen. Wenn sie das hier anziehen würde, würde sie auffallen wie ein bunter Hund.

Hannah setzte ihren Heimweg fort. Gerade als sie die Kirche passierte, bremste plötzlich ein kleiner Lastwagen mit quietschenden Reifen vor dem Gotteshaus. Männer in schwarzen Mänteln sprangen heraus, stürmten die Treppen hoch und rissen die Kirchentür auf. Gestapo, es bestand kein Zweifel. Ohne nachzudenken, lief Hannah auf die Treppenstufen zu. Sie musste helfen.

»Wo sind Sie? Sie sind verhaftet!« Die Stimmen hallten an den Kirchenwänden wider und ihr Echo drang bis nach draußen. Einer der Männer im schwarzen Mantel riss die Tür zum Beichtstuhl auf, die anderen polterten in die privaten Räume rechts neben der Kanzel.

»Lassen Sie mich los!«, rief eine brüchige Stimme. Eine Gänsehaut überzog Hannahs Körper, als sie sah, dass sie einen alten Mann festhielten. Seiner Kleidung nach konnte es sich nur um einen Priester handeln. »Lassen Sie mich sofort los … lassen Sie …« Ein Faustschlag brachte ihn zum Erstummen und kalter Schmerz griff nach Hannahs Herzen. Kannten diese Menschen nicht einmal Respekt? Kein Mitleid? Sie trieben einen Priester, einen Mann Gottes, wie einen Verbrecher vor sich her. Einer der Gestapomänner warf mit einer Bibel nach ihm und traf ihn hart am Kopf.

»Aufhören! Sofort aufhören«, schrie Hannah, doch die Männer schienen sie gar nicht zu hören.

Mit ihren Schlagstöcken stießen sie dem Mann in die Rippen, schlugen auf seinen Rücken und seine Schultern ein. Sein Wimmern und Schreien gingen durch Mark und Bein.

Hannah setze sich in Bewegung, wollte gerade zwischen den Bänken vorbei zur Kanzel laufen, als sie von einer kalten Hand gepackt und zurückgezogen wurde.

»Komm mit!« Der Mann, der ebenfalls einen Hut und einen schwarzen Mantel trug, fasste sie am Oberarm und zog sie mit sich aus der Kirche hinaus. Hannah stolperte hinter ihm die Treppenstufen hinunter, und als sie am Fuß der Treppe angekommen waren, drehte sich der Mann um. Ihr Herz machte einen Satz, als sie in die giftgrünen Augen von Erich Winter blickte.

»Sie?«, stieß sie hervor und wollte sich aus seinem Griff befreien. Er ließ sie augenblicklich los, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt, und durchbohrte sie mit seinem Blick.

»Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie Ihre Finger im Spiel haben«, rief Hannah wütend. »Dass Sie sich nicht schämen. Ein alter Mann! Ein Priester!«

»Gesetz ist Gesetz, Hannah. Das solltest du doch am besten wissen, oder nicht?« Er verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. »So ehrenhaft es auch ist, dass du helfen wolltest, aber sieh dich doch nur an: Ein zierliches Fräulein gegen Männer der deutschen Staatsgewalt?«

Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Worte sind auch Waffen«, blaffte sie ihn an, »aber davon verstehen Sie sicherlich nichts. Ihre Männer dreschen lieber auf Ihren Befehl hin auf einen Priester ein!«

»Wer sagt, dass sie auf meinen Befehl hin gehandelt haben?«

»Tun Sie nicht so, als ob Sie von alldem keinen blassen Schimmer hätten. Überall, wo Sie Ihre Finger im Spiel haben, bleiben Trümmer zurück.«

»Du schmeichelst mir, Hannah. Es ehrt mich, dass du meine Position so hoch einschätzt.«

Wie sehr sie ihn doch verabscheute. Sie kannte Erich Winter aus ihrer Heimat. Mit seinem arroganten Grinsen war er als Ortsgruppenleiter durch die Straßen Rosenheims geschlendert, als würde ihm die ganze Stadt gehören. Wie ein König hatte er sich aufgeführt. Jeden Tag war sein Name in der Zeitung gestanden. Sie waren damals bei seiner Ernennungsfeier eingeladen gewesen. Theresa Sedlmayr hatte darauf bestanden, dass sie der Einladung folgten, obwohl Hannahs Vater strikt dagegen gewesen war – Georg Sedlmayr war überzeugter Regimegegner. Winter war außerdem einmal am hellichten Tag bei ihnen aufgetaucht und hatte sie als junges Mädchen im Arbeitszimmer ihres Vaters befragt. Als Hannah daran zurückdachte, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Auch damals war es um einen Priester gegangen, der angeblich Winters Namen in den Dreck gezogen hatte.

»Sie haben wohl ein Problem mit der Kirche. Als Sie mich bei uns daheim mit Fragen durchlöchert haben, sollte ich auch einen Pfarrer verpfeifen. Zum Glück habe ich damals kein Wort gesagt.«

»Ich erinnere mich«, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu. Als Hannah zurückweichen wollte, spürte sie, wie sich die Treppensäule kalt gegen ihren Rücken drückte.

»Da warst du noch ein kleines Mädchen. Sieh dich an, wie erwachsen du geworden bist. Eine richtige Schönheit.« Seine Augen tasteten sie ab wie Scheinwerfer. Sein Schäferhund schlängelte sich wie eine Schlange um seine Beine, während Winters Finger durch sein Fell glitten.

Scham stieg in ihr auf. Er hatte sie damals vorgeführt wie eine Marionette. Erich Winter war in Rosenheim der Arm des Gesetzes gewesen. Regimegegner hatten es genauso schwer wie Juden. Er trug die Hauptverantwortung dafür, dass ihre Geschäfte zerstört und geplündert worden waren, hatte bei den Verhaftungen in der Reichskristallnacht danebengestanden und gelächelt. Genau wie jetzt.

»Was geschieht jetzt mit ihm?«, fragte Hannah vorsichtig.

»Verstoß gegen das Heimtückegesetz. Er wird seine Strafe bekommen.«

Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Die Stimmen von drinnen waren wieder lauter geworden, gleich würden die Männer aus der Kirche treten.

»Ich muss weg von hier!« Hannah konnte sich die Verhaftung nicht länger ansehen.

»Lass mich dich nach Hause bringen.«

In der Bewegung hielt sie inne und schaute Winter mit offenem Mund an. »Lieber fahre ich mit dem Priester zusammen ins Gefängnis!«, zischte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd war. Winter lachte hohl auf.

»Glaub mir, Hannah, dort drin würdest du es nicht einmal eine Stunde aushalten. Das Gefängnis ist nichts für so zarte Fräulein wie dich. Du erinnerst dich sicher noch an das Lager in deiner Heimat. Das Lager, aus dem du deine Juden geholt hast.«

Hannah erbleichte. Als Hans und Simon Sternlicht – Jacobs Vater und Bruder – in der Reichskristallnacht abgeholt und inhaftiert worden waren, war sie tags darauf mit ihrem Vater in das Lager gefahren. Dort waren sie Erich Winter über den Weg gelaufen. Am Ende hatte er sich einen Ruck gegeben und Hannah die beiden Gefangenen großzügig überlassen. Seine damaligen Worte, dass nichts im Leben umsonst war, hallten in ihr wider wie eine Totenglocke.

Sie hatte gehofft, dass sie Winter mit seinen unheimlichen Schlangenaugen und der arroganten Visage nie mehr sehen musste. Kaum war sie in Berlin angekommen, war jedoch genau er ihr in einem Café begegnet, und Hannah hatte seit diesem Tag immer befürchtet, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzen würden. Angst hatte sie keine vor ihm. Der Abscheu verdrängte jede Form von Furcht. Hass flammte in ihr auf, wenn sie daran dachte, wie hart er um die Freilassung von Hans und Simon Sternlicht nach der Reichskristallnacht in Rosenheim verhandelt hatte.

»Es freut mich sehr, dass du auch den Weg in die Hauptstadt gefunden hast, Hannah. Ich habe schon gehört, welche Erfolge du im Studium feierst.« Sein Lächeln hatte etwas Beängstigendes.

»Spionieren Sie mir etwa nach?«, fauchte sie.

»Gelegentlich«, gab er unverblümt zu. »In meiner Position habe ich mit den besten Ärzten des Landes zu schaffen. Viele davon lehren in der Charité. Ich bewundere fortschrittliche Frauen. Frauen mit einem Ziel im Leben.«

»Unterstützen Sie etwa nicht Ihre eigenen Ideologien? Ich dachte, dass eine Frau nur zum Kindergebären taugt. Sie sollte sich um die Erziehung und den Haushalt kümmern.« Ihr gelang es, seinem Blick standzuhalten. Der Hund zu seinen Füßen regte sich nicht. Wie eine Statue saß er da. Auch seine Augen hielten sie gefangen wie eine Maus in der Falle.

»Frauen, die über eine hohe Intelligenz verfügen, sollten diese auch nutzen. Als Ärztin dienst du letztendlich dem Deutschen Reich. Genau wie ich.«

»Ich bin nicht wie Sie«, zischte Hannah.

»Tatsächlich? Ich finde, dass wir ausgesprochen viel gemeinsam haben. Der Grips, der Ehrgeiz, die Verbissenheit. Du und ich sind aus demselben Holz geschnitzt. Du arbeitest genauso an deinem Erfolg wie ich an meinem.«

Erzürnt über seine Worte schüttelte Hannah den Kopf.

»Zu meinen Aufgaben gehört es, Menschen zu helfen. Nicht, Menschen zu misshandeln.«

»Der Arm des Gesetzes sorgt für Ruhe innerhalb unserer Gesellschaft. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder seine regimefeindliche Meinung herausposaunen dürfte. Der Priester hatte schließlich die Wahl und hat sich dafür entschieden, den Mund aufzumachen.« Seine Augen wanderten vom Eingang der Kirche bis zu den hohen Fenstern, durch die die Sonne hineinfiel und das Grün seiner Iris zum Leuchten brachte.

»Wie können Sie das alles nur mit Ihrem Gewissen vereinbaren?«

»Mein Gewissen ist rein wie Neuschnee. Ich tue, was richtig ist.« Er fasste sich an den Hut. »Du solltest besser verschwinden. Die Männer werden jeden Moment hier sein. Nicht, dass du am Ende noch in Ohnmacht fällst und ich dich doch nach Hause bringen muss.« Er zwinkerte ihr zu. »Nicht, dass ich dazu nicht bereit wäre, aber eine so fortschrittliche junge Frau wie du zieht es sicherlich vor, alleine nach Hause zu kommen. Husch Husch.« Er klatsche zweimal in die Hände. »Beeil dich jetzt. So wie sich das gerade angehört hat, sieht der Priester nicht besonders schicklich aus. Das könnte deiner zarten Seele nur schaden.« Hannah trat ein paar Schritte zurück. »Einen schönen Tag wünsche ich dir noch!«, rief Winter ihr zu.

Mit seinem Lächeln im Rücken, taumelte Hannah die Straßen entlang. Als sie um die Ecke bog, musste sie sich an einem Gartenzaun festhalten und sie sank in die Knie. Wie war es möglich, dass sie ihm wieder und wieder in die Arme lief? Während sie ihren Weg fortsetzte, verfolgte sie das Klicken einer Kamera wie Schüsse aus einem Maschinengewehr.

Von Sehnsucht und Träumen

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