Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 13

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Juni 1941

Berlin

»Wir haben einen Maulwurf unter uns. Ich möchte, dass du ihn aufdeckst und ihn ans Messer lieferst!« Oberführer Müller war plötzlich in Winters Büro aufgetaucht. Man konnte ihm die Nervosität nicht nur ansehen, sondern spürte sie auch, als würde sie wie Elektrizität durch den Raum zittern. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand durch das schüttere Haar und leckte sich über die Oberlippe. Seine Augen wanderten durch Winters Büro, glitten tastend über die Aktenschränke, die Decken, den Schreibtisch. So als würde er in diesem Raum ein Abhörgerät erwarten. Als wäre Winter so dämlich, es einfach hier zu platzieren.

Schließlich blieb Müllers Blick auf Zeus hängen. Winters Schäferhund hatte sich auf seiner Decke aufgerichtet und fixierte Müller, fast als könnte er jedes einzelne Wort, das die beiden Männer austauschten, verstehen. Der Schwanz war gespannt wie eine Bogensehne.

»Ein wunderschönes Tier, Erich. Ein richtiger Rassehund. Der Führer wäre begeistert von ihm. Er wäre der perfekte Vater für Blondis Welpen, sofern sie gedeckt werden soll.«

Winter ließ ihn einen kurzen Moment ausbrechen und vom Thema abweichen. Er wusste, was es für einen Rattenschwanz nach sich zog, wenn in der Zentrale tatsächlich ein Maulwurf arbeitete. Es würde Fragen geben, und zwar von oberster Stelle. Fragen darüber, wie hier mit vertraulichen Informationen umgegangen wurde. Fragen darüber, wem man überhaupt vertraute. Natürlich würde letztendlich alles auf Müller zurückfallen. Schließlich hielt er, zumindest offiziell, die Fäden in der Hand. Er war verantwortlich für seine Mitarbeiter. Sie mussten den Maulwurf finden und auffliegen lassen. Und zwar schnell.

»Hast du jemanden in Verdacht?«, schaltete sich Winter erstmals ein.

»Verdacht, Verdacht! Mittlerweile habe ich fast jeden in Verdacht. Solange alles gut läuft, hat man das Gefühl, dass man seinen Mitarbeitern vertrauen kann. Sobald Informationen durchsickern wie durch einen Schwamm, genau dann fängt man an, sich Gedanken zu machen. Plötzlich misstraut man jedem. Ich sehe in die Gesichter der Mitarbeiter und gleichzeitig denke ich, dass dieser Mann ein Verräter sein könnte.«

»Oder diese Frau.«

Müller stutzte. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie kommst du denn darauf?«

»Es kann genauso gut sein, dass eine der Sekretärinnen ein zu enges Verhältnis mit einem der Mitarbeiter hat. Dass sie bei einem netten Treffen bei Kerzenlicht viel mehr erfährt, als sie eigentlich sollte. Männer verlieren ab einem gewissen Alkoholpegel oftmals die Kontrolle über ihre Zunge. Auch die Augen einer Frau sind geradezu hypnotisch. Wer weiß, was ein gerissenes Frauenzimmer alles anstellen kann.«

Winter stellte sich diese Situation bildlich vor. Eine der jungen, attraktiven Sekretärinnen im Bett mit einem der Mitarbeiter. Liebestrunken. Völlig entmannt und nicht mehr Herr über seine Geheimnisse. Eine Schande, wie schnell sich Männer hinters Licht führen ließen.

»Es könnte aber auch sein, dass eine überqualifizierte Putzkraft sich hier nachts in den Räumlichkeiten austobt und durch Schubladen und Schränke stöbert. Wer hat die Lebensläufe unter die Lupe genommen?«

»Schott«, gab Müller wie aus der Pistole geschossen zurück.

»Schott ist regimetreu bis ins Mark. Er würde niemals mit Absicht jemanden einschmuggeln. Außerdem, entschuldige meine Ehrlichkeit, ist er ein Einfaltspinsel. Es gehören Gerissenheit und Intelligenz dazu, wenn man hier in der Zentrale spionieren möchte. Schott ist ein Trottel, der Befehle ungefiltert ausführt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er denn zu einem komplexen Gedanken überhaupt fähig wäre.«

Müller sah Winter mit offenem Mund an. Dieser nahm ungerührt einen Schluck Kaffee und fuhr fort. »Tut mir leid, Heinrich, ich weiß, dass du große Stücke auf ihn hältst, aber wenn du mich um Hilfe bittest, dann gebe ich dir das, was ich habe. Eine ehrliche Antwort.«

»Deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich weiß, dass du in den Gesichtern der Leute lesen kannst wie in einem offenen Buch. Wahrscheinlich kannst du gerade jetzt auch in meinen Kopf blicken.«

Winter lächelte und Müllers Wangen flammten leicht rot auf. Ertappt biss er sich auf die Unterlippe. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass Winter ihn musterte.

»Darum geht es jetzt aber nicht, Heinrich. Wir müssen den Verräter finden. Nenn mir ein paar Namen, die dir als erstes in den Sinn kommen, wenn du daran denkst. An wen hast du sofort gedacht, als du davon gehört hast?«

»An meine Sekretärin«, gab Müller unverblümt zu. »Ich habe auch hin und wieder das private Gespräch mit ihr gesucht, habe aber nie über etwas Berufliches gesprochen.«

»Hat sie Zugang zu deinen Räumlichkeiten?« Winter sah ihn direkt an. »Wenn du nicht da bist?«, ergänzte er.

»Natürlich. Sie hat einen Schlüssel.«

»Auch einen Schlüssel für geheime Akten, die selbstverständlich eingeschlossen sind?«

»Natürlich nicht! Sie könnte ihn aber von mir gestohlen haben.«

»Dafür müsste sie wissen, wo es wirklich interessante Informationen gibt. Hast du ihr etwas dergleichen jemals anvertraut?«

»Nein, auf keinen Fall. Ich teile die Befehle von oberster Stelle nicht mit ihr. Aber sie hätte mich belauschen können.«

Winter spielte mit dem Gedanken und spann ihn weiter. Die Sekretärin, die schon lange für Müller arbeitete, schon seit seiner Zeit in München, wechselte plötzlich die Seiten, bespitzelte ihren Chef, den sie vorher heiß und innig vergöttert hatte, hatte sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und gab geheime Informationen weiter? Dafür hatte sie sich einen der mächtigsten und einflussreichsten Männer ausgesucht? Dann hätte sie gleich Hitler persönlich ausspionieren können. Nein, so einfach drehte man einen Menschen nicht um. Vor allem gehörte eine gehörige Portion Mut und Dreistigkeit dazu, wenn man einen Oberführer persönlich an der Nase herumführen wollte. Es musste jemand anderes sein. Ein kleinerer Fisch im Becken, der unauffällig seine Kreise zwischen den Haien zog. Farblos und so unsichtbar, dass er den großen Zähnen entkam, selbst wenn sie unabsichtlich nach ihm schnappten.

»Ausgeschlossen«, sagte Winter und merkte, wie Müller erleichtert ausatmete. »Sie ist seit vielen Jahren in deinem Dienst. Du hättest etwas bemerkt, wenn sie sich verändert hätte. Nervosität, zufällige Begegnungen in deinem Büro, konkrete Nachfragen. Ist dir irgendetwas in diese Richtung aufgefallen?«

Müller überlegte kurz und presste die schmalen Lippen aufeinander. Dann schüttelte er zaghaft den Kopf.

»Nein, Hildegard ist immer gleich geblieben. Sie wahrt eine gewisse Distanz, ohne meine Anweisungen zu hinterfragen.«

»Das sollte als Antwort genügen. Ich halte es für vollkommene Zeitverschwendung, Hildegard unter die Lupe zu nehmen. Fallen dir weitere Namen ein?«

»Schütze. Der arbeitet erst seit ein paar Wochen bei uns.« Das Bild von dem hochgewachsenen, arischen jungen Mann flammte vor Winters innerem Auge auf. Ein Grünschnabel. Gierig führte er jeden Befehl aus, war schon jetzt bekannt für sein striktes Vorgehen und seine Gewaltbereitschaft, wenn diese von Nöten war. Er war ein Mann für scharfe Verhöre, das war Winter gleich bei der ersten Begegnung mit ihm aufgefallen. Der Knabe hatte unbarmherzige Augen. Einer für die Drecksarbeit, einer, der sich gerne die Finger schmutzig machte.

»Auf keinen Fall. Es dauert länger als ein paar Wochen, um sich ein komplettes Netz aufzubauen. Er muss die richtigen Leute finden, Abläufe beobachten, Misstrauen streuen. Außerdem ist Schütze doch an vorderster Front, wenn es etwas zu tun gibt.«

Müllers Gedanken rasten. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie sie in seinem Kopf wie Heuschrecken hin- und herhüpften.

»Es ist dringend, Erich. Besorgniserregend dringend. Wir müssen den Maulwurf finden, bevor die Presse Wind davon bekommt und vor allem, bevor der Führer etwas davon erfährt. Es würde unsere Arbeit weit zurückwerfen.« Schweißtropfen rollten über seine Stirn. »Die Geheimpolizei infiltriert«, stieß Müller hervor, »das darf einfach nicht sein!«

»Du musst Ruhe bewahren, Heinrich. Zuerst einmal darf unser Gespräch hier nicht den Raum verlassen. Der Maulwurf muss sich sicher fühlen. Er zeigt sich ohnehin nur in ganz kurzen Augenblicken, wenn er aus seinem Bau schaut.«

»Das müssen wir ausnutzen! Wenn er sich zeigt, dann schnappen wir zu.«

Betont langsam schüttelte Winter den Kopf und legte die Fingerspitzen aneinander. Er ließ seine grünen Augen über Müllers Körper wandern, bis er bei seinem Gesicht verharrte.

»Ich bin auf dem Land aufgewachsen, Heinrich«, begann er, »ich habe noch nie erlebt, dass jemand einen Maulwurf mit bloßen Händen gefangen hat, sobald dieser den Kopf aus dem Erdloch herausstreckte. Diese Tiere sind hochsensibel, musst du wissen. Sie spüren die Vibration von Schritten und Stimmen unter der Erde. Die kommen nicht ans Licht, wenn sie sich nicht hunderprozentig sicher sind, dass die Luft rein ist.« Bewusst senkte er seine Stimme, als er fortfuhr. »Unter der Erde musst du sie schnappen. Einen Köder auswerfen. Dieser Köder muss aber so gut getarnt sein, dass es der Maulwurf nicht bemerkt. Die kleinsten Veränderungen in seinem eigenen Tunnelsystem werden ihm auffallen. Es muss ein Köder sein, an dem er nicht vorbeikommt. Bei dem er anbeißen muss.«

»Was meinst du genau damit? Was für ein Köder soll das bitteschön sein?«

»Eine geheime Information. Eine Fehlinformation. Wir streuen sie ganz bewusst.«

Müller sah ihn überrascht an. »Eine Falschmeldung? Bist du dir sicher? Was ist, wenn das rauskommt?«

»Du beginnst im kleinsten Kreis. Bei den Leuten, die dir nahe sind und denen du täglich begegnest. Schmid, Katz und Koppel. Jedem dieselbe Information, bis auf eine Kleinigkeit. Ein Detail der Geschichte muss anders sein. Ein Detail, das du ihnen, und nur ihnen anvertraust. Eine Geheiminformation. Das musst du mehrfach betonen, damit sich jeder von ihnen wichtig fühlt. Schmeichle ihnen, danke ihnen für das Vertrauen, das sie dir schenken. Gib ihnen das Gefühl, dass auch du ihnen blind vertrauen kannst.«

Müller war ganz Ohr. Wahrscheinlich war er gerade dabei, über eine der geheimen Informationen nachzudenken.

»Was könnte ich ihnen sagen?«

»Erzähl ihnen, dass der Führer einen neuen Befehl erlassen hat. Dass er direkt von oberster Stelle kommt. Er hat dich persönlich aufgesucht und dich darüber informiert. Die Endlösung der Judenfrage steht kurz bevor. Sag ihnen, dass die Gestapo alle Juden zu Hause abholen darf und sie in Lager deportiert werden.« Winters Gesicht war zu einer düsteren Maske geworden und er sah Müller direkt in die Augen. »Verstehst du mich, Heinrich? Gerüchte darüber, was mit Juden geschehen soll, machen teilweise schon die Runde. Du gibst ihnen die Bestätigung, dass es wirklich so ablaufen wird. Juden werden abgeholt und deportiert, so will es der Führer. Fach die Flammen an, dann wirst du den Rauch sehen.«

Müllers Körperhaltung drückte Anspannung aus. Unruhe flackerte in seinen Augen. Winter wusste, dass er einen Moment brauchte, um alles zu verarbeiten. Wenn es einen Verräter in den eigenen Reihen gab, schmerzte das mehr als der Betrug der Ehefrau. So viel war sicher. Winter stieß einen kurzen Pfiff aus und schon war Zeus an seiner Seite. Er schmiegte sich um Müllers Beine, und als dieser sich zu dem Hund hinunterbeugte und seine Finger im Fell des Tieres vergrub, wusste Winter, dass seine Zweifel eingestürzt waren.

»Jedem erzählst du genau dieselbe Geschichte. Bis auf einen entscheidenden Unterschied, einen Köder. Du wirfst ihn aus, der Maulwurf beißt an.« Winter klatschte auf einmal in die Hände, sodass Müllers Körper zuckte, als hätte er einen Stromschlag bekommen. »Zack! Ist die Falle zugeschnappt.« Zeus setzte sich neben ihn und grummelte. Winter ließ die Hand sanft über den Kopf seines Schäferhundes fahren.

»Ist gut, Erich. Ich werde mir die drei morgen einzeln vornehmen.«

»Achte auf Zeitabstände. Sie dürfen nichts voneinander wissen.«

Müller nickte gedankenverloren und verließ den Raum.

Winter lächelte und rieb die Handflächen aneinander. Die nächsten Tage würden äußerst spannend für ihn werden. Wenn er recht behielt, befand sich der Maulwurf gleich unter diesen Personen, die er selbst in Verdacht hatte. So ein Schachzug konnte ihn noch weiter an die Spitze katapultieren. Auszeichnungen, Ehrungen, persönlicher Kontakt zum Führer. Winters Lippen verzogen sich zu einem ungewohnt breiten Lächeln, sodass ihm der Mund beinahe schmerzte. Dann stand er auf und rief nach seiner Sekretärin.

Als er die Tür aufriss, blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm stand niemand anderes als Hannah Sedlmayr.

»Fräulein Hannah, was tust du hier?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich Ihnen je das Du angeboten habe«, sagte sie trocken.

Ganz der Vater. Obwohl ihr Aussehen eher dem der Mutter glich, hatte sie die Sturheit definitiv von ihrem Vater geerbt. Seine Sekretärin trabte auf sie zu.

»Es tut mir leid, ich hatte ihr gesagt, dass Sie im Gespräch sind.«

»Alles in Ordnung, lassen Sie das Fräulein nur immer gleich durch.« Winter öffnete die Tür ganz und ließ Hannah eintreten. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid, ganz nach der neuen Berliner Mode. Der Teppich dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Als Zeus auf sie zulief, ging Hannah in die Hocke und streichelte seinen Kopf, während Zeus ihre andere Hand leckte.

»Er scheint dich zu mögen. Eigentlich ist er nicht dafür da, um meine Besucher so zu begrüßen. Er sollte ihnen eher etwas Angst machen.«

»Ich habe keine Angst vor Hunden. Ich bin mit Tieren aufgewachsen«, gab sie ihm zur Antwort. Dann stand sie auf und schickte Zeus zurück auf seine Decke, auf der er sich gehorsam zusammenrollte.

»Darf ich dir etwas anbieten, Hannah? Eine Limonade? Einen Kaffee?«

»Ich bleibe nicht lange. Sie können sich bestimmt denken, weshalb ich gekommen bin.«

»Natürlich freue ich mich stets über einen Besuch von dir.«

Sie war nicht aus dem Konzept zu bringen. Hannah setzte sich an seinen Schreibtisch und ihm blieb nichts anderes übrig, als auf der gegenüberliegenden Seite Platz zu nehmen. Stille. Natürlich hatte er eine Ahnung, weshalb sie gekommen war, doch er war noch nicht bereit, mit ihr darüber zu reden.

»Ich habe ein paar Bilder, die dich bestimmt interessieren könnten.« Er ging zu seinen Schränken und zog einen Ordner mit der Aufschrift »Rosenheim« hervor.

»Da, sieh mal. Das müssten bekannte Gesichter für dich sein.«

Er reichte Hannah die Fotos über den Schreibtisch und sie nahm sie wortlos entgegen. Er beobachtete sie genau, während sie durch die schwarz-weißen Aufnahmen blätterte. Die Fotos zeigten junge Soldaten. Manche von ihnen thronten auf Panzern, andere lehnten rauchend und lachend an einer Häuserecke.

»Hier haben wir unseren Herbert Bauer. Wenn ich mich recht erinnere, seid ihr zusammen zur Schule gegangen. In dieser Einheit sind einige Jungs aus Oberbayern. Harte Hunde.«

Hannahs Augen verengten sich bei Herberts Anblick und sie blätterte schnell weiter. »Oh!« Der leise Laut, den Hannah ausstieß, ging Winter durch den ganzen Körper.

»Dieses Bild war nicht für dich gedacht«, bemerkte er und riss ihr den ganzen Stapel aus der Hand. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Blick. Auf dem Bild war ein Mann zu erkennen, an dessen Schläfe eine Waffe gedrückt war. Um ihn herum standen Männer der Wehrmacht, um der Hinrichtung beizuwohnen.

»Ein Aufsässiger«, erklärte Winter. »Leider gehören auch solche Aufgaben im Krieg dazu, Hannah.«

Sie hatte den Blick auf ihre Finger gerichtet, unfähig zu sprechen.

»Es freut mich natürlich sehr, dass du da bist, aber dennoch würde ich gerne den Grund für dein überraschendes Erscheinen erfahren.«

Die junge Frau, die ihm gegenübersaß, erinnerte ihn noch an das Mädchen, das sie gewesen war, als ihr Gesicht die Plakate der Hitlerjugend geziert hatte. »Also?«, fragte er erneut.

Sie schien ihren ganzen Mut aufbringen zu wollen.

»Ich bin hier, um mich nach der Familie Sternlicht zu erkundigen.«

»Die Juden?«, hakte er nach.

»Sie wissen ganz genau, von wem ich spreche.«

»Ich dachte, ihr wüsstet es. Schließlich wart ihr ja mit ihnen befreundet.«

Ihre blauen Augen funkelten zornig, als sie sich eine Strähne hinters Ohr schob. »Ich möchte wissen, wo sie hin sind.«

»Wie kommst du darauf, dass ich eine Antwort darauf habe?« Hannah wusste nichts von seinem Treffen mit ihrer Mutter. Theresa Sedlmayr war damals zu ihm gekommen, um ihm von der Liebesbeziehung zwischen ihrer Tochter und dem Judenbengel zu berichten. Völlig verzweifelt war die arme Frau gewesen. Er hatte ihr sein Versprechen gegeben, dass Hannah niemals etwas davon erfahren durfte.

»Weshalb willst du es denn wissen?«

»Sie sind unsere Freunde. Das haben Sie ja selbst gesagt.«

»Ach ja.« Er stützte seine Hände auf und beugte sich über die Tischplatte. »Ich muss dich nur leider enttäuschen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wohin diese Sternlichts geflohen sind.«

»Sehen Sie doch in einem Ihrer schlauen Ordner nach. Da müsste ja etwas über ihren Verbleib stehen.«

Winter wusste natürlich ganz genau, in welchem Ordner der Ausreisebefehl abgeheftet war. Er hatte dutzende Papiere über die Familie gesammelt. Auch die Briefe, die ihn hin und wieder von Theresa Sedlmayr erreichten, waren dazu abgelegt. Sie hatte ihn darum gebeten, ein Auge auf Hannah zu haben.

»Es tut mir außerordentlich leid, dass ich dir keine erfreulicheren Nachrichten übermitteln kann.« Ehrlich gesagt wunderte er sich, dass sie erst jetzt zu ihm kam. Sie musste ziemlich verzweifelt sein, wenn sie einfach so bei ihm hereinspazierte und ausgerechnet ihn nach dem Aufenthaltsort fragte.

»Ich habe wohl Ihren Einfluss überschätzt. Ich war mir sehr sicher, dass Sie als Ortsgruppenleiter etwas über den Verbleib der Rosenheimer Juden erfahren haben.« Sie hatte die richtigen Knöpfe gedrückt. Der Ton in ihrer Stimme machte ihn wütend.

»Ich habe weitaus wichtigere Aufgaben, als mich mit derartigen Schicksalen zu belasten.«

Nun war es an ihr, zornig zu werden. »Ich verstehe. Für einen Augenblick hatte ich mir erhofft, dass Sie auch nur einen Hauch Menschlichkeit besitzen, aber da habe ich mich natürlich wieder getäuscht.« Sie stand auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wissen Sie bestimmt, wo Sie mich finden können. Ich für meinen Teil denke, dass es keine Zufälle sind, wenn wir uns über den Weg laufen.«

Natürlich waren es keine Zufälle. Er wusste, in welchem Café Hannah arbeitete, kannte die Zeiten ihrer Vorlesungen in der Charité, wusste, mit welchen Leuten sie verkehrte. Mit Schwung drehte sie sich um und wollte zur Tür gehen.

»Du solltest dich vor diesem Fräulein Liebreiz in Acht nehmen, Hannah. Sie ist nicht der richtige Umgang für dich.« Er war ihr zur Tür gefolgt und griff nach ihrem Arm.

»Haben Sie jetzt auch ihren Stammbaum durchleuchtet? Hat sie etwa auch jüdisches Blut?«

»Das ist es nicht. Ich habe bei ihr kein gutes Gefühl und mache mir Sorgen um dich.« Sie entzog sich seinem Griff. »Du hast die Möglichkeit, dich endlich für die richtige Seite zu entscheiden, Hannah. Keine Juden mehr, keine …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… keine solchen Frauenzimmer.«

Hannah biss sich auf die Unterlippe. »Wissen Sie, Herr Ortsgruppenleiter Winter, oder wie auch immer Sie jetzt heißen, ich habe ein gutes Bauchgefühl bei den Leuten, mit denen ich mich umgebe. Mein Vater hat mir beigebracht, dass ich nur auf mich selbst hören soll. Ich entscheide, mit wem ich meine Zeit verbringe und mit wem nicht. Und Sie«, sie zeigte mit dem Finger auf seine Brust, »sind es, von dem ich mich fernhalten sollte.«

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür hinaus. Winter blickte ihr ungläubig nach. Er gab es nicht gerne zu, doch er beneidete Jacob Sternlicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er hatte es geschafft, die wahre Liebe zu finden, eine Liebe, die auch noch Monate nach der Trennung nach ihm suchte, während er selbst hier allein war, unfähig zu lieben oder geliebt zu werden. Wie verdammt ungerecht diese Zeiten doch waren.

Von Sehnsucht und Träumen

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