Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 15
ОглавлениеJuni 1941
Wisła, Polen
»Alles Gute zum Geburtstag«, rief Jacob Oskar zu und wuschelte ihm durch die schwarzen Haare.
Es war ein heißer Junitag. Eine windlose Luftschicht hatte sich seit Tagen wie eine Decke über den Hof und die Felder gelegt. Abends hofften sie auf ein Gewitter, damit es die Luft abkühlte und man sich nicht schweißgebadet in den Betten hin- und herwarf. Auch die Natur verlangte nach Wasser. Noch war das Gras grün, doch stellenweise sah es bereits verbrannt und kränklich aus. Früh am Morgen hatte die Bäuerin alle Fenster aufgerissen, um die morgendliche Kühle ins Haus zu lassen, doch vergebens. Das Thermometer fiel auch nachts nicht unter 22 Grad.
Jacob hatte ihr geholfen und aus den Eiern der verbliebenen Hühner, der Milch der Kuh und dem selbstgemahlenen Mehl einen Kuchen für Oskar gebacken. Heute sollte es ihm an nichts fehlen. Zwölf Jahre. Durch die Arbeit auf dem Hof war er drahtig geworden und sogar ein gutes Stück gewachsen.
Seine schokoladenbraunen Augen glänzten, als Oskar in die Küche tapste und seinen Kuchen erblickte. Eine brennende Kerze steckte in der Mitte.
»Ist der etwa für mich?«, fragte er verschlafen und rieb sich die Augen, als würde er eine Fata Morgana sehen.
»Sag jetzt bloß nicht, dass er dir nicht gefällt«, scherzte Jacob und knuffte den Kleinen in die Seite.
»Natürlich gefällt er mir! Kuchen zum Frühstück, was könnte es besseres geben?« Die Bäuerin herzte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. Der Bauer klopfte Oskar zweimal auf den Rücken und lächelte. Ein Geburtstagslied wurde angestimmt und der Junge trug mit einem Strahlen, das von einem Ohr zum anderen reichte, den Kuchen auf den Esstisch. Am Ende des Liedes blies er die Kerze aus und hielt für ein paar Sekunden die Augen geschlossen. Was er sich wohl wünschte? Sarah Sternlicht, Jacobs Mutter, schnitt den Kuchen an und verteilte die Stücke gerecht auf die Teller.
»Schmeckt köstlich«, stieß Oskar mit vollem Mund hervor. Brösel sprühten durch die Luft.
Aus aufgetrennten alten Pullovern hatten Jacobs Mutter und die Bäuerin einen neuen für ihn gestrickt. Als er ihn sich über den Kopf zog um ihn zu probieren, schlackerte er an ihm, doch der Junge zuckte nur mit den Schultern.
»Da wachse ich schon bald rein, das könnt ihr mir glauben. Spätestens zum Winter habe ich doppelt so viele Muskeln wie jetzt. Und im Moment ist er ohnehin viel zu warm.« Er spannte seinen Bizeps an. Alle verkniffen sich bei seinem Anblick ein Lachen.
Jacob hatte nichts, was er Oskar schenken konnte. Nichts außer gemeinsame Zeit. Zeit, die sie in den Wäldern verbrachten. Seit der Begegnung mit den Deutschen waren sie aber noch vorsichtiger geworden. Spuren lasen sie schnell und zuverlässig. Anhand der Abdrücke konnten sie sagen, wie lange es her war, dass sich schwere Stiefel in den Boden gedrückt hatten.
»Nach dem Frühstück gehen wir jagen«, sagte Jacob. »Das ist mein Geschenk an dich.« Er hatte für sie beide einen Bogen und Pfeile geschnitzt. Die Pfeilspitzen hatte er wochenlang bearbeitet. Wilderei stand unter Höchststrafe, aber was machte es schon für einen Unterschied. Wenn sie im Wald erwischt wurden, verhieß es nichts Gutes. Egal ob mit oder ohne totem Hasen im Gepäck.
»Die Tiere werden bestimmt nach Wasser suchen«, plapperte Oskar weiter, »wir müssen nur zum Fluss gehen, dann schießen wir bestimmt ein Reh.«
»Dann mach dich mal lieber schnell fertig«, sagte Jacob und musste lächeln. Der Kleine schob sich mit der Hand ein zweites Stück Kuchen in den Mund und rannte mit vollen Backen die Treppe hinauf. Mit Pfeil und Bogen kam er wieder nach unten gesprungen.
»Es kann losgehen!«
»Seid vorsichtig«, mahnte Sarah und küsste beide auf die Wange. Angst schimmerte in ihren Augen wie jedes Mal, wenn sie wusste, dass sie den Hof verließen. Als würden die Mauern hier auch nur im Entferntesten Schutz bieten.
»Mach dir keine Sorgen, Mama.«
Simon ging zusammen mit Hans Sternlicht nach draußen, um hinter dem Haus Holz zu hacken. Als Jacob und Oskar aus der Tür traten, lief Zuza, die Hofhündin, ihnen entgegen. Die schwarze, kühle Schnauze berührte Jacobs Hand und das Tier begann, ihm über die Finger zu lecken.
»Gutes Mädchen, für dich gibt es später auch etwas Feines zu fressen.«
Oskar lief durch die Felder mit den Obstbäumen. Die Sonne hatte schon eine unglaubliche Kraft, und die Erinnerungen an heiße Sommertage aus Jacobs Heimat lächelten ihm zu. Als sie den Wald betraten, verschmolzen sie mit dem Schatten der Bäume und folgten dem Weg zum Wasser.
Sie waren erfolgreich. Oskar hatte den Hasen mit dem ersten Schuss tödlich getroffen. Genau ins Auge. Er war ein exzellenter Schütze geworden. Seine Geduld und Wachsamkeit zahlten sich meist aus, wenn er mit ruhigen Fingern den Pfeil anlegte und den Bogen spannte. Die Pfeile waren rar, deshalb mussten die Schüsse sitzen. Anfangs hatten sie auf Ziele im Wald geschossen. Mittlerweile musste Jacob zugeben, dass Oskar fast besser schießen konnte als er selbst. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass der Kleine etwas gefunden hatte, bei dem niemand ihm so schnell das Wasser reichen konnte.
Jacob hörte die fremden Stimmen, sobald sie aus dem Schutz des Waldes auf die Wiese traten, die zum Hof führte. Deutsche, es gab keinen Zweifel. Er fasste Oskar fest am Arm und gab ihm ein Zeichen, den Hasen in ein Gebüsch am Waldrand zu legen. Oskar zog fragend die Augenbrauen nach oben, doch er gehorchte ohne Widerworte. Jacob legte den Zeigefinger an die Lippen und verhieß Oskar zum Schweigen. »Verhalt dich ruhig! Die Deutschen sind da.«
Wie oft war ihm dieser Gedanke schon in den Sinn gekommen. Wie oft war er nachts schweißgebadet aufgewacht und hatte diesen Moment gefürchtet. Mit der naiven Hoffnung eines Kindes hatte er sich einreden wollen, dass sie hier auf ihrem Hof, in ihrer heilen kleinen Welt, verschont bleiben würden. Dass sie bis zum Ende des Krieges vergessen worden waren. Die Vernunft hatte am Ende wie immer gesiegt. Seit er die Deutschen im Wald gesehen hatte, stand sein Koffer fertig gepackt in der Ecke seines Zimmers. Er hatte seine Mutter überzeugt, den Schmuck und das verbliebene Geld in die Kleidungsstücke einzunähen. Auch ein Foto von Hannah war in die Schultern seiner Jacke eingenäht. Das andere stand nach wie vor neben seinem Bett, sodass er ihr Bild betrachten konnte, wann immer er es wollte. Er teilte all seine Gedanken, Sorgen und Ängste mit ihr. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie antwortete, aber ihm war natürlich klar, dass es sich bloß um seine innere Stimme handelte.
Jacob hatte den Fehler gemacht, tief in seine Gefühlswelt abzutauchen. Zu tief, sodass er nicht bemerkt hatte, wie Oskar übers Feld lief und hinter dem Stamm eines Obstbaumes verharrte. Mit ruhigen Fingern legte er einen Pfeil an und spannte die Bogensehne, so wie er es vorhin im Wald bei der Hasenjagd gemacht hatte. Panik schnürte Jacob die Kehle zu und er sprintete los. Die Deutschen hatten ihnen den Rücken zugedreht. Wie viele mochten es sein? Drei? Vier? Vier, ganz sicher. Zwei liefen vor dem Stall auf und ab, während einer mit gezogener Waffe vor der Haustür wartete. Der Vierte kommandierte jemanden aus dem Haus und ließ ihn neben dem Gemüsegarten aufstellen. Erst jetzt erkannte Jacob, dass es sich um seinen Vater handelte. Er stand völlig bewegungslos da und sah den Deutschen mit festem Blick an. Wut flammte in Jacob auf, als der Soldat das Gewehr auf seinen Vater richtete. Auf seinen ruhigen, besonnenen Vater, der immer ein gutes Wort für ihn übriggehabt hatte, der nichts kannte außer Hoffnung und Zuversicht.
»Ein Schuss«, wisperte Oskar und riss ihn aus den Gedanken. »Ich brauche nur einen Schuss und ich durchbohre den Hals von diesem Schwein.« Die Pfeilspitze zielte auf den Mann, der Hans Sternlicht an den Gartenzaun gedrängt hatte. Oskars Ellbogen zitterte leicht und Jacob hörte den Kloß in seinem Hals, als er sprach: »Ich lasse nicht zu, dass sie Onkel Hans etwas antun. Ich lasse jetzt los! Ich erschieße ihn.«
Obwohl es ihn selbst auch in den Fingern juckte und er den Hass wie bittere Galle auf seiner Zunge spürte, kehrte die Vernunft zurück. Jacob legte seine Hand auf Oskars und drückte sie vorsichtig nach unten. »Das wäre unser Todesurteil. Einen Treffer kannst du landen. Danach sind wir unter Feuer. Wirf den Bogen in die Büsche, Oskar. Wenn sie uns damit sehen, war’s das.«
Eine Träne rollte über die Backe des Jungen und er wischte sich über die nassen Augen. »Was wollen die von uns?«, sagte er.
Sarah Sternlicht erschien an der Haustür. Sie trug einen großen Koffer mit sich. Als ein weiterer Soldat seiner Mutter grob mit der Gewehrspitze in den Rücken stieß, erwachte Jacob aus seiner Starre.
»Mama«, rief er, »Mama, ich bin zurück!« Sorge stand in ihrem Gesicht und die Augen leuchteten kurz auf, als sie ihren Sohn erkannte.
Die beiden Soldaten vor dem Haus wirbelten herum und legten die Gewehre an. Jacob und Oskar liefen mit hocherhobenen Händen auf den Hof zu. Sarah ließ den Koffer fallen, drängte sich zwischen den Männern durch und riss die Arme auf. Jacob warf sich an ihre Brust, so wie er es früher immer gemacht hatte, wenn er Trost brauchte. Es war egal, dass er sie inzwischen um einen Kopf überragte. Ihr vertrauter Duft hauchte ihm wieder Leben ein.
»Mama, mach dir keine Sorgen, ich bin wieder da!«, sagte er erneut und umfasste ihr Gesicht, damit er ihr in die Augen sehen konnte.
»Wir müssen fort«, sagte sie tonlos und Jacob gelang ein Nicken.
»In Ordnung, das ist nicht schlimm, wir haben ja gepackt. Wir sind schon einmal fort, dieses Mal wird es nicht so schlimm werden.« Tröstende Worte, die gelogen waren, doch im Moment war es besser, an eine Lüge zu glauben. Ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle. Es schien von ganz tief unten zu kommen, als würde es schon wochenlang darauf warten, endlich ausbrechen zu dürfen.
Jacob löste sich von seiner Mutter und trat auf den Mann zu, der nahe der Haustür stand. »Ich muss noch einmal rein und meine Sachen holen.«
»Zu spät. Geh rüber zum Zaun«, herrschte der Soldat ihn an und nickte Richtung Gemüsegarten. Jacob reagierte nicht. »Los jetzt«, kommandierte er erneut und machte einen Schritt auf Jacob zu. »Beweg dich! Du musst nicht mehr rein, du hast alles, was du brauchst.«
Jacob blickte an sich herunter. Kurze Hosen, ein geflicktes Oberteil. Wie konnte das alles sein, was er brauchte. Das Foto! Er musste das Foto holen. Er konnte nicht ohne Hannah fort von hier.
»Ich muss noch einmal rein«, wiederholte Jacob mit fester Stimme und wollte sich an dem Soldaten vorbeidrücken. Grob stieß dieser ihn mit der langen Seite des Gewehrs gegen den Brustkorb, dass ihm für ein paar Sekunden die Luft wegblieb.
»Großer Gott!«, hörte er seine Mutter aufschreien. Sie packte Jacob am Arm und zog ihn zu sich und dem Vater hinüber zum Gemüsegarten.
»Simon hat deine Sachen. Er ist noch oben.«
»Das Foto«, japste Jacob.
»Er hat es mitgenommen. Ich habe es gesehen.«
Simon wusste, was ihm dieses Bild bedeutete, was ihm Hannah bedeutete. Sein großer Bruder, der immer auf ihn achtgegeben hatte. Schritte scharrten von drinnen, als Glas splitterte.
»Verpiss dich nach draußen«, schrie ein weiterer Soldat, der gerade im Hausflur sichtbar wurde. Er trieb Simon vor sich her, der in beiden Händen einen Koffer trug. Die Muskeln waren unter seinem Hemd gespannt, der Mund zu einem schmalen Strich verzogen. Jacob bemerkte das feine Zucken seiner Finger, die die Griffe des Koffers umschlangen. Bewahre Ruhe!, flehte Jacob in Gedanken, denn er kannte Simons Temperament. Sobald er sich ungerecht behandelt fühlte, explodierte er wie ein Kessel. Dann gab es kein Halten mehr. Er versuchte Blickkontakt aufzunehmen, und endlich sah Simon in Jacobs Augen. Er probierte es mit einem aufmunternden Nicken, doch die Mimik seines Bruders blieb ungerührt.
»Mach, dass du rauskommst. Geht es nicht schneller?«
Der Soldat trat gegen einen Koffer. Er fiel Simon aus der Hand und landete laut scheppernd auf dem Boden. Der Koffer sprang auf und der Inhalt verteilte sich auf den Stufen vor der Haustür. Jacob eilte seinem Bruder zu Hilfe und begann hastig, die Kleider wieder hineinzustopfen.
»Schaut mal, was ich hier drinnen gefunden habe«, grölte einer der Männer und schleuderte eine Tora durch die Luft. Staub wirbelte auf, als das Schriftstück auf den Boden flog.
»Dreckige Juden«, schimpfte der Soldat, der am nächsten stand, und trat die Tora von sich. Mit offenem Mund beobachtete Jacob, wie ein anderer seine Hose öffnete und mit hartem Strahl auf das Buch urinierte. Sarah stieß einen Schrei des Entsetzens aus, der Jacob durch Mark und Bein ging.
Kannten diese Leute keinen Respekt? Keine Moral? Keinen Anstand? Jacobs Blick wanderte von dem durchnässten Schriftstück hin zu seiner Mutter. Silberne Strähnen webten sich durch das dunkle Haar. Lagen Falten um ihre Augen? Wie konnte es möglich sein, dass sie in nur wenigen Minuten um Jahre gealtert war? Sie war blasser als sonst, wirkte müder und grauer.
»Zieh den Pullover an, Oskar«, sagte Hans Sternlicht und reichte Oskar seinen neugestrickten Pullover.
»Es ist viel zu heiß dafür, Onkel«, antwortete der Kleine.
»Bitte, Oskar«, bat Hans, »bitte, zieh ihn an. Du wirst ihn noch brauchen.«
Ohne ein weiteres Wort zog der Junge sich den grünen Pullover über den Kopf. Jacob wusste, dass es seine Lieblingsfarbe war. Grün wie die Felder, die Bäume und Wiesen. Grün wie die Hoffnung. Wussten die Soldaten, auf was für ein Leben Oskar hoffte, welche Wünsche er hatte?
»Die umliegenden Städte sind jetzt weitestgehend judenfrei. Ein Wunder, dass wir den Hof hier bis jetzt noch nicht entdeckt hatten«, schnappte Jacob ein Gespräch der Soldaten auf.
Judenfrei. Ein Wort, das sich wie splitterndes Glas unter die Haut bohrte. Frei von Juden. Als wären sie nicht mehr als ein lästiges Insekt, ein Übel, eine Krankheit, die man bekämpfen musste. Aus dem Augenwinkel nahm Jacob wahr, dass seine Mutter Simon am Arm hielt. Ihr fester Griff schien ihn kontrollieren zu können.
»Abmarsch!«, donnerte der Anführer der Gruppe und nickte in Richtung des kleinen Weges, der in einigen Kilometern auf eine Straße führte. Die Sternlichts warfen sich irritierte Blicke zu. Wo waren der Bauer und die Bäuerin – Oskars Großeltern?
Ihr Sohn und dessen Frau waren schon vor einer Weile weggegangen. Sie hatten die Eltern seiner Frau besuchen wollen, da sie allein und hilfsbedürftig waren.
Es war für einen Moment still, als die Silhouette des Bauern im Türrahmen erschien. Er bemühte sich darum, gerade zu gehen. Die Wangen glühten rot, als wäre er geschlagen worden. Er trat nach draußen in die Sonne und nahm einen tiefen, langen Atemzug. Der Blick flog über die Felder, über den Ort, den er Heimat nannte. Hinter ihm trat die Bäuerin heraus ins Licht. Die grauen Haare waren zu einem Knoten gebunden. Das alte Ehepaar fasste sich an den Händen.
»Los, hinter zum Stall«, herrschte ein Soldat sie an. Zuza schien aus dem Nichts aufzutauchen und schoss auf den Deutschen zu. Ein nie gehörtes Knurren kam aus ihrer Kehle. Sie bellte aufgebracht, schnappte nach dem Bein des Mannes und versenkte ihre Zähne in seiner Wade. Die gute, alte Zuza! Sie kämpfte wie eine Löwin, wenn es darum ging, ihre Leute zu verteidigen.
Der Soldat schrie auf und versuchte, den Hund abzuschütteln, doch Zuza ließ nicht locker. Ein Schuss knallte und wurde vom Wald wieder und wieder zurückgeworfen. Mit einem lauten Winseln sackte der treue Hofhund zusammen. Blut tränkte den staubigen Boden, färbte ihr Fell rot. Tränen stachen in Jacobs Augen, als er den Hund vor sich liegen sah.
»Du hast sie getötet!«, schrie Oskar und wollte sich auf den Soldaten stürzten, der seine Pistole zurück ins Halfter steckte. Als wäre nichts gewesen, als wäre alles ganz normal. Nichts war mehr normal.
Hans packte Oskar fest am Kragen und riss ihn zurück. Simon hielt ihm den Mund zu und brachte ihn so zum Schweigen. Der Soldat würdigte ihn keines Blickes.
»Wo bringen Sie die beiden hin?«, wagte Hans die Frage und blickte zu den Bauersleuten, die hinter den Stall getrieben wurden. »Was macht ihr mit ihnen?« Seine Verzweiflung war deutlich vernehmbar und Jacob konnte sich nicht erinnern, jemals Panik aus der Stimme seines Vaters herausgehört zu haben.
Die Münder der Deutschen blieben unbewegt. Keiner antwortete.
»Bitte«, Hans wandte sich an den nächststehenden Soldaten. Einen jungen Mann, nicht älter als Simon. »Bitte, sagt doch etwas. Wo bringt ihr sie hin? Wo bringt ihr uns hin?« Ein Blick ins Leere. »Bitte. Wir sind auch Deutsche, müssen Sie wissen.«
Der Schlag kam unvorbereitet und hart. Hans Sternlichts Kopf schnalzte nach hinten und er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, wäre er nicht gegen Simons kräftige Brust geflogen.
»Halt bloß dein dreckiges Maul. Juden seid ihr, nichts weiter. In welcher Welt lebst du, dass du denkst, du seist ein Deutscher.« Arroganz und Überlegenheit blitzten in seinen blassgrauen Augen.
»Nehmt den da auch mit nach hinten!«, befahl der Anführer und deutete auf Oskar.
Jacobs Magen tobte, als die Hand des Soldaten nach Oskar greifen wollte. Er machte zwei schnelle Schritte und stellte sich schützend vor den Jungen.
»Der Junge bleibt«, sagte er ruhig. Der Soldat starrte ihn mit offenem Mund an. Dann wanderte sein Blick weiter zum Anführer, der zu ihnen herüberkam.
»Heute ist sein Geburtstag«, setzte Jacob erneut an. »Er wird heute 14.« Er sah dem Anführer direkt in die Augen und wusste, dass es an ihm lag, das Urteil zu fällen. Er überlegte. Jacob hatte ihn mit Absicht zwei Jahre älter gemacht. Mit zwölf war er aus der Sicht des Soldaten ein unnützes Kind. Mit 14 konnte Oskar vielleicht von Nutzen sein. Arbeiten. Erwachsen werden.
»Wenn Sie ihn mitnehmen, dann müssen Sie mich auch mitnehmen. Ich werde ihm nicht von der Seite weichen!«
»Und mich auch!« Simon trat ebenfalls einen Schritt nach vorne und stellte sich neben seinen Bruder. Die Berührung seiner Schulter ließ Jacobs Herz etwas zur Ruhe kommen. Seite an Seite, Haut an Haut hatten sie eine menschliche Mauer vor Oskar gebildet. Jacob konnte sich an keinen Moment in seinem Leben erinnern, in dem er Simon mehr geliebt hatte.
»Er kann mitkommen«, sagte der Anführer und wandte sich ab. In aller Ruhe zündete er sich eine Zigarette an.
Zwei Schüsse fielen. Vögel flatterten wild kreischend auf. Dann herrschte Stille.
»Meine Glückwünsche zum Geburtstag. Genieße den Tag. Es wird einer deiner letzten sein«, sagte der Anführer noch einmal an Oskar gewandt und zog ungerührt an seiner Zigarette. Der Rauch hielt sich in der heißen Luft, und erst jetzt bemerkte Jacob, dass ihm der Schweiß bitter über die Lippen rollte.
»Los jetzt. Bewegung!«
Jacobs Blick fiel auf den Gemüsegarten. Salatköpfe waren herausgerissen worden. Der Schnittlauch lag entwurzelt überall verteilt. Die liebevoll gepflegten Tomaten, um die sich Sarah und die Bäuerin gekümmert hatten, waren aufgeplatzt. Zertreten.
Jacob schloss für einen Moment die Augen. Er hatte das Bedürfnis, sich in die Arme seiner Eltern zu fliehen, sich an ihnen festzuhalten, getröstet zu werden.
Die Soldaten trieben sie über den Weg. Fort vom Hof und dem Ort, der ihm eine neue Heimat geworden war. Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er an der toten Zuza vorbeilief. Hoffentlich würde ihre treue Seele Frieden finden.
Warum?, fragte er sich immer wieder. Warum ließen sie sich einfach weitertreiben? Warum wehrten sie sich nicht?
Die Sonne stach mit all ihrer Kraft unbarmherzig vom Himmel. Nicht eine verdammte Wolke, die für einen kurzen Moment Schatten gespendet hätte, war zu sehen. Wie spät war es überhaupt? Es konnte höchstens ein Uhr Mittag sein. Nicht umsehen. Er durfte sich nicht umsehen, sonst würde ihm die Kraft nicht reichen. Oskar schluchzte leise neben ihm. Jacob legte ihm die freie Hand auf den Rücken. In der anderen trug er seinen vollbeladenen Koffer. Zwei Deutsche saßen lachend auf ihren Motorrädern, als würden sie eine Sonntagsausfahrt genießen. Die Straße schlängelte sich durch ein kleines Waldstück. Wie leicht wäre es wohl, auszubrechen und sich im Dickicht zu verstecken? Wie lange würde er durchhalten?
Jacobs Zunge war staubtrocken. Immer wieder versuchte er, so viel Speichel wie möglich anzusammeln und ihn zu schlucken. Der Durst blieb. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, wie schlimm es war, kein Wasser trinken zu können. Früher, in seinem alten Leben, hatte er nur den Wasserhahn aufdrehen müssen und schon war es herausgesprudelt. Der Gedanke daran brachte ihn fast um den Verstand. Wie lange liefen sie schon? Die Schuhe scheuerten an den Fersen, der Koffergriff schnitt schmerzhaft in seine Finger. Die Straßen wurden auf einmal breiter und Jacob stellte mit Entsetzen fest, dass sie nicht die einzigen waren, die wie eine Herde Schafe zur Schlachtbank getrieben wurden. Von anderen Wegen stießen Familien zu ihnen. Nachzügler wurden von den Soldaten mit Gummiknüppeln geschlagen. Schmerzensschreie begleitet vom Klagen und Weinen der Kinder.
Sie erreichten die Stadt. Wohin würde es gehen? Zum Bahnhof? Gesichter erschienen hinter vorgezogenen Gardinen, neugierige Augenpaare, die den traurigen Trott verfolgten. In wenigen schwamm Mitleid. Wieder sausten die Gummiknüppel nieder. Simon hatte Sarahs Koffer an sich genommen und trug nun zwei. Sie marschierten. Leute gingen ihren Alltagsgeschäften nach. An einer Bäckerei wurde ein neues Schild montiert. Jemand schüttete einen Eimer Wasser achtlos auf die Straße. Für einen kurzen Moment verspürte Jacob das Bedürfnis, sich auf die Knie zu werfen und das Wasser vom Boden zu trinken, bevor es verdampfte. Die Hitze stieg wie aus einem Backofen vom Asphalt nach oben. Ein Bekleidungsgeschäft dekorierte das Schaufenster. Den gesichtslosen Puppen wurden Kleider übergezogen, ein Kleid, wie Hannah es gemocht hätte. Sie marschierten weiter. Vor dem Kino zierten Filmplakate den Eingang. Gab es wirklich noch Kinos? Filme, die den Menschen Vergnügen bereiteten? Wie konnte es sein, dass der Alltag für alle anderen einfach so weiterlief. Als wäre nichts. Als hätten sie nicht gerade alles verloren, was sie gehabt hatten. Als wären nicht gerade zwei Menschen hinter dem Stall erschossen worden. Ihre Körper achtlos liegengelassen, sodass wilde Tiere sich nachts darüber hermachen konnten. Die tote Zuza, ihre offenen Augen, das blutüberströmte Fell. Jacobs Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er wollte schreien, sich bemerkbar machen, damit alle Leute mitbekamen, was für ein Unrecht ihnen angetan wurde. Doch er blieb stumm. Was würde es nützen? Ein Schuss und er würde so tot umfallen wie ihr Hofhund.
Warum tat keiner etwas? Die Menschen in den Häusern versteckten sich hinter ihren blütenweißen Vorhängen. Hörten wahrscheinlich Radio oder nähten, strickten, lachten. Abends legten sie sich in ihre weichen Betten und versuchten die Gestalten zu vergessen, die heute an ihren Haustüren vorbeigeschlichen waren. Vergessen half, damit sie ihrem eigenen Leben wieder nachgehen konnten.
Ein Junge mit fein säuberlich gebügelten Kleidern rannte eine Einfahrt entlang auf sie zu und winkte. Die polierten Schuhe glänzten in der Sonne. Jacob bemerkte Oskars neidvollen Blick. Die Mutter des Kleinen kam ihm hinterhergeeilt, packte ihn an der Hand und zog ihn zurück ins Haus. War ihr nicht aufgefallen, wie viele Kinder tapfer in der prallen Sonne mitliefen? Wie viele von ihnen weinten und klagten? Wie viele Eltern ihre Koffer und auf den Schultern ihre Kinder trugen? Jacob schmeckte Hass auf diese Frau mit ihrem hübschen Sommerkleid, deren einzige Sorge zu sein schien, dass ihr Sohn wohlbehütet in sauberer Kleidung aufwuchs.
Er merkte, wie Oskar neben ihm blass wurde. Krampfhaft hielt er sich an seinem Koffer fest. Jacob riss ihn ihm förmlich aus der Hand.
»Ich habe Durst«, wisperte der Junge.
Jacob hatte nicht die Kraft, zu antworten. Er konnte ihm nicht geben, wonach er verlangte. Ohnmacht war alles, was er spürte.
Schließlich näherte sich die Menschentraube tatsächlich einem Bahnhof. Plötzlicher Stillstand, keiner wusste, was geschehen würde. Die Soldaten ließen sie in der Sonne stehen, die so heiß war, dass Jacob das Gefühl hatte, seine Haut würde verbrennen. Sie ließen die Koffer auf den Boden sinken. Jacob stellte ihn vorsichtig neben sich. Hannahs Bild war darin.
Die Soldaten verzogen sich in den Schatten der umliegenden Geschäfte. Sie wischten sich den Schweiß von der Stirn und tranken kalte Limonade, die ihnen die Ladenbesitzer nach draußen brachten. Was für Verräter sie nur waren! Dann dachte Jacob an sich selbst und entschuldigte das Verhalten der Polen damit, dass sie wohl auch ihre eigene Haut retten wollten. Wer widersprach schon so einfach der Mündung eines Gewehrs.
Von Mund zu Mund verbreitete sich die Nachricht. Die vorderen in der Reihe schienen etwas aufgeschnappt zu haben. Warschau, wurde gemurmelt. Andere nannten Städte, von denen Jacob noch nie etwas gehört hatte. Lastwagen rollten auf den Bahnhofsplatz.
Hans Sternlicht reagierte sofort. »Los, bleibt zusammen.« Er setzte sich in Bewegung und erreichte als erster den haltenden Lkw. Die Deutschen ließen ihn gewähren. Hans half seiner Frau auf die Ladefläche. Simon reichte ihm nacheinander die Koffer.
»Schnell, schnell!«, rief Jacobs Vater, und endlich konnte auch er sich wieder rühren. Die Menschen um ihn herum blickten ihn mit ausdruckslosen Augen an, waren wie erstarrt. Die Lastwagen machten ihnen Angst, doch aus irgendeinem Grund vermutete Jacob, dass die Transporter Sicherheit bedeuteten. Sie zeigten dem Soldaten beim Lastwagen ihre Papiere und Jacob ließ sich keuchend auf die Sitzbank fallen. Die Sonne brannte ihm in den Nacken, doch er war so dankbar, dass er sich setzen konnte, dass er es kaum bemerkte. Nach und nach füllte sich die Ladefläche mit Menschen. Ein junges Paar trat an das Fahrzeug heran, die Frau drückte ein Baby gegen ihre Brust. Gerade als sie nach oben klettern wollte, zog der Soldat sie zurück und schüttelte den Kopf.
Jacob wandte sich ab. Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Es gab keine Ausflucht von diesem schrecklichen Ort. Soldaten gingen durch die Menge, rissen Frauen die Ohrringe aus den Ohren, zogen Ringe von Fingern und warfen die Schmuckstücke in einen Blecheimer. Die SS-Männer würden sich nachher über das Gold und den Schmuck hermachen. Vielleicht würden sie eine der Ketten ihren eigenen Frauen zu Hause schenken. Würden sie sich über das gestohlene Gold freuen können? Über Eheringe, die Leute einmal glücklich gemacht hatten? Ringe, die Geschichten erzählten?
Immer mehr Menschen drängten sich auf der Ladefläche zusammen. Jacob schob Oskar schräg hinter sich, damit keiner ihn gegen die Sitzbank drücken konnte.
Die ersten vollen Lkw rollten ab, ihre Reifen knirschten über den Boden. Leute versuchten, sich an der Seite nach oben zu ziehen. Schüsse knallten.
Auch ihr Lastwagen setzte sich in Bewegung. Die sommerliche Stadt schien mit einem Mal düster und grau. Das nasse Hemd klebte wie eine zweite Haut an Jacob. Oskars Kopf sank erschöpft auf seine Schulter. Während der Lastwagen weiter und weiter ins Ungewisse rollte, verschwand die Stadt vor Jacobs verschleierten Augen.