Читать книгу Von Sehnsucht und Träumen - Raphaela Höfner - Страница 9

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April 1941

München

Der Frühling war früh gekommen in der bayerischen Landeshauptstadt. Warme Regengüsse hatten die Bäume zum Knospen gebracht, die Parks und Gärten waren mit weißen Blüten übersät, durch die Hunde und Kinder jagten. Im Sonnenuntergang schien das frische Gras noch grüner.

Das weißverputzte Backsteinhaus lag wie eine Insel in dem wilden Blütenmeer. Hermann war zur Feier eines Kommilitonen eingeladen, dessen Eltern eine Villa am Stadtrand besaßen. An seiner Seite fuhr Karl, sein jüngerer Bruder, mit dem Fahrrad. In seiner Uniform hatte Karl fremd ausgesehen, doch als er diese gegen Lederhosen und ein Hemd tauschte, blitzte der altbekannte Schalk aus seinen Augen. Über den Krieg wollte er kaum sprechen. Er brauchte eine Pause, bevor er nach nur sieben Tagen Fronturlaub zurück in den Osten musste.

»Ich glaube, das muss es sein«, meinte Hermann und drückte die Bremse. Die Villa seines Freundes Leopold Brunner lag im Süden der Stadt. Seine Eltern waren dieses Wochenende verreist, und so hatte er zahlreiche Medizinstudenten zu sich nach Hause eingeladen.

»Solche Häuser habe ich in letzter Zeit nicht besonders oft gesehen«, raunte ihm Karl mit einem Augenzwinkern zu.

»Sieht aus, als ob wir etwas zu früh sind.«

»Natürlich sind wir das. Wann warst du denn jemals schon unpünktlich.«

»Ich wusste ja nicht, wie lange wir mit dem Rad tatsächlich hierher brauchen«, rechtfertigte sich Hermann.

»War nur ein Witz. Komm, lass uns an der Tür klingeln.«

Sie öffneten das große Eisentor, dessen Quietschen Hermann an ihr eigenes Zuhause erinnerte. Die Fahrräder lehnten sie gegen die Wand des Schuppens.

Eine junge Frau mit Lockenkopf öffnete die Haustür. Hermann warf Karl einen verwirrten Blick zu.

»Ihr seid hier schon richtig, wenn ihr zu Poldis Feier wollt. Viele sitzen schon draußen auf der Terrasse im Garten.« Sie folgten ihr durch den breiten Gang. »Ich bin übrigens Angelika.«

»Hermann!« Leopold stürmte auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem überschwänglichen Handschlag.

»Poldi, wie schön, dass du uns eingeladen hast«, sagte Hermann. »Das ist übrigens mein Bruder Karl.«

»Der Morsemeister«, lachte Leopold und schüttelte auch Karls Hand.

»Eher Schachmeister«, antwortete Karl.

»Du spielst Schach? Das ist ja hervorragend. Wir haben gerade unser Brett draußen aufgebaut. Heinz Sprenger ist Münchner Stadtmeister im Schachspielen. Vielleicht wagst du ja später eine Partie gegen ihn.«

»Natürlich.«

»Habt ihr Durst? Ich könnte euch ein Bier anbieten.«

»Ein Radler«, sagte Hermann.

»Für mich keinen Alkohol bitte. Ich möchte einen klaren Kopf behalten.«

»Ein richtiger Frontmann«, grinste Leopold, doch Karl erwiderte sein Lächeln dieses Mal nicht.

Von der offenen Terrassentür drangen Musik und lautes Lachen herein. Ein großer Badeteich lag inmitten der großzügigen Rasenfläche. Die Mädchen hatten ihre Kleider über die Knie gezogen und hielten ihre Beine ins Wasser. Eines zog sich sogar das Kleid vollständig aus und rannte im Badeanzug bis zum Schwimmteich. Hermann stellte fest, dass es sich um Angelika handelte. Ihre Locken wippten, als sie vor einem jungen Mann quietschend davonlief, der sie dann hochnahm und so tat, als wolle er sie ins Wasser werfen.

»Du bist also ein richtiger Soldat?«, fragte ein Mädchen mit schulterlangen, blonden Haaren. »Poldi hat erzählt, dass du kommst.«

»Was ist denn ein richtiger Soldat?«, fragte Karl.

Hermann registrierte, dass es das falsche Thema war, das sie anschnitt, doch er wusste nicht, wie er sie ablenken sollte.

»Na, du kommst doch von der Front, oder nicht? Wie viele Russensäue hast du denn abgeschossen?«, fragte sie trotzig. Viele Augenpaare wandten sich ihnen zu. Neugierig. Interessiert.

»Ich habe Urlaub und möchte nicht über den Krieg sprechen.«

Das Mädchen zog eine Schnute. »Nun komm schon. Wir wollen alles aus erster Hand erfahren. Wie ist es dort drüben so? Welche Waffe hast du? Zählt ihr eure Abschüsse mit? Wie ist die Stimmung unter euch Kameraden?« Sie machte einen Schritt auf Karl zu und wollte ihn am Arm berühren, doch er drehte sich weg.

»Lies du weiter die Märchen aus der Zeitung und lass mich jetzt gefälligst in Ruhe.«

»Komm schon, Evi, lass den Spinner«, sagte einer von Hermanns Kommilitonen und zog Evi mit sich in Richtung Badeteich.

»Wo ist denn jetzt dieser Schachmeister?«, fragte Hermann, um Karl auf andere Gedanken zu bringen. Poldi stellte ihnen Heinz Sprenger vor, der sofort bereit für eine Partie Schach war.

Karl setzte sich zu ihm an den Tisch, und Hermann konnte ihn guten Gewissens allein lassen.

»Ist der Spinner etwa dein Bruder?« Evi, das Mädchen mit den schulterlangen Haaren war wieder aufgetaucht und stellte sich Hermann in den Weg.

»Ja, mein Bruder Karl.«

»Der ist wohl nicht besonders gesprächig? Also ich würde mich freuen, wenn ich so etwas zu berichten hätte. Schließlich möchte ja jeder wissen, wie man sich so einen Tag an der Front vorstellen kann.« Sie zuckte mit den Schultern. »Studierst du etwa auch Medizin?«, schnurrte sie und begutachtete Hermann interessiert von oben bis unten.

»Genau. Ich bin im selben Semester wie Poldi. Wir machen bald unser Examen.«

»Das klingt ja spannend, dann kommt ihr bestimmt auch bald in den Einsatz. Das Land braucht schließlich Ärzte. Du bist bestimmt sehr talentiert«, hauchte Evi und hakte sich bei Hermann unter.

Die Dämmerung zog auf und im Garten glühten bunte Lampions in allen Farben. An den Bäumen hing die Nacht. Obwohl es ein so schöner Tag gewesen war, zeigte die aufkommende Feuchtigkeit, die durch seine Schuhe drang, dass es erst Frühling und noch nicht Sommer war. Sobald die Schatten länger wurden, fielen sofort die Temperaturen und ließen Hermann frösteln. Evi schien es nicht so zu gehen. Sie ließ den Rock ihres Sommerkleides bei jeder Bewegung flattern, damit ihre Knie bloßlagen.

»Lass uns tanzen«, quiekte sie auf, und bevor Hermann auch nur antworten konnte, zog Evi ihn hinter sich her zu einem Teil des Anwesens, wo bereits etliche Paare ausgelassen das Tanzbein schwangen.

»Los geht’s«, rief sie und warf lachend den Kopf in den Nacken. Dabei schob sie Hermanns Hand, die in ihrem Rücken lag, noch tiefer, sodass er ihre Rundung spüren konnte.

Tanzen war noch nie Hermanns Stärke gewesen. Neben ihm wirbelten die jungen Männer die Frauen herum, führten sie über den getrimmten Rasen, manche von ihnen machten sogar Hebefiguren.

Evi hatte das Steuer übernommen. Sie drängte Hermann in die Tanzschritte, und als die Musik ruhiger wurde, seufzte sie glücklich auf und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter. Ihr Geruch stieg ihm in die Nase und Hermann musste an Marlene Liebreiz denken. Was sie in diesem Moment wohl machte? Die Trennung war ihm schwergefallen und er befürchtete oft, dass diese ihr nicht wirklich nahegegangen war. Er jedoch vermisste sie jeden Tag. Der enge Tanz mit Evi fühlte sich wie Verrat an ihr an. Ihr Körper war fremd und ihre Nähe war Hermann unangenehm. Evis Haare kitzelten ihn in der Nase und sein Herz schlug schneller, als sie beide Arme wie eine Schlingpflanze um ihn legte. Schweiß perlte von seiner Stirn, doch Evi schien sein Unbehagen nicht zu merken. Sie schmiegte sich noch näher an ihn, sodass sie von Weitem wie zu einer Person verschmolzen aussehen mussten. Die Musik stoppte, das war seine Chance.

»Ich bin durstig. Soll ich dir etwas zum Trinken mitbringen?« Hermann befreite sich aus ihrer Umklammerung und ging zwei Schritte zurück. Evi schob schmollend die Unterlippe nach vorne und schüttelte den Kopf. Sie hatte sich mehr erhofft. Neben ihnen waren einige Paare bereits eine Stufe weitergegangen und küssten sich leidenschaftlich.

Hermann trat auf die Veranda, auf der Karl und Heinz noch am Schachbrett saßen. Einige Zuschauer waren um sie versammelt.

»Schachmatt«, hörte Hermann seinen Bruder sagen.

»Nicht schlecht«, rief Poldi, »du hast tatsächlich den Stadtmeister besiegt.«

Ohne Gratulation stand Heinz vom Tisch auf und verschwand im Haus.

»Dein Freund zählt wohl nicht gerade zu den besten Verlierern«, sagte Karl an Poldi gewandt.

»Er ist es halt nicht gewohnt. Wenn man immer gewinnt, schmerzt eine Niederlage natürlich umso mehr.«

»Schach ist und bleibt ein Kriegsspiel. Wenn man zu viele Bauern opfert, kann man schnell die ganze Schlacht verlieren. Man muss die Figuren entwickeln. Jede einzelne hat ihre Rolle. Nur wenn alle als Gruppe zusammenarbeiten, ineinandergreifen wie die Räder einer Uhr, dann kann man gewinnen. Wenn nur ein Rad nicht funktioniert, geht das ganze Uhrwerk nicht. Der König bleibt in Sicherheit. So einfach ist das«, erklärte Karl.

»Das ist Defätismus!«, schrie jemand und zeigte auf einen der Gäste. »Wie kannst du so was nur sagen! Natürlich wird Deutschland den Krieg gewinnen!« Mit Schrecken stellte Hermann fest, dass es schon wieder Evi war, die für Aufmerksamkeit sorgte. Sie war drinnen im Wohnzimmer an einer Sitzecke vorbeigegangen und musste wohl Wortfetzen eines Gesprächs aufgeschnappt haben.

»Beruhig dich, Evi«, versuchte Poldi sie zu beschwichtigen.

»Mich beruhigen? Hast du denn überhaupt gehört, was hier geredet wird? Die sprechen auf deiner Feier über eine Niederlage, schimpfen auf unseren Führer und behaupten, dass Hitler Deutschland in eine Katastrophe stürzen wird!« Evis Wangen färbten sich scharlachrot, als sie erneut mit dem Finger auf zwei junge Männer zeigte.

Hermann kannte sie aus der Fakultät. Er kramte in seinem Gedächtnis und endlich fielen ihm die Namen ein. Der junge Mann ganz rechts musste Hans Scholl sein. Seine Schwester Sophie studierte auch in München. Hermann schätzte, dass sie so alt wie Hannah war. Wenn er sich recht erinnerte, hatten sie sogar gemeinsam mit dem Studium in München angefangen. Die anderen Männer kannte er nur vage. Alexander musste einer heißen, an den anderen Namen konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.

»Du solltest sie rausschmeißen, Poldi, bevor es noch richtig Ärger gibt.«

»Sie hat recht«, kam einer Evi zu Hilfe. »Ich weiß auch gar nicht, weshalb du die Schwuchtel überhaupt reingelassen hast. Das fällt auf dich zurück, wenn sie jemand anschwärzt. Es ist schließlich deine Villa!«

Hans Scholl stand auf, seine Freunde taten es ihm gleich. Sie griffen nach ihren Jacken und bewegten sich Richtung Tür.

»Sag es ihnen, Karl!« Evi fauchte wie eine wildgewordene Katze und packte Karl am Arm. »Sag ihnen, dass wir den Krieg gewinnen werden.« Alle blickten plötzlich auf Karl. Den Soldaten. Denjenigen, der direkt aus dem Krieg kam und wissen musste, wie es wirklich aussah.

»Ich glaube, du hattest ein Glas Wein zu viel«, setzte Karl an, ohne die eigentliche Frage zu beantworten. »Da kann es schon vorkommen, dass man nur ein paar Wörter aufschnappt und dann alles in den falschen Hals bekommt.«

Evi zog lautstark Luft durch die Zähne. »Ich habe doch keine Tomaten auf den Ohren. Und so was studiert Medizin. Solche nehmen anständigen Deutschen die Studienplätze weg.«

Hermann blickte zu den drei Männern hinüber, die alle mit sich rangen, sich zu verteidigen und in die Diskussion einzusteigen. Er bemerkte, dass Karl ebenfalls zu ihnen sah und unauffällig mit dem Kopf schüttelte. Ohne eine Verabschiedung verschwanden sie durch die Haustür.

»Wir gewinnen! Wir gewinnen!«, schrie Evi ihnen hinterher. »Verlogene Bande! Volksverräter, elendige!« Mittlerweile eilten sogar Leute vom Gartenteich herein, um dem Spektakel beizuwohnen.

»Komm schon Evi, du hast das bestimmt falsch verstanden«, setzte Poldi noch einmal an, doch sie schüttelte hysterisch den Kopf, dass ihre Haare nur so flogen.

»Ich bin doch nicht dämlich«, fauchte sie. »Anzeigen werde ich sie! Allesamt!«

Widerwillig trat Hermann einen Schritt auf Evi zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Evi, du weißt, dass du Poldi dadurch in Schwierigkeiten bringen würdest. Das willst du doch sicher nicht.« Er schien den richtigen Knopf gedrückt zu haben.

»Natürlich nicht«, feuerte sie zurück, »aber man kann diese Bande nicht einfach damit durchkommen lassen. Sie haben unseren Führer beleidigt und seinen Namen in den Dreck gezogen.«

»Das wird früher oder später schon auf sie zurückfallen«, schaltete sich nun Karl ein. »Aber wenn rauskommt, dass du auch auf dieser Feier warst, wird dir am Ende noch Mittäterschaft unterstellt.«

Evi schnappte nach Luft. »So ein Blödsinn«, rief sie, doch der Ausdruck ihrer Augen verriet, dass sie ins Grübeln kam.

»Das ist kein Blödsinn. Du warst auf einer Feier, auf der defätistische Äußerungen getätigt wurden. Wie alle anderen auch«, sagte Karl in die Runde. »Wenn ich euch einen Ratschlag geben darf, als Soldat, dann haltet ihr allesamt den Mund. Unter uns Kameraden gilt der Grundsatz: mitgehangen, mitgefangen. Wenn du dabei warst, warst du dabei.«

Endlich presste Evi die Lippen zusammen und schwieg.

»Du solltest vielleicht wieder nach draußen an die frische Luft. Komm, ich begleite dich«, sagte Karl.

»Mit dir würde ich lieber nach oben gehen. Vom Schlafzimmer aus sieht man angeblich die Berge.«

»Ich kenne die Berge«, meinte Karl trocken, fasste Evi am Arm und zog sie mit sanfter Gewalt nach draußen.

»Das Feuerwerk beginnt«, kreischte sie, als sie erkannte, wie ein paar junge Männer die Raketen bereitstellten.

Über Karls Schulter zischte es plötzlich und eine Rakete sauste nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei. Ein Zucken ging durch seinen Körper, bevor er pfeilschnell in seine Hose griff und ein Messer herauszog. Karl wirbelte herum, packte die Person hinter sich am Hals, stieß sie mit aller Kraft zu Boden und nagelte sie mit den Knien auf dem Rasen fest. Noch bevor die Rakete in der Luft explodierte, hatte Karl der Person unter sich das Messer an die Kehle gedrückt. Seine Muskeln waren gespannt wie Geigensaiten, bereit, jeden Moment zuzustoßen. Mit einem lauten Knall sprühte der Himmel rote Funken, die herabregneten. In dem Licht erkannte Hermann, der hilflos danebengestanden hatte, dass es sich um Angelika handelte. Ihre Locken klebten ihr im Gesicht. Darunter starrten die angstgeweiteten Augen nach oben, ihr Atem ging flach unter Karls Beinen. Ein erstickter Schrei kam aus ihrem Mund.

»Mensch, bist du verrückt geworden? Geh runter von ihr!« Hände griffen nach Karl, dessen Blick mit einem Mal wieder zurückkehrte. Nervös flackerten seine Augen in den Höhlen hin und her, das Messer hielt er noch fest in der Hand.

Hermanns Mund stand immer noch offen. So hatte er Karl noch nie erlebt. Wenn eine harmlose Rakete aus seinem Bruder so schnell einen Soldaten machen konnte, der in nur wenigen Millisekunden einsatzbereit war, dann wollte er sich gar nicht erst vorstellen, was er alles miterlebt haben musste.

Karl schüttelte sich wie ein nasser Hund, starrte einen Moment noch auf die am Boden liegende Angelika, die sich schluchzend die Hände vors Gesicht presste, und rannte dann davon. Hermann folgte ihm.

So hatte er sich das Ende der Feier sicherlich nicht vorgestellt.

Von Sehnsucht und Träumen

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