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Toxische Scham

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Der Psychotherapeut und Bestsellerautor John Bradshaw stellt in seinen Standardwerken heraus, dass sich sämtliche der von mir beschriebenen Kriegsenkel-Pathomechanismen auf ein Grundfaktum reduzieren lassen: das Verlassenwerden. Alle missbräuchlichen Rollenmuster, in die Kinder von traumatisierten Kriegskinder-Eltern gedrängt werden, laufen schlussendlich auf dasselbe hinaus. Die für eine gesunde Entwicklung unbedingt erforderlichen Ingredienzien, nämlich Schutz, unverbrüchliche Liebe und Spiegelung des Okay-Seins der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch eine notwendige, klare und liebevolle Limitierung eines mitunter ausufernden Kinderwillens bleiben aus. Das auf Gedeih und Verderb abhängige Kind wird von seinen Eltern emotional verlassen, was je nach Ausprägung als eine Art innerer Tod erlebt wird:

»Scham wird internalisiert, wenn man verlassen wird. Verlassenheit ist der Begriff, der beschreibt, wie man sein echtes Selbst verliert und seelisch aufhört zu existieren. Kinder können nicht wissen, wer sie sind, wenn sie kein ›Feedback‹ bekommen. Dieses Feedback kommt von den Bezugspersonen und ist in den ersten fünf Lebensjahren von entscheidender Bedeutung. Verlassenwerden bedeutet gleichzeitig den Verlust des Feedbacks. Eltern, die sich seelisch abkapseln [und das tun alle schamgeprägten bzw. traumatisierten Eltern] können ihren Kindern weder Feedback geben noch deren Gefühle bestätigen. Da wir uns in der frühen Kindheit im präverbalen Bereich bewegt haben, hing alles von gefühlsmäßigen Interaktionen ab. Ohne jemanden zu haben, der unsere Gefühle widerspiegelte, konnten wir nicht wissen, wer wir waren. Dieses Widerspiegeln hat auch für unser späteres Leben eine große Bedeutung. Denken Sie einmal an das frustrierende Erlebnis, das jeder von uns schon einmal gehabt hat, wenn wir mit jemandem sprechen, der uns nicht ansieht. Während Sie reden, beschäftigt er sich mit irgendetwas anderem oder liest. Für unsere Identität ist der andere wichtig, der uns mit seinen Augen ziemlich genau so sieht, wie wir uns selbst sehen. […] Die Art, wie Gefühle, Bedürfnisse und natürliche, instinkthafte Triebe durch Scham gebunden werden, ist der entscheidende Faktor bei der Umwandlung der gesunden Scham in toxische Scham. Durch Scham gebunden zu sein bedeutet, dass man sich schämt, sobald man ein Gefühl, ein Bedürfnis oder einen Trieb empfindet. Die Dynamik des menschlichen Lebens setzt sich aus unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Trieben zusammen. Wenn diese Komponenten durch Scham gebunden sind, empfindet man die Scham bis ins tiefste Innere.« 13

Bradshaw beschreibt ein Phänomen, das andere Autoren im Kontext der transgenerationalen Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten als Syndrom der »Kühlschrankmutter« bezeichnet haben. Kriegskinder, die Eltern der Babyboomer, waren häufig nicht in der Lage, ihren eigenen Kindern emotionale und körperliche Nähe zu geben. Kindern wahrhaftig und emotional zu begegnen und dabei kindliche Gefühle wie Wut, Angst und Trauer zu spiegeln bedeutet zwangsläufig, Gefühle der eigenen Kindheit zu evozieren. Wenn sich Eltern, deren eigene Kindheit traumatisch war, auf diese wünschenswerte und notwenige Weise ihren Kindern nähern, erleben sie eine Retraumatisierung. Unbewusst und ohne böse Absicht wird die Erziehung der eigenen Kinder daher versachlicht. Die enorm wichtige Spiegelung authentischer Gefühle bleibt aus. Kinder, die auf diese Weise emotional vernachlässigt wurden, sehen die Gründe für die mangelnde Zuwendung jedoch niemals bei ihren Eltern, sondern einzig bei sich selbst. Sie halten sich für schuldig, wenig liebenswert und irgendwie nicht richtig.

»Egozentrisches Denken bedeutet, dass ein Kind alles auf sich bezieht. Selbst wenn ein Elternteil stirbt, kann es sein, dass ein Kind das auf sich bezieht. Es sagt dann möglicherweise: ›Wenn Mami mich wirklich liebgehabt hätte, wäre sie nicht zum lieben Gott gegangen, sondern bei mir geblieben.‹ Denjenigen, die wir lieben, schenken wir Zeit. Der Schock, der dadurch entsteht, dass unsere Eltern uns nichts von ihrer Zeit schenken, erzeugt in uns ein Gefühl der Wertlosigkeit. Das Kind bedeutet den Eltern so wenig, dass sie ihm weder ihre Zeit noch ihre Aufmerksamkeit schenken oder sich seiner Erziehung widmen. Das egozentrische kleine Kind interpretiert Ereignisse egozentrisch. Wenn Mami und Papi nicht da sind, dann ist das meine Schuld. Mit mir stimmt irgendetwas nicht, sonst wären sie gern bei mir. Kinder sind egozentrisch, weil sie noch keine Gelegenheit hatten, ihr Ich abzugrenzen.« 14

Tragischerweise vererben sich die aus diesem Mechanismus hervorgehenden Folgen, Selbstwertmangel und Selbstzweifel, von Generation zu Generation weiter. Man kann seinen eigenen Kindern keinen Selbstwert vermitteln, wenn man sich insgeheim selbst ablehnt. Obgleich Kinder in diesem systemischen Reigen immer die Opfer sind, sehen sie sich als Täter, wofür sie sich schämen; deshalb suchen sie nach Wegen der Wiedergutmachung, sie werden zu »Wiedergutmachern«. Hauptproblem der internalisierten toxischen Scham ist jedoch, dass jeglicher Versuch der Wiedergutmachung in einem Teufelskreis endet, denn hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen Schuld und Scham: Schuldgefühle entstehen im Abgleich eines etwaigen (Fehl-)Verhaltens, im Widerspruch zu inneren Wertvorstellungen. Ein erkanntes falsches Verhalten und nachfolgende Reue sind prinzipiell gesunde Mechanismen zur Reifung und führen idealerweise tatsächlich zur Wiedergutmachung. Sofern aber Scham internalisiert wurde, wird sie zu einem Wesenszug und ist mit der Identität des Individuums verbunden. Man hat dann nichts Falsches getan, man ist falsch. Für diesen Menschen gibt es keine Möglichkeit der Wiedergutmachung. Um psychisch überleben zu können, bleiben nur klassische Abwehrmechanismen, wie Verdrängung, Projektion, Leugnung usw.

Schamgebundene Erwachsene, die ihr wahres Selbst und damit ihren inneren, gegebenen Wert als Mensch nicht kennen, sind gezwungen, über äußere Leistungen und Erfolge Anerkennung zu erreichen. Dieses Muster galt ja bereits während der Parentifizierung in der Kindheit: Emotional verlassene Kinder tun für ihre Eltern alles, um ein wenig Anerkennung zu bekommen. Schlussendlich führt dieser Prozess zu einer narzisstischen Persönlichkeit, die Person wird immer egozentrierter und interessiert sich in Wahrheit nicht mehr wirklich für andere Menschen. Transaktionsanalytisch betrachtet, ist das internalisierte Gefühl von »ich bin nicht okay« irgendwann umgeschlagen in »ich bin besser als du«. Narzissten glauben, dass sie mehr Anerkennung und Wertschätzung verdienen als andere. Von außen gesehen, kann der Wesenszug, mit großer Selbstverständlichkeit Zuspruch zu erwarten, leicht mit Selbstvertrauen verwechselt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Trotz Umkehr der inneren Selbsteinschätzung vom Verlierer zum Gewinner müssen Narzissten Brüskierung und seelischen Schmerz bekämpfen. In der Regel geschieht dies durch Projektion.

»Projektion ist einer der primitivsten Abwehrmechanismen. Ihre dramatischsten Manifestationen sind die Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Wenn wir von Scham geprägt sind, ist die Projektion unvermeidlich. Alle unsere Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse und Triebe, die wir verleugnen, suchen dringend nach einer Ausdrucksmöglichkeit, denn sie sind lebenswichtige Teile unseres selbst. Man kann das Problem lösen, indem man die Gefühle, Wünsche usw. anderen zuschreibt. Wenn ich meinen eigenen Zorn verleugne, kann ich ihn auf einen anderen Menschen projizieren. Es könnte dann passieren, dass ich Sie frage, warum Sie wütend sind. […] Projektion wird eingesetzt, wenn die Verdrängung versagt. Sie ist eine der wichtigsten Ursachen für Konflikte und Feindseligkeiten im menschlichen Zusammenleben.« 15

Als Moralisten mit erhobenem Zeigefinger beginnen toxisch Beschämte, Andersdenkende, die weniger konformistisch und letztlich gesünder sind als sie selbst, auf schamlose Weise zu beschämen. Aufgrund des hohen, aber verleugneten Leidensdruckes entwickeln viele Betroffene dabei ungeahnte Energien und Fähigkeiten. Bereits innerhalb des dysfunktionalen Familiensystems vieler Kriegsenkel war ein Überleben nur deshalb möglich, weil spezielle Fähigkeiten der Anpassung und Manipulation erlernt wurden. Um die eigene Kindheit betrogen, erforderten co-abhängiges Verhalten und Parentifizierung enorme soziale Fähigkeiten, die sich im heutigen Werte-Kanon hervorragend zur sozialen Machtorganisation eignen. John Bradshaw hat, ohne es zu ahnen, in seinem Buch über die toxische Scham den Prototyp vieler deutscher Haltungsjournalisten, Kirchenvertreter und linksgrüner Politiker beschrieben. In seinem Kapitel »Die persönlichkeitsspezifischen Stile der Schamlosigkeit« zählt er sämtliche Charaktereigenschaften der zeitgenössischen Hypermoralisten und Normopathen auf:

»Eine dritte Schutzschicht gegen das Gefühl der toxischen Scham besteht daraus, dass man ›schamlos‹ handelt. Das ist ein weitverbreitetes Verhaltensmuster schamgeprägter Eltern, Lehrer, selbstgerechter Menschen und Politiker. Zum schamlosen Handeln gehören verschiedene Verhaltensweisen, die den Zweck haben, das Gefühl der Scham zu verändern und die eigene toxische Scham auf eine andere Person zu übertragen. Die Transaktionstheoretiker nennen diesen Vorgang ›heiße Kartoffel‹. Solche Verhaltensweisen stellen einen Abwehrmechanismus gegen den Schmerz der toxischen Scham dar, führen zu Stimmungsveränderungen und machen süchtig. Zu ihnen zählen Perfektionismus, Streben nach Macht und Kontrolle, Wut, Arroganz, Kritik und Tadel, Verurteilung anderer, Moralisieren, Verachtung, gönnerhaftes Verhalten, Sich-Kümmern und Helfen, Neid, Nettigkeit und Gefälligkeit. Alle diese Verhaltensweisen sind auf andere Menschen konzentriert und lenken vom der eigenen Person ab. […] Das Streben nach Macht ist ein direkter Versuch, Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Wenn man Macht über andere hat, kann man nicht so leicht der Scham ausgesetzt werden. Das Machtstreben wird häufig zu einer Lebensaufgabe, der sich ein Mensch total verschreibt. In seiner neurotischsten Form wird es zu einer absoluten Sucht. Die Menschen widmen dann ihre ganze Kraft der Aufgabe, durch raffinierte Manöver eine Position zu ergattern, vor der aus sie die Leiter des Erfolgs weiter nach oben klettern können. […] Eltern, Lehrer, Doktoren, Rechtsanwälte, Pfarrer, Rabbiner und Politiker spielen Rollen, die etwas mit Macht zu tun haben.

Die Leute, die mit der Macht spielen, versuchen ständig, ihre Macht über andere auszudehnen. Sie suchen sich häufig Berufe aus, die ihnen Macht geben, und sichern ihre Position ab, indem sie andere Leute für sich arbeiten lassen, die schwächer und weniger selbstsicher sind. Solche Menschen sind absolut nicht in der Lage, die Macht mit anderen zu teilen. Eine Teilung der Macht würde Gleichheit bedeuten –und sie können sich nur gut fühlen, wenn sie anderen überlegen sind. Für den Machthungrigen bedeutet Macht ein Mittel, sich gegen weitere Scham abzusichern. Dadurch, dass man Macht über andere hat, kann man die Rolle umkehren, die man in der frühen Kindheit gespielt hat. Zu den Strategien der Macht gehört oft auch, dass man versucht, sich in aktiver Weise zu rächen.« 15A

Bradshaw skizziert mit dem schamgebundenen Charakter den Prototyp des erfolgreichen Mainstreamkarrieristen, der insbesondere eine zentrale Machttechnik beherrscht: Politische Korrektheit. Im Kapitel Gender komme ich darauf zurück. Insbesondere bei vielen Vertretern der Kunst-, Medien- und Politiker-Eliten fällt dieser Typus auf. Dieser Charakter dominiert weder durch Schönheit, Charme, Fachkenntnis oder Intelligenz, sondern durch soziale Bauernschläue und Ausdauer. Politische und ideologische Gegner werden mit großer Treffsicherheit verblüfft und unter Zuhilfenahme von Moralen und jenseits der Fakten effektiv diskreditiert und beschämt. Vortrefflich studieren lässt sich diese Methodik in vielen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender. Hier werden missliebige Positionen entweder gar nicht erst zugelassen, oder deren Vertreter werden brüsk unterbrochen, moralisch belehrt und beschämt. Und wehe ein Journalist handelt einmal nicht im Sinne der politisch korrekten Direktive und lässt ideologischen Gegnern etwas Raum für die eigene Meinung … Das Mindeste sind nachträgliche Entschuldigungen, möglicherweise ist der nicht ganz linientreue Journalist aber auch gleich seinen Job los. Gewinner auf der politisch-medialen Bühne sind insbesondere jene Typen von Babyboomern, die früh gelernt haben, wie man unliebsame innere Affekte und Ambivalenzen über Projektionen loswird. Wer den Kontakt zu seinem wahren Selbst verloren hat, ist ohnehin nicht sonderlich zimperlich und nicht gerade ein Ausbund an Empathie. Übertriebene, gespielte Empathie für Minderheiten und Randgruppen dient eher dem eigenen Machtausbau und stellt einen Missbrauch der wirklich Hilfsbedürftigen dar.

Fazit: Toxische Scham lässt sich effektiv übertagen, indem man den internalisierten Anteil, der einen permanent selbst beschämt, auf andere umlenkt. Die unliebsame innere Stimme, die einen moralisch diskeditiert, belehrt und maßregelt, richtet sich fortan auf politische und ideologische Gegner. Als Nebeneffekt lässt sich das Kleinmachen anderer als persönlicher Machtgewinn nutzen.

Vom Verlust der Freiheit

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