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Schuldstolz und Identität

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»Paradoxerweise gelingt Identitätsbildung im Falle Deutschlands nicht durch die Produktion von Stolz auf Errungenschaften, sondern durch die Akzeptanz eigentlich unakzeptierbarer Schande und das Eingeständnis eigentlich uneingestehbarer Schuld. So wird auf nahezu geniale Weise Schande zu Ruhm ›rezykliert‹. Mit postheroischer Grandeur wird Schuld in Schuldstolz verwandelt. Schuldstolz ist ein moralischer Stolz darauf, die Kraft zu haben, die größtmögliche Schuld zu verinnerlichen und sich mit der Verantwortung dafür zu identifizieren.« 16

Das transgenerationale Kriegstrauma erzeugt zwei innerpsychische Grundverfassungen:

1. Internalisierte Scham- und Schuldgefühle

2. Ein unendlich bedürftiges Ego

Der zwangsläufig ablaufende Selbstheilungsversuch narzisstischer Persönlichkeiten besteht darin, Honig aus dem Defizit zu saugen. Schuldstolz ist das Ergebnis dieses Prozesses. Grundsätzlich muss die narzisstische Persönlichkeit viel Energie aufwenden, um den verleugneten, unbewussten Selbstwertmangel auszugleichen. Permanenter Zuspruch von außen ist ein Muss. Allgemein positiv bewertete Mainstreamnarrative zu bedienen, um damit Lob und Anerkennung einzuheimsen, stillt die Seelenpein nur bedingt. Innerpsychische Anteile sind um Ganzheit und Ausgleich bemüht, Schuld und Scham müssen in einer neuen Legende recycelt und einer neuen Bewertung zugeführt werden. Da die totale Verleugnung internalisierter Scham unmöglich ist, bleibt der Psyche ein anderer, genialer Kunstgriff: Durch Überhöhung und ostentative Anerkennung von Schuld – bei gleichzeitiger Projektion und Kollektivierung – kann das Ego viel Zuspruch für seinen »Mut« und seine »Kraft« erwarten, welche die Vergegenwärtigung der großen »Verantwortung« mit sich bringt, um zukünftige Schuld zu verhindern. Schuldstolz ist daher Labsal für die toxisch beschämte Seele. Egal zu welchem Thema – es gibt praktisch keine Rede deutscher Politiker, in der nicht mit sauertöpfischer Miene auf die große Schuld und Verantwortung Deutschlands hingewiesen wird. Wenn Deutschland seine große Schuld bezüglich der Klimakrise nicht annimmt und sofort die Vorreiterrolle in der Klimapolitik übernimmt – wer dann?, sagen Politikerinnen wie Katrin Göring-Eckardt. Meint: Ohne Deutschland würde die Welt untergehen. Zwar macht der deutsche Anteil der CO2-Emissionen lediglich 2 Prozent aus und Giganten wie Russland, China, USA, Indien und Brasilien denken im Traum nicht daran, es Deutschland gleichzutun – aber egal. Wer, wenn nicht Deutschland, kann und wird die Welt retten? Das fühlt sich schon mal ziemlich groß(artig) an.

Grandiosität und Größe, die das bedürftige narzisstische Ego so dringend braucht, können also über das Anerkennen von Schuld generiert werden. Das ist jedoch nicht alles. Ein großes Problem bei der Weitergabe des transgenerationalen Kriegstraumas ist ein Mangel an persönlicher Identität. Wie bereits ausgeführt, können Kinder ohne die zugewandte Spiegelung von reifen Erwachsenen nicht wissen, wer sie sind. Auch wenn zeitgenössische Narrative noch so sehr den Begriff der Identität dekonstruieren und verleugnen – jeder Mensch braucht Identität. Einen Bezugsrahmen, etwas, womit sich das Ich rückhaltlos identifizieren kann. Und wenn dies nichts Gutes sein kann, weil das Gute in der eigenen Kindheit kaum gespiegelt wurde, dann ist es eben das Schlechte. Schuld, beziehungsweise rezyklierte Schuld in Schuldstolz, wird schließlich zur neuen Identität; dies gilt auch für das Kollektiv.

»Dabei ist übertriebener Nationalstolz tiefenpsychologisch gesehen dasselbe wie übertriebener Nationalhass: Im ersten Fall erfolgt eine Identifizierung mit den positiven Eigenschaften, im zweiten Fall mit den negativen. In beiden Fällen erfährt das zu schwach entwickelte Ich über Identifikation Aufwertung und Größe. Dass eine grüne Bundestagsvizepräsidentin bei einer Anti-AfD-Demonstration mitläuft, auf der »Deutschland, du mieses Stück Scheiße« und »Deutschland verrecke« skandiert wird, ohne sich hinterher davon zu distanzieren, zeigt, wie selbstverständlich eine negative Identifikation ist. Hass ist das Gegenteil von Liebe, setzt Erstere aber voraus. Natürlich ist es für linke Ideologen und Antideutsche schwer zu ertragen, sie der übertriebenen (invertierten) Vaterlandsliebe zu überführen, dennoch verhält es sich tiefenpsychologisch gesehen genau so.« 17

In Bezug auf kollektive Prozesse, also auf Deutschlands Identitätsbildung als Nation, funktioniert dieser Mechanismus einwandfrei. Jeder Politiker, der heute noch eine positive Identifikation mit deutschen Tugenden anregt, und derlei gäbe es ja durchaus, kann nur ein rechter Buhmann sein. Identifikation mit Deutschland im Sinne einer nationalen Erzählung und Identitätsbildung ist einzig als Negation erlaubt. Die sündhafteste, abgründigste Nation, die den größten Zivilisationsbruch aller Zeiten beging, hat zwei Generationen später die Kraft gefunden, die übergroße Schuld anzusehen. Das ist irgendwie – groß. So groß, dass man mit dem ostentativen Bekenntnis zu dieser Schuld gleichsam Siegfrieds Bad im Drachenblut entsteigt. Wer wagt es, gegen einen Politiker zu opponieren, der »wegen Auschwitz in die Politik gegangen«18 ist?

»Das macht dann Deutschland eben doch wieder außergewöhnlich: Nur wir wagten zu erinnern, was niemand zuvor zu erinnern gewagt hat. Nur wir übernahmen Verantwortung dafür, wofür niemand je Verantwortung übernahm. Wir verdienen es deshalb, der Welt als moralisches Leitbild zu dienen. Der neue deutsche invertierte Nationalismus besteht wie andere Nationalismen auch in der Identifizierung mit einer Erzählung, die ›wir‹, als Einzelne oder als Nation, gerne über uns hören. Es ist eine Erzählung, die uns stolz macht, uns das Gefühl der Richtigkeit unserer Werte vermittelt und uns Sendungsbewusstsein verleiht. […] Die deutsche Migrationspolitik ist, trotz allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten, eine lohnenswerte Investition in Identitätswert-Steigerung. Deutschland wird wieder als moralische Führungsnation angesehen, und deutsche Politiker gelten als moralische Führer. […] Es fühlt sich für viele Deutsche jetzt wieder besser an, deutsch zu sein. Daher ist es auch unwichtig, ob die Migrationspolitik im Sinne der Migranten selbst ist oder nicht. Viele Migranten starben auf dem Weg nach Deutschland, und die Situation in den Ländern, aus denen sie kommen, wird durch die Migration nicht besser. Profiltechnisch ist all das aber nicht wichtig. Aus der Sicht deutscher Profilinteressen ist die Migrationspolitik richtig.« 19

Und wenn man schon mal dabei ist und weil sich Schuldstolz einfach klasse anfühlt, lässt man sich auch bei den kleineren Vergehen nicht lumpen. Auf dem Schuldkarussell sind schließlich noch Gondeln frei – wer hat noch nicht, wer will noch mal: Klima? Deutschland ist eine führende Industrienation und damit maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich. Migration? Deutschland beutet die dritte Welt aus und erhöht die Temperatur dieses Planeten, daher sind Deutsche doppelt verantwortlich für die vielen »Klimaflüchtlinge«. Gender? Allein die deutschen Tugenden des letzten Jahrhunderts haben gezeigt – Deutschland ist das Mutter-, nein, Vaterland der toxischen Männlichkeit schlechthin. Corona? Wir haben SARS-CoV-2 bekanntlich nur, weil Deutschland maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich ist … Seit wenigen Jähren dreht sich das Schuldkarussell immer schneller, und die Schlange vor dem Fahrgeschäft nimmt stetig zu. In immer schamloserer Weise wird immer größere Scham angemahnt:

»Da dieser Tage Feindbilder am laufenden Band produziert werden – Populisten, Rassisten, Sexisten; Klimakiller, Tiertöter, Fleischfresser; Kreuzfahrttouristen, Superreiche, Konsumkapitalisten – sickert durch die Hintertür der kostenfreien Moralisierung etwas sehr Gefährliches in den Humus der Republik und vergiftet peu à peu ihr soziales Klima: eine puritanische Moral der Askese, die über Verbot und Verzicht zu gefälligem Verhalten erziehen will. Wer sich falsch verhält, wird als schuldig an den Pranger gestellt. Wer seinen Lebensstil nicht ändert – jetzt, sofort und absolut – soll sich schämen. Flugscham. Fleisch-Scham. Konsum-Scham. Klassenscham. Elitenscham. Alter-weißer-Mann-Scham.… […] [Impf-Verweigerer-Scham] Das hat autoritative, fast autoritäre Züge. Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnten letztlich Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. So würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden. Nicht die Demokratie als solche ist in Gefahr, sondern die liberale Demokratie: die auf Aushandlung, Ambivalenz, Eigenverantwortung, Pluralität und Prozess basierende beste und auch anspruchsvollste Gesellschaftsordnung, die es gibt.« 20

Schaut man sich die Schuldeingeständnisse von Kindern an, lassen sich zwei Aspekte erkennen: Die Schuld wird irgendwie zugegeben, dann sogleich wieder abgeleitet auf den »noch schlimmer« Schuldigen. Anders gesagt, die wirkliche Schuld haben immer die Anderen. In der Debatte meint die Aussage, »man ist auf mannigfaltige Weise schuldig geworden« in Wirklichkeit, »Mann ist auf mannigfaltige Weise schuldig geworden …« In den zeitgenössischen Schuldnarrativen sind es genau genommen ja nur die »alten weißen Männer«, die das Elend in die Welt getragen haben. Gender und PC-Codes insinuieren: Wenn die Gesellschaft femininer würde, steuerten wir auf paradiesische Zustände zu. Beziehungsweise: Im Matriarchat hätten sich die derzeitigen Probleme gar nicht erst entwickelt. Schließlich hat die Wissenschaft, vertreten durch Prof. Christian Pfeiffer, zweifelsfrei festgestellt:

»Die Dominanz der Männer ist eine Hauptquelle all der Probleme, die uns Angst machen: Überbevölkerung, Terrorismus, Umweltverschmutzung, Klimakatastrophe.« 21

Vom Verlust der Freiheit

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