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1.3.3 Rat suchen für Situationen, die noch nicht waren
ОглавлениеBlicken wir auf die Beschreibungen der Herausforderungen, die die Zukunft für Unternehmen bergen, so dominieren Begriffe wie schnellerer Wandel, harte Brüche, Widersprüchlichkeit, Kontrollverluste, kurz: Zunahme von Kontingenz und Komplexität. Und in den Beschreibungen ist die immer gleiche Botschaft versteckt: So wie ihr es jetzt tut, werdet ihr die Zukunft nicht gewinnen – das Alte wird euch nicht lehren können, was heute und morgen zu tun sein wird. Eine Aussage, die in den Unternehmen ignoriert wird. Was mir heute in allen Entscheider*innenkreisen entgegenschallt, ist die Rede von Lernkurven, die man fährt, die Rede von den ‚lessons learned‘ und damit von den Fehlern, die man beim nächsten Mal vermeiden wird. Aber was, wenn das nächste Mal wieder ganz anders wird und die gelernte Lektion nun gerade der neue Fehler ist? Unternehmen tun so, als hätten sie Kontingenz und Komplexität im Griff. Wobei ich bei der Intensität, in der diese Reden heute auf Mitarbeiter*innen niederprasseln, nicht umhin kann zu vermuten, dass die Intensität der Aussagen primär der Selbstversicherung dient, die Welt doch noch im Griff zu haben. Auch hier ist es natürlich so, dass man für viele Bereiche seine Lektionen gelernt haben kann und dass sich Fehler vermeiden lassen, wo Situationen gleich bleiben – und davon gibt es genug. Aber die neue Herausforderung von steigender Komplexität und von Kontingenz, die Feind*innen der Berechenbarkeit, kann man mit diesen Mustern nicht bewältigen. Unternehmen geraten in die Denkfalle, dass im Rückblick jeweils alles erklärbar ist, dass dar aus aber nicht zu schließen ist, dass es auch vorausschauend eindeutig bestimmbar gewesen wäre. Erst im Rückblick bildet sich Sinn aus den vielen Bruchstücken des Geschehens. Nach vorne blicken heißt aber, sich Neuem und Unerwartetem, sich dem noch nicht Kontrollierten und noch nicht Beherrschten zu stellen. Hier wird eine neue Fähigkeit der Organisation gefragt, nicht Rat aus den alten Erfahrungen zu destillieren, sondern Rat für Situationen, die es so noch nicht gab, zu erfinden.
Eine moderne Organisation stellt sich die Frage, wie sie die Alternative zu sich selbst inmitten ihrer eigenen Mauern auf bauen kann. Sie sorgt dafür, dass sich in ihr Alternativen zu ihr bilden, nicht, um sie zu übernehmen, aber um stets ein Wissen um andere Möglichkeiten zu haben. Und dazu kann sie auf die Formen, die Gesellschaften schon immer genutzt haben, zurückgreifen – auf die Narren*Närrinnen und Trickster*innen und die klassischen Formen von Kultur und Spiel.
Es geht um die Erfindung von Differenz, die Ermöglichung von Andersheit, um Orte von ‚divergent thinking‘, damit in dem Augenblick, indem eine neue Antwort vom Markt, von den Mitarbeiter*innen oder dem gesellschaftlichen Kontext verlangt wird, anders gedacht und Anderes erhandelt werden kann. Neues geht aber nur dort, wo die Potenz zu Neuem da ist. Und die lässt sich schaffen, immer da, wo ein Unternehmen in sich schon anderes zum Ausdruck kommen lässt. Nur solche Organisationen haben, wenn es darauf ankommt, die Möglichkeiten, aus sich Rat zu schöpfen für Lagen, zu denen es noch keinen Rat gibt. Nur diese Organisationen können erste Schritte gehen.