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3.3 Organisation erzählen
ОглавлениеNoch einmal möchte ich Hartmut von Hentig‘s Beobachtungen zur Kreativität nutzen, um auf die Schwierigkeit aufmerksam zu machen, ‚divergent thinking‘ in den Organisationen, so wie wir sie uns jetzt erzählen, zu ermöglichen.
„Ich war vor drei Jahren Gast einer Privatuniversität in Japan, um dort über Kreativitätsförderung in der Schule und der Wissenschaft zu reden. Das Gebäude, in dem wir im 17. Stock tagten, lag neben dem neuen Rathaus, das sich weitere 50 Stockwerke über uns erhob. In ihm, selbst eine Stadt mit zigtausend Einwohner, war die gesamte öffentliche Verwaltung der gedrängten 13 Millionen Stadt untergebracht. Der Weg vom Flughafen zum Tagungsort betrug sechs Stunden mit dem Auto – in einer oben offenen Betonröhre oder zwei Stunden in einer völlig überfüllten U-Bahn. ‚Divergent Thinking‘ wäre auf beiden Wegen tödlich.
Ich habe damals versucht, mir kreative Beamt, kreative Verkehrsteilnehmer vorzustellen – und kreative Student, die die Marathontagung mit uns durchsaßen. Nein, dies war eine auf Disziplin, Fleiß, Berechenbarkeit, intelligente Organisation gegründete Welt. Hier wollte man nicht Kreativität, man wollte Produktivität, Ordnung, ein wenig Wohlbefinden und weiterhin vorne liegen, denn nur dies scheint jenes zu sichern. Creativity war ein Schmuckwort, ein Luxus – entweder ein unpassender Begriff oder eine lässliche Heuchelei.“
Viele Organisationen sind in einem protestantischen Arbeitsethos gefangen – alles, was nach Lässlichkeit, Brachliegen, Wechselhaftigkeit, Sinn im Unsinn, überraschenden Wendungen riecht, setzt sich dem Verdacht des Unernstes und letztlich wie der der Verschwendung von Ressourcen aus, die die gemeinsame Organisation zur Erlangung ihres Heils (das heute wohl Ertrag und Markterfolg heißt) so dringend braucht. Wenn sie zu internen Entwicklungskonzepten greifen, dann wählen sie die amerikanisch dominierten (und damit ebenfalls protestantisch geprägten) Verbesserungskonzepte. In ihnen gibt es stets nur das Ziel: Schlankheit, Schnelligkeit und Effizienz durch Verzicht und noch angestrengtere Konzentration auf das eigentliche Ziel: Ertrag. Funktionalität und der Abbau von allem, was nicht unmittelbar dem Ziel dient, sind die Leitideen der Veränderungen. In diesem Denken ist für Kreativität, für Bildung um ihrer selbst willen und ist für Spiel wenig Raum – es sei denn jemand könne beweisen, dass es schneller und schlanker zum eigentlichen Ziel führt. Genau dieser Beweisgang lässt sich aber nicht führen, denn ‚divergent thinking‘ ist ein Experiment mit Möglichkeiten und nicht die stringente Fortsetzung der Notwendigkeiten. In dieser Logik tendieren Unternehmen zur Magersucht und wie Magersüchtige zeigen sie auch das sthenische Verhalten, die Ausdauer, die Fähigkeit zu Triebverzicht, die Konzentration aller Kräfte auf das eine Ziel, das bei den einen Magerkeit und bei den Anderen Ertrag heißt. Wobei auch in den Unternehmen ‚Schlankheit‘ zum Selbstzweck zu werden droht.
Diesem Denken liegt ein Muster zugrunde: es glaubt die Welt technisch im Griff zu haben. Und sollte sie sich einmal als unberechenbar erweisen, dann gab es einen methodischen Fehler, der sich beim nächsten Mal vermeiden lässt. Dann wird man neuerlich den Beweis führen, dass die Welt berechenbar und beherrschbar ist. Dies ist ein in der Geschichte und auch gerade in der Geschichte der Unternehmen sehr erfolgreiches Denkmodell. Es bietet zugleich die Sicherheit, die man einander mit immer neuen Erfolgen in der Beherrschung des Ungeregelten, des noch widerständig Eigenen bestätigt: das mögliche Chaos, die Kontingenz und ihre Schrecknisse ausgeschlossen zu haben. Mag auch außerhalb des Unternehmens das Unberechenbare immer wieder einbrechen, sei es in der Familie, sei es bei einem selbst als plötzliche, jede Planung umwerfende Krankheit, im Unternehmen herrscht Berechenbarkeit. Und so ist die Organisation oft der Hort von Sicherheit, der das drohende Chaos der äußeren Wirklichkeit ausschließt. Und vielleicht reagieren Mitarbeiter*innen auch deshalb so verstört auf große Veränderungen, weil sie sie als den Verlust dieses Hortes der Sicherheit verstehen. Und vielleicht lassen sie sich auch deshalb so leicht beruhigen, wenn man ihnen zeigt, dass hinter dem Veränderungsprozess eine alle Gefahren bedenkende und letztlich alle Kontingenz ausschließende Logik steckt.
So erfolgreich und nützlich dieses Denkmodell auch ist, es gerät schon dann an seine Grenzen, wenn Unternehmen aus dieser Logik heraus sich selbst als soziale Einheit führen wollen. Es ist eine neue Erfahrung, die die Unternehmen machen – die Menschen, die Gruppen, die vielen differenten Einheiten in der großen Gruppe Unternehmen lassen sich nicht mehr berechenbar führen – die Suche nach immer neuen, noch besseren Methoden und Instrumenten der Führung führt zu keinem Ergebnis. Was Unternehmen unterschätzt haben, war die Leistung der Gesellschaft, die ihnen passend zurechterzogenen Mitarbeiter*innen zur Verfügung stellte, die sich bruchlos in die innere Denk- und Verhaltenslogik der Organisation einpassten. Diese Leistung erfüllt die Gesellschaft heute nur noch zum Teil. In den Unternehmen kommen Menschen mit unterschiedlichster Prägung, mit einer Fülle differenter Sinn- und Lebenskonzepte zusammen, die für die Arbeitslogik des Unternehmens erst gewonnen werden müssen. Um diese Entwicklung wahrnehmen zu können, muss man nur auf die hochqualifizierten, jungen Spezialist*innen gucken, die sich nur lose mit dem Unternehmen verbinden und die sich mit einer vagabundierenden Loyalität, einem Unternehmen so schnell anschließen wie sie es auch wieder verlassen. So wird heute in den Unternehmen spürbar, dass das Modell ‚Rechenbarkeit‘ von allem und jedem nicht mehr trägt – die Suche nach anderen Formen der Führung und nach anderen Bildern für das Selbstverständnis beginnt.
Ermutigend ist, dass mit der Wahrnehmung dieses Problems zugleich sichtbar wurde, dass eine andere Art von ‚Führung‘ nötig sein wird, um die soziale Einheit ‚Unternehmen‘ zusammenzuhalten und an Gemeinsamkeit auszurichten. Hier ist dann von Ausstrahlung, von Charisma, Persönlichkeit die Rede, verlangt wird Eigenständigkeit, Konfliktbereitschaft und Gelassenheit und schließlich stellt man fest, dass nur eine reife, krisenfeste Persönlichkeit diese Aufgabe erfüllen kann. Viel verlangt und für die meisten Führungsaufgaben etwas zu viel verlangt. Und doch in all diesen Beschreibungen steckt das Bewusstsein, nur mit gebildeten, in sich gefestigten Persönlichkeiten wird sich ‚Führung‘, die die unterschiedlichsten Menschen in differenten Umfeldern zusammenhalten soll, verwirklichen lassen. Die Forderung ist billig – noch scheinen Unternehmen darauf zu warten, dass ihnen solche Menschen zufallen. Aber sie werden ihnen nur zufallen, wenn sie die Möglichkeit für das Eintreffen solcher Zufälle erhöhen und das verlangt neben einem Umbau ihrer Bildungssysteme ein neues Verständnis ihrer Organisation, eines, dass neben Berechenbarkeit auch Platz bietet für die Erfahrung und die Auseinandersetzung mit dem nicht Berechenbaren, mit Zukunft, mit Chancen und Risiken. Sie müssen, um Kontingenz zukünftig bewältigen zu können, die Erfahrung von Kontingenz in sich schaffen. Die Voraussetzung hierfür schaffen sie, wenn sie den Grad der Selbstreflexion in einem Unternehmen erhöhen.
Es gibt Ansätze dazu – und wer je an einer der großen Veranstaltungen teilgenommen hat, im denen Menschen sich mit der Art und Weise ihrer Organisation beschäftigt haben und dabei gespürt hat, welche Kraft und welcher Ideenreichtum in den Unternehmen steckt, die*der weiß auch, welche Chancen für die Zukunft darin liegen. Die Angst, die bei vielen aufbricht, wenn diese Vielheit zu Wort kommt, entspricht dem noch vorherrschenden Bild der Berechenbarkeit – bei so viel Möglichkeiten, so viel Kraft entstehen Zweifel daran, dies alles noch zu strukturieren und in gerechnete Bahnen zu lenken. Gelenkt wird ein solcher Prozess aber nicht durch die Methoden, sondern durch die selbstreflektierende Auseinandersetzung selbst und schließlich durch die orientierende Kraft einer bewussten, angstfreieren, gelasseneren Führung.
Auch hier gilt, so wie die Unternehmen eine lange Zeit benötigten, um die Logik der Berechenbarkeit zu perfektionieren, so wird auch der Weg, selbstreflexive und damit nicht technische sondern kunstnahe Formen der Führung und Entscheidung zu entwickeln, lang sein. Damit er entstehen kann braucht er die rücksichts- und verständnisvolle Unterstützung der ‚Rechner*innen‘, die gespürt haben, dass Berechenbarkeit ihre Grenzen hat. Wie wäre es, wenn wir es einmal mit einer barocken Organisation versuchten und sie der an der technischen Moderne orientierten Kargheit entgegenstellten?
Es sind aber nicht nur organisationsinterne Gründe, die Zweifel aufkommen lassen, mit dem Modell ‚Ameise‘ oder ‚Rechnen‘ allein die Kontingenz und Komplexität der ins beschleunigte Wandeln geratenen Welt bewältigen zu können. Zugleich wird sichtbar, dass es für die Zukunft nicht reicht ‚noch schlanker‘ zu werden. Kreativität, Spiel und Offenheit für das Unerwartete sind eben kein Zierrat mehr, sondern werden zunehmend als Bedingung dafür gesehen, die Zukunft tatsächlich gestalten zu können. Mit dem Wissen um die Notwendigkeit des Anderen kommt die Organisation mit sich selbst in einen Konflikt – das Andere passt nicht in die vorherrschende Logik ihres Denkens. Mitarbeiter*innen hören Worte, die sie in den Taten nicht erfüllt sehen. Gerne wird dieser Widerspruch einzelnen Führungskräften zugeschrieben, tatsächlich ist er aber in der Dynamik der sich verändernden Organisation selbst begründet. Die Integration neuer Denkbilder, neuer Geschichten über sich selbst und neuer Steuerungsmodelle geschieht nur in der widerspruchs- und konfliktreichen Auseinandersetzung mit dem alten Modell, das es in den Unternehmen zudem für weite Bereiche der Arbeitsgestaltung zu erhalten gilt. So wissen wir, dass dieser Konflikt nie aufhört, so wie in unserer Gesellschaft die Frage nach dem Wert der Kunst und nach dem, was sie uns Wert sein sollte, nie aufhört. Die selbstreflexive Steuerung beginnt immer damit, dass das Ganze des Unternehmens, sei es als Konzern, als Bereich, als Einheit, als Werk etc. in die Mitte gelegt wird und Mitarbeiter*innen beginnen können, sich zu diesem Ganzen in Beziehung zu setzen. So wie in Athen Athen selbst Gegenstand des Gespräches auf dem Marktplatz war, muss ein Unternehmen sich selbst zum Gegenstand machen können, erst dann kann es in sich die Differenzen und Möglichkeiten entwickeln, die es fähig macht, Kontingenz auszuhalten und sie dann mit neuen, unerwarteten Geschichten zu reduzieren. Dazu braucht es gestaltete Marktplätze, braucht es Orte der Auseinandersetzung und den Mut, sich den dort aufbrechenden Differenzen zu stellen. Dann mag ein Unternehmen auch beginnen, Zukunft außerhalb der Bahnen der Notwendigkeit ihrer alten Geschichten zu gestalten. Wer Zukunft gewinnen will, muss erste Schritte gehen.