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2.1 Über Kontingenz und Notwendigkeit
ОглавлениеWer so denkt, wie dies oben beschrieben wurde, folgt einem Denkweg, der von Hans Blumenberg beschritten wurde. Wir nehmen die Überlegungen Blumenbergs als Steinbruch, um zu verstehen, warum Methoden der Kultur, warum Formen der Bildung uns in der Arbeit helfen, Kulturveränderungen und Organisationsentwicklungen möglich zu machen.
Es ist selbst eine Geschichte, mit der sich der Ausgangspunkt von Blumenbergs Denken beschreiben lässt. Der Mensch, schutzlos, als Mängelwesen beschrieben, verlässt die Sicherheit der Bäume und tritt in die Savanne hinaus. Aufrecht, sehend, hörend und fühlend ist er der Vielheit, der Ungeordnetheit, der Willkür der Natur ausgesetzt. Nichts steht schützend zwischen ihm und dem Absolutismus der Wirklichkeit. Die erste Grunderfahrung ist die Überwältigung durch die Wirklichkeit, die grund-, wert- und zwecklos auf ihn einströmt und der er nichts entgegensetzen kann. Sie, die unvertraut, unheimlich, gleich gültig und willkürlich ist, überwältigt ihn. Und in dieser Lage kommt nun alles darauf an, dieser Willkür, dem Absolutismus der Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen, was diese erste Erfahrung kompensiert, was uns in Distanz zur Wirklichkeit bringt und uns die Chance eröffnet, Ordnung und Beherrschbarkeit zu erfahren.
Es sind die Mythen, erste Unterscheidungen in Raum und Zeit, erste Geschichten von Begründung und Notwendigkeiten, die die Distanz zur Welt schaffen und ihr etwas entgegenstellen – die den Absolutismus der Wirklichkeit brechen und ihm die Wirklichkeit von Geschichten und von Metaphern entgegen stellen. Als Mängelwesen bleibt der Mensch und bleiben Gesellschaften auf Strategien der Lebensbewältigung angewiesen. Kultur, unsere Metaphern, die Geschichten, die wir uns von uns, von Gott und der Welt erzählen sind solche Strategien. Und indem wir sie erzählen, schaffen wir eine neue Wirklichkeit, die uns bindet, die uns in eine Geschichte unserer Geschichten einbindet. Wir erfinden nicht täglich neu, sondern wir sind, wenn wir zu erzählen beginnen, immer schon in Geschichten verstrickt. Wir können sie weitererzählen und mit dem weiter erzählen können wir sie prägnanter werden lassen, so dass sie ihre Funktion besser zu erfüllen vermögen und wir können sie bis zu einem Punkt treiben, in dem sie neue Fragen aufwerfen, die die alte Antwort obsolet werden lassen und uns zwingen, eine neue Geschichte zu erzählen. In diesem Prozess liegen Möglichkeiten. Aber die Bilder, die Mythen, die Metaphern und Geschichten haben wir niemals hinter uns. Odo Marquard formulierte es so: „Wir sind und bleiben metaphernpflichtig“. Die Geschichte lässt sich in Varianten erzählen. So in einer ontogenetischen Variante, in der der Augenblick der Geburt, die noch wache Erinnerung an die Geborgenheit im Leib der Mutter und der Schock des Eintritts in die kalte und laute Welt im Vordergrund steht. Günter Schulte beschreibt den Ausgangspunkt für ein individuelles Leben in Anschluss an Gedanken Gerald Hüthers: „Wenn wir auf die Welt kommen, so kennen wir das Glück bereits. Wir wissen zumindest sehr genau, was Geborgenheit ist. Schreiend sucht der Säugling, etwas davon wiederzufinden: Wärme, Abgeschirmtheit, sichere Versorgung, schwereloses Schaukeln.“ Und so beginnt er gegen und mit der Erfahrung der Wirklichkeit, Geschichten, Bilder und Riten zu entwickeln, die über den Verlust des Glücks hinwegtrösten. Kultur als Kompensation des verlorenen Paradieses, getrieben von der Angst vor dem Terror der Welt und der Erinnerung an das verlorene Glück.
„Alles was er von dort bereits kennt, den Herzschlag der Mutter oder eine immer wieder gehörte Melodie, selbst Gerüche, die er nun wiedererkennt, hilft ihm, die Angst zu unterdrücken, die er in seiner völlig neuen Welt erlebt. Er strebt immer wieder dorthin zurück, und indem er das tut, macht er eine neue Erfahrung nach der anderen. Zu diesen Erfahrungen zählen all die kleinen Erfolge, die seine Stressreaktion kontrollierbar machen. Dabei werden diejenigen Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt, die er bei seiner Suche nach dem verloren gegangenen Glück immer wieder benutzt.“ Gerald Hüther
Und Blumenberg selbst erzählt eine Variante, in der die Institutionen und ihr Schutz gegen den Terror der Welt Helden der Geschichte sind. In der Unsicherheit und Tödlichkeit der Außenwelt brauchen Menschen Höhlen, suchen sie Schutz in Höhlen, die in späteren Zeiten zu Institutionen und Organisationen werden. In den Höhlen und ihren Nachfolgeformen entwickeln sie Innerlichkeit und Reflexion. Sie beginnen Geschichten zu erzählen, Kultur zu entwickeln und die Höhle immer mehr auszubauen, bis sie selbst zu einer großen Geschichte wird. Und aus der Sicherheit der Geschichten blicken sie hinaus in die nun gebannte Wirklichkeit, finden Höhlenausgänge und finden aus den Geschichten und der immer wie der in die Geschichten einbrechenden Wirklichkeit neue Fragen.
Die Geschichten selbst sind nicht ohne Bindung – ich kann sie nicht einfach wechseln. Die Geschichten, die wir erzählen, sind wir selbst und wir erzählen sie mit Notwendigkeit. Mit ihnen ringen wir der Wirklichkeit, die voller Möglichkeiten, voller Varianten ist, Notwendigkeit und damit Berechenbarkeit, da mit Sicherheit ab. Und so leben und arbeiten wir in Geschichten – oft ohne sie zu kennen – und die Geschichten sind die Grenzen unserer Wirklichkeitserfahrung.
Manchmal bricht aus den Geschichten selbst Kontingenz her vor, manchmal bricht die Wirklichkeit in ihrer Kontingenz mit die*den Boten*in von Krankheit, Unglück und Tod in unsere Geschichten ein. Kontingenz ist eine unserer grundlegenden Erfahrungen in der Begegnung mit der Wirklichkeit, die voller Möglichkeiten steckt, aber keine in sich schlüssige, einheitliche Erfahrung ermöglicht. Manchmal, wenn wir unserer Geschichten bewusst werden, sie durchdenken und entwickeln, beginnen sie mehr Fragen aufzuwerfen, als sie Antworten bieten. Dann entsteht die Notwenigkeit, Geschichten neu zu erzählen oder neue Geschichten zu erfinden, um die in den Fragen aufbrechende Kontingenz zu bannen. Und manchmal können unsere alten Geschichten den Einbruch der Wirklichkeit in unser Leben, sei es durch individuelles Unglück, sei es durch kollektive Katastrophen, nicht bannen. Dann brauchen wir andere Versionen oder andere Geschichten, um auch diesem Einbruch von Willkür, Unberechenbarkeit und Zufälligkeit Sinn abgewinnen zu können.
Wir stehen immer schon, seit unserem ersten Schritt, in einem Verhältnis von Kontingenz und Notwendigkeit – der Erfahrung von willkürlicher Zufälligkeit und der Berechenbarkeit, Sicherheit und Notwendigkeit suggerierenden Kraft unserer Geschichten. Kontingenz bezeichnet das Verhältnis zur Welt, weil „die gegebene Welt nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum des Möglichen ist“ (Hans Blumenberg) und zugleich bezieht sich der Begriff auf die Erfahrung von Notwendigkeit, weil das Bewusstsein des Zufälligen den Menschen dazu zwingt, Möglichkeiten zu realisieren, sie zu einer konsistenten, sich aus Notwendigkeit rechtfertigenden Kulturwelt zu verdichten. Notwendigkeit entsteht aus der Erfahrung von Kontingenz, der der Mensch seine schlüssige Version, seine Ordnung der Vielheit entgegensetzt, so dass sie die Fähigkeit hat, das Viele und das Offene in einer sinnvollen Geschichte zusammenzufassen.
Die Entwicklung von Geschichten kann nur geschehen, wenn immer zugleich das Bewusstsein von Kontingenz wach bleibt und stets neu in Varianten, Entwicklungen der Geschichten zu Notwendigkeit gebannt wird. In diesem Prozess werden Möglichkeiten für neue Fragen und neue Geschichten geboren.
Diese Überlegungen scheinen für Fragen der Unternehmenskultur weit hergeholt zu sein. Aber auch die Unternehmen sind Teil der großen und komplexen Geschichten, die wir uns erzählen und sie wiederholen in ihren Höhlen auch nur die Geschichten, die sie in unserer Kulturwelt gehört haben. Sie leben in den Grenzen der gelernten Geschichten. So gilt für unsere Arbeit auch, nur wenn es uns gelingt mit den Unternehmen und ihren Führungskräften an die Grenze der gelernten Wirklichkeit zu gehen, Kontingenzerfahrung in der Sicherheit der Höhle möglich zu machen und so die Voraussetzung zum Erzählen neuer Varianten oder neuer Geschichten zu schaffen, werden Möglichkeiten sichtbar werden. Erst dann beginnt die Entwicklung der Organisation zu neuen Notwendigkeiten.
Wenn wir für diesen Weg Bildungsarbeit und Kulturereignisse nutzen wollen, so wird klar, dass es nicht um eine Kulissenkultur gehen kann, sondern dass wir eine Kultur meinen, die von den Menschen in der Organisation, von ihren Ängsten, Hoffnungen und Wünschen durchdrungen ist. Dann ist es auch angemessen von einer Unternehmenskultur zu sprechen, die mehr bezeichnet als den Umgang der Menschen miteinander.