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1.3.2 Bildung, um Möglichkeiten zu schaffen
Оглавление„Spiel ist Spiel, wenn es sich selbst gehört und nicht dem Einüben in problemlösendes Verhalten dient oder der Erzeugung von Interaktionsbereitschaft oder der Entfaltung und Lockerung der Phantasie.“ – Hartmut von Hentig
Räume, in denen Spiel möglich wird, sind selten in Unternehmen. Es ist das Fehlen der Zweck-Mittelrelation, das Spielen in Unternehmen verdächtig macht. Im Leistungsbild der Organisationen ist Spiel Ressourcenverschwendung. Dasselbe gilt für Bildung, sofern sie nicht in ihrer Kümmerform als Führungs und Mitarbeiter*innenbildung gemeint wird. Wie möchte man einer*einem Entscheider*in klar machen, dass die Auseinandersetzung mit den bildenden Künsten, mit Literatur, mit Philosophie, mit Musik Sinn macht, obwohl man nicht aufzeigen kann, welchen ertragsrelevanten Zweck man damit verfolgt?
In den Künsten beziehen sich Menschen, bezieht sich die Gesellschaft auf sich selbst. Frei vom Zwang direkt für das Überleben, für den Erhalt und die Erweiterung handeln zu müssen, schafft Kunst inmitten des umtriebigen Handelns oder des ruhenden Kraftschöpfens für anderes Handeln Räume. Räume, in denen die Gesellschaft und die Menschen den Grenzen, den Möglichkeiten, den Denk- und Fühlverboten, den versteckten Voraussetzungen und der eigenen bedrohten Lage gegenüber einem kontingenten Zeithorizont begegnen können. Zum einen mag diese Begegnung entlastend sein und stellvertretend die eigene Unsicherheit oder trügerische Sicherheit ausdrücken und in einem Sinnzusammenhang aufheben. Doch darüber hinaus setzt sie in die Umtriebigkeit und Selbstbeschäftigung der Gesellschaft immer wieder die Differenz, dass es zu dem, was jetzt ist, ein anderes gibt. Das mag sie kritisch tun, das mag sie die Sinne umschmeichelnd tun, immer aber wird in ihr spür bar, dass es noch anderes gibt, dass das, was uns heute beschäftigt, nicht das Einzige sein kann. Unter dem Aspekt der Funktionalität mag sie darin einen Zweck für die Gesellschaft, für die Menschen erfüllen, sei es, sie zu entlasten und sie damit lebens- oder arbeitsfähig zu halten oder sei es, indem sie der Gesellschaft die Differenzen zur Verfügung stellt, aus der sie dann Zukunft entwickeln kann. So mag Kultur und Kunst zwar Zwecke erfüllen, könnte dies aber nicht tun, wenn sie genau diese Zwecke anstrebte. Sie kann nur wirken, wenn sie sich gegenüber dem Wirkzusammenhang, indem sie schließlich wirken wird, frei gemacht hat. Und so erscheinen uns auch die Menschen in den Künsten oft anarchischer, kritischer, zorniger, melancholischer, freier, lauter, wilder als die Menschen, die in den Organisationen ihre Arbeit machen. Und sie zeichnet fast immer aus, was in den Rädern und Rädchen der großen Organisation verboten ist: ‚divergent thinking‘.
Rätselhaft scheint mir, dass Organisationen eine so erfolgreiche und so beständige Einrichtung wie die Kunst nicht in sich statt finden lassen. So beteiligen sie sich an der Kunst der Gesellschaft als Sponsor*innen, aber sie schaffen keine Kunsträume im Unternehmen. Und damit meinen wir Kunst als integralen Bestandteil der Organisation, nicht als Schmuck, nicht als Imagefaktor für die Märkte. Wir meinen Bühnen, Orte, in denen sich die Organisation mit sich selbst unter den Bedingungen künstlerischer Produktion und künstlerischen Selbstverständnisses auseinandersetzt. Nichts wird damit bewirkt, aber es wird geschaffen, was nötig ist, um Neues, dann auch in den Arbeitszwecken schaffen zu können.
Nun mag das sehr anspruchsvoll klingen und manch einer wird sich skeptisch fragen, ob denn nun jede*r Mitarbeiter*in wird ‚Kunst‘ produzieren müssen. Es ist anspruchsvoll, aber es erhebt nicht die Forderung nach künstlerischem Schaffen an jedem Arbeitsplatz. Es verlangt nur, dass aus dem Unternehmen und in dem Unternehmen Kunst geschehen kann, welche dann auf die Zuschauer*innen, die vielen Mitarbeiter*innen wirken kann.
Betrachten wir die Führungskräfte und ihre Entwicklung, so spüre ich immer öfter, wie fern ihnen Kunst liegt oder wie sehr sie Kunst, die ihnen als private Person vertraut ist, aus ihrer Führungsrolle ausschließen. Mit diesem Ausschluss verstärken sie die auf Zweck-Mittelrelationen fixierte Haltung in den Organisationen. Die Frage ist, ob damit der Organisation etwas verloren geht.
Führung findet derzeit in einem Kontext statt, der, trotz der immer noch vorherrschenden Regel- und Kontrollbetonung, vor allem die Gestaltung oder Ausbalancierung von Widersprüchen und die Bewältigung von Unerwartetem verlangt. Die Regelmechanismen, obwohl alle noch in einem hohen Detaillierungsgrad in Kraft, können nur wenig Hilfe bieten, wenn es um in die Zukunft weisende Entscheidungen geht. Hier wird von den Führenden verlangt, richtige, die Zukunft und die möglichen Probleme voraussehende Entscheidungen zu treffen und sie auch gegen die Kurzsichtigkeit, Mutlosigkeit oder auch nur schlichte Borniertheit des eigenen Umfeldes durchzusetzen und dabei gleichzeitig ein kluges Maß zwischen Risiko und Sicherheit zu wahren. Während regelorientiertes und angepasstes Führungsverhalten vor allem Disziplin, Fleiß und Unterordnung verlangt, benötigt eine chancen- und gestaltungsorientierte Führung andere Persönlichkeitsmerkmale. Es gibt derzeit kaum einen Ort in einem Unternehmen, an dem jemand die hierfür nötigen Lernerfahrungen machen könnte, es sei denn, er trägt sie selbst mit in die Situation hinein. Was macht Mut aus in Situationen, die ich noch nicht kenne? Was macht Gelassenheit aus in Situationen, in denen Probleme die Chancen überwiegen? Was lässt Menschen konzentriert weitergehen, obwohl die Vielzahl der Gefahren sie zu überfordern drohen? Wir haben gelernt, diese komplexen Merkmale einer Person als Führungspersönlichkeit zu bezeichnen, ohne genau zu wissen, wie sie sich denn im Lebensweg dieses Menschen gebildet haben. Wir verlangen von diesen Personen zusätzlich, dass sie sich in den Irrwegen und Ungerechtigkeiten einer Organisation sicher bewegen und dass es ihnen gelingt, unterschiedlichste Menschen, deren Verhaltensspektrum immer vielfältiger wird, zu motivieren, zu fokussieren und so zu fordern, dass sie mehr leisten, als sie selbstwussten, leisten zu können. Sie sollen kontingenzbewusst und flexibel doch Sicherheit vermitteln und ohne selbst borniert zu werden einen Weg weisen, den sie mit derselben Überzeugungskraft auch wieder verlassen können müssen, wenn sich wieder einmal alles ändert und die Zukunft neue Überraschungen birgt.
Verständlich, dass sich viele Führungskräfte auf die Sicherheit der alten Regelorientierung zurückziehen und die Verantwortung gerne in den Schoß des Bürokratismus der Organisation zurücklegen. Die Forderungen überfordern die heutigen Führenden, die allzu oft ohne jede Krise, ohne jeden harten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit im schützenden Rahmen von Schule, Hochschule und Unternehmen groß geworden sind und die begonnen haben, den Aufstieg, den sie ihrer Klugheit und dem stützenden Korsett ihrer Umgebung zu verdanken haben, allein sich selbst, der eigenen Persönlichkeit zuzuschreiben. Dieser Irrtum wird erst in der Krise, im Scheitern aufgelöst – dann spüren sie die Leere der eigenen Person.
Trainings werden dem Mangel an gefüllten Persönlichkeiten nicht abhelfen, was fehlt, ist die Begegnung mit sich selbst, ist die Erfahrung, sich an der Widerständigkeit der Welt zu stoßen und ist die Fähigkeit, sich durch Bezug auf das schon Erlebte in der Kultur der Menschen mit sich und den Anderen auseinanderzusetzen. Da man Menschen keine Krisen verordnen kann und es zynisch wäre, über den Glücksfall des friedlich-geschützten Lebens in unserem Teil der Welt zu klagen, bleibt ein Weg, der seit langem den eigentlichen Sinn des Wortes Bildung aus macht. Es ist der Weg, Führungskräften über Inhalte der Kultur und über die Weisen, Kunst zu schaffen, einen Weg zur Auseinandersetzung mit sich selbst zu ermöglichen.
Will man Führungskräfte bilden und nicht nur auf das Glück warten, dass die Gesellschaft solche Menschen zur Verfügung stellt, dann muss ein Unternehmen seinen Führenden den Weg zur Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit bahnen. Einer der Wege hierzu ist der Bildungsweg – und auch hier gilt, wie für Spiel und Kunst, der Weg muss frei sein von jeder kurzfristig auf Ertrag blickenden Zwecklogik. Nur wenn die Führungskräfte im Unternehmen sich ziel- und zweckfrei auf sich selbst beziehen können und dabei selbstbestimmte Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kultur machen können, werden sie eine Chance haben, das zu werden, was von ihnen verlangt wird: gebildete und damit gelassene Persönlichkeiten.