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1.3.1 Vom Straddle zum Fosbury Flop
ОглавлениеEine große Kompetenz der alten Organisationen liegt in der Perfektion des schon Gewussten und schon Gekonnten. Das mentale Modell, dass man durch die kontinuierliche Verbesserung des Bestehenden gegen alle Gefahren des Marktes gewappnet sein und sich jeder Herausforderung stellen könne, ist tief in der Organisation verankert. Man kann in der Begegnung die Anstrengung spüren, die das Streben nach Perfektionierung des Bestehenden verlangt. Hier wird nicht gespielt, hier wird gearbeitet und jeder kann spüren, wie schwer es ist und welche Opfer es verlangt, immer noch einen Schritt weiterzukommen und immer wieder einen nun noch kleineren Schritt weiterzukommen, um auch dann zu wissen, wir werden wieder einen nun noch kleineren Schritt tun. Es verlangt viel Disziplin, einen großen Fleiß und eine Menge der Fähigkeit mit Frustration umzugehen, um das mentale Modell der ständigen Verbesserung zu leben. Das Modell macht die Spielräume in der Organisation klein – es macht sie klein, weil die Logik des Bestehenden auch den Denkrahmen jeder Entwicklung bestimmt und es macht ihn psychologisch klein, weil konsequentes, diszipliniertes Handeln, das immer kleinere Erfolgserlebnisse hervorbringt und deshalb eine immer größere Anstrengung verlangt, alle Energie auf den nächsten kleinen Schritt bündelt. Der Blick bleibt so immer gesenkt und hebt sich selten, um sich umzublicken und zu sehen, was noch alles in der Welt ist. Und trotz dieser so spürbaren Kosten, gegen die sich von Zeit zu Zeit Unmut regt, wenn ein weiteres Mal der nächste, stets mit Einschränkungen verbundene Schritt verlangt wird, ein Unmut, der sich in der auf diszipliniertes Handeln trainierten Organisation schnell wieder legt, bleiben die Organisationen diesem Modell treu. Doch die Kosten sind hoch – die Fähigkeit zu spielen geht verloren, dabei ist sie die Quelle von Neuheit.
Natürlich hat das Modell der stetigen Verbesserungen große Erfolge – auch deshalb, weil es so gut in das bürokratisch-hierarchische Steuerungsmodell der Unternehmen und in die mit diesem Modell verbundenen Werte der Disziplin, des Fleißes und der Fähigkeit sich unterzuordnen passt. Und zugleich wächst das Wissen, dass mit diesen Modellen allein Zukunft nicht zu gewinnen ist. Wie aber soll eine Organisation das ihren Modellen entgegengesetzte Modell ‚Spiel‘ und zweckfreie ‚Bildung‘, die nichts direkt bewirken, aus denen aber wirkende Möglichkeiten werden können, in sich verwirklichen? Es geht nicht anders, als es zu tun – was heißt, dass sich die Modelle, die Kulturräume im Unternehmen begegnen. Eine Begegnung, die nicht harmonisch sein wird, sondern von Streit, Zweifeln, Abwertungen und Unverständnis gekennzeichnet sein wird und die von allen den Mut verlangt, das Fremde auszuhalten, ohne den ‚Ertrag‘ sehen zu können.
Als Fosbury 1968 in Mexiko City mit dem Rücken zu unterst über die Latte schwebte, da blickten die Kampfrichter*innen ungläubig und bevor das Neue dieses Sprungs, das sensationell überraschend Andere dieser Technik wirken konnte, traten die Richter*innen zunächst zusammen, um zu entscheiden, ob so eine Art des Sprungs eigentlich erlaubt sei. Sie waren so in ihrem Bild der einzig möglichen Sprungtechnik befangen, dass ihre erste Reaktion die Verleugnung des Neuen war. Nie hätten diese Kampfrichter*innen ein so anderes Modell wie den Fosbury Flop erfinden können. In ihrem Kopf war Hochsprung fest verbunden mit einer Rollbewegung über die Latte, in der der Bauch im Augenblick der Überquerung zuunterst sein musste. Der Wechsel im Denken, der überraschende Dreh verlangt Freiheit im Denken, verlangt Abstand vom Bestehenden, verlangt Spiel in und mit dem Gegebenen.
Wann immer Unternehmen spüren, dass sie mit der bloßen Fortsetzung des Bestehenden, wie sehr auch immer sie es perfektionieren mögen, die Grenze zur Neuheit nicht überschreiten werden, müssten sie sich die Frage nach ihrer Kultur stellen und nach Wegen suchen, diese Kultur, wenn nicht zu verändern, so doch zu ergänzen. Ihrem dann ersten Reflex, Führungsformen und Kommunikationsformen verändern zu wollen, liegt ein Quäntchen Wahrheit zugrunde, doch das reicht nicht aus. Kultur verändern heißt mehr als neue Regeln der Führung und Zusammenarbeit einzuführen, die schon ihrem Namen nach die Fortsetzung des bürokratischen Denkmodells beinhalten. Und doch steckt darin ein Wissen, dass eine Organisation erst dann zu spielen beginnen kann, wenn sie ihr anarchisches Potential, das Rückgrat, die Träume, die Freiheit ihrer Mitarbeiter*innen, gegen die Last der Regeln, der Kontrolle und der machtvollen Hierarchie wenden kann. Die Angst der Führenden, die zugleich die Mächtigen der Organisation‘ sind, diesen Weg zu gehen, ist oft übertrieben. Der Blick in unsere Gesellschaft könnte sie lehren, dass der Aufstand der Jugend und ihre gleichzeitige Anpassung sich die Waage halten, so dass Neues im Alten entstehen kann.
Unternehmen aber, die daran festhalten, in ihren eigenen Mauern das gescheiterte Kommunikations- und Medienmodell der kommunistisch-zentralistischen Staaten zu reproduzieren und Jubelmedien schaffen, zeigen in ihrer Angst vor der freien Meinung der Mitarbeiter*innen, dass sie selbst an die Kraft, Zukunftsfähigkeit und Begeisterungskraft ihrer eigenen Visionen nicht glauben.
Will man im Unternehmen die Chancen erhöhen, vom Straddle, dessen Potential ausgeschöpft war, zum Fosbury Flop zu gelangen, dann wird man sich mit der Dominanz der repressiv orientierten bürokratisch-hierarchischen Kultur auseinandersetzen müssen und bereit sein, sich der Freiheit, der Kreativität und der Aggressivität der eigenen Mitarbeiter*innen zu stellen. In den Worten Hartmut von Hentig‘s, Unternehmen müssen in ihrer Kultur stärken: „... was den Menschen gegenüber den Sach- und Systemzwängen stärkt, was ihn von dem lähmenden Gemisch aus Angst und Bequemlichkeit befreit, die sie erzeugen, was in ihm die Lust auf Bewältigung und Bewährung weckt, was seinen Sinn für kluge, praktische Einrichtungen entwickelt, kurz: Was seine Bereitschaft zu Risiko und seine Kraft für das Ungewöhnliche belebt.“ Es sind die Bedingungen für Kreativität, die gegeben sein sollten, wenn eine Organisation die Voraussetzung für das Erleben emergenten Lernens in sich selbst schaffen will. Dabei muss sie wissen, dass sie widersprüchliche Kulturen, widersprüchliche Denkmodelle und widersprüchliche Einstellungen in sich vereinen will und muss verstehen, dass es ihre Aufgabe ist, diese Widersprüchlichkeit zu ermöglichen und auszuhalten. Denn es ist natürlich wahr, mit den Werten und Haltungen von Spiel und Kreativität allein wird kein Unternehmen überleben. ‚Divergent thinking‘ ist nur jenes zusätzliche Moment, das auf Basis der effizient-klugen Organisation Wege zu Möglichkeiten öffnet. Wer Zweifel daran hegt, diese Widersprüche in der Organisation gestalten zu können, der sei auf die größere Organisation Gesellschaft verwiesen, die diesen Widerspruch immer schon aushält und die so reich, so entwicklungsfähig, so integrationsfähig nur ist, weil sie sich inmitten der auf Effektivität getrimmten gesellschaftlichen Steuerungsmodelle Kultur leistet.