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1.2.1 Die Gründer*innenorganisation
ОглавлениеNeue Organisationen, die in der Regel in einem kreativen Akt, getragen von individuellem Willen und einem guten Teil irrational anmutender Hoffnung gegründet werden, beginnen anders. Sie erfinden alles neu – und kommen bald an die Grenzen des Erfindens – fühlen sich von der selbstgeschaffenen Kontingenz der immer neuen Ideen, des immer neuen Anfangs überflutet. Der erste Erfolg, aus sich selbst geschöpft, wird oft zum Maßstab sinnvollen Lernens und dieser Maßstab heißt Erfinden. Er steht im Widerspruch zur Regel, zur Disziplin, etwas durchzuhalten, was vielleicht im Einzelfall nicht optimal ist, für das Ganze jedoch das bessere ist. Die ‚inventive company‘ unterschätzt die Entlastung, die Regeln und Formalien schenken und sie überschätzt die eigene Potenz, es mit noch jeder Kontingenz und Komplexität aufnehmen zu können – sie hängt an der Idee des Helden, der allein mit allem den Kampf aufzunehmen vermag. Es ist ein schwieriger Schritt zu lernen, dass nicht die Gründer*innen die Held*innen sind, sondern die Organisation selbst die Heldin ist. Und die Organisation lebt aus Regeln, aus Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Sie lebt davon, Wissen und Können, das es schon gibt, einfach zu kopieren. Sie weiß von der Endlichkeit und der Unmöglichkeit, alles selbst zu erfinden. Die Organisation ist eine gelassene Heldin, sie geht stetig und langsam ihren Weg. Das Modell der ‚inventive Company‘, in der alle und jeder zu Gründer*innen werden und alle Held*innen sind, scheitert am Wachstum, scheitert daran, sich organisieren zu müssen – scheitert an mangelnder Bürokratie. Und es scheitert letztlich daran, nicht den Schritt zum diszipliniert reproduktiven Lernen zu gehen, der Unterordnung und die Bereitschaft zum wiederholenden Auswendiglernen verlangt. Genau das, was in den großen, alten Organisationen so ausgeprägt ist, dass diese darunter zu leiden beginnen. Gelingt den Gründer*innen aber der Schritt zur Bürokratie, so breitet sich in der Organisation das Gefühl aus, nun genau so langweilig und alt zu sein, wie all die Anderen. Es wird der Verlust von Lebendigkeit, von Neuheit und Freiheit gespürt. Ein großer Verlust, wenn ich mir die Kraft, die Freude und den Witz vergegenwärtige, der in den Anfängen da war und den ich auch aus den alten Organisationen kenne, wenn sie ein Projekt beginnen, dem sie die Freiheit geben, neben ihrer Organisation zu arbeiten.
Betrachtet man die Führungsaufgabe in beiden Organisationen, den alten Konzernen und den jungen Gründer*innenorganisationen, so gilt es für beide, ein Gleichgewicht zwischen emergentem Lernen und reproduzierendem Lernen zu finden. Das bedeutet aber, den tiefen Graben eines mentalen Modells zu über springen, das sich im Widerspruch zwischen der*dem Bürger*in und Arbeiter*in, die*der diszipliniert und moralisch korrekt ihr*sein Leben führt und der*dem Künstler*in, die*der geniehaft unberechenbar und lotterhaft ihr*sein Leben gestaltet, ausdrückt oder noch kürzer: im Widerspruch zwischen Büro und Atelier.