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Ein Vorwort

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Wir befinden uns an einer Schwelle. Hinter uns liegen Jahrzehnte, in denen sich Unternehmen mit kontinuierlicher Effizienzsteigerung und steter Verbesserung der Produkte in den Märkten behaupten konnten. Die eher disruptiv hinzugekommenen neuen Unternehmen, die die technischen Möglichkeiten zur Gestaltung neuer Geschäftsmodelle genutzt haben, sind unter der Notwendigkeit der Skalierung schnell selbst zu den Programmen der Effizienzsteigerung gewechselt. Und nun? Es stellen sich Fragen. Fragen, die die Gesellschaft und damit auch die Mitarbeiter*innen der Unternehmen stellen. Wie können wir auf die schnellen wechselnden Bedürfnisse und Ansprüche der Gesellschaft reagieren? Wie können wir ein attraktiver Lebensplatz für junge Menschen werden? Wie lässt sich Beschleunigung, Komplexität und Kontingenz beherrschbar machen? Wie können wir unser Unternehmen flexibel, adaptionsfähig und innovativer machen?

Gibt es schon Antworten? Es gibt ein reiches Antwortpuzzle, aber noch keine ausgereifte Antwort. Aber es gibt Anregungen, die zu Antworten führen können. Und um Anregungen, kleine Inspirationen geht es in den folgenden Texten.

Unternehmen, Organisationen im Allgemeinen bedienen sich einer rationalen Sprache, sie verstehen sich als Großhirn geleitet. Sie bauen ein mentales Feld auf, in dem Argumente, rationale Denkfiguren beherrschend sein sollen. So werden Gespräche geführt, so werden Entscheidungen vorbereitet, so werden die innere und äußere Welt repräsentiert. Und dies hat sich trotz der vielen eher emotional gerichteten Impulse aus der Organisationsentwicklung nicht geändert. In all den hier vorgelegten Texten geht es darum, wie denn Organisationen sich anderen mentalen Modellen öffnen können, die der Dominanz des rationalen Modells etwas entgegenstellen. Dabei geht es nicht darum, die rationale Methodik der Situationsbewältigung durch andere Modelle zu ersetzen. Es geht um eine Balance. Warum? Weil weder die Menschen in Organisationen, noch die Märkte, noch das gesamte Gebilde der Gemeinschaft Unternehmen ein rationales ist. Es ist zutiefst emotional bestimmt, es nützt synthetische Denkformen, es ist assoziativ und unlogisch.

Wie gewinnt man Zugang zu den Denkformen, Lebensformen, die der Rationalität ergänzend zur Seite gestellt werden können? Die hier versammelten Texte sind Anregungen und Hinweise, auf welchen Wegen dies gelingen kann. Sie folgen keinem Programm. Die Zusammenstellung bündelt Zugänge, orientiert sich an möglichen Pfaden, die, wenn begangen, Chancen bieten den großen Reichtum des emotional geleiteten, assoziativen, narrativen Denkens für die Unternehmen und die Menschen in Unternehmen in die Diskurswelt der Unternehmen zu integrieren.

In einer einfachen Metapher gesprochen: Es geht darum, zu erfahren, wie Großhirn lernt mit dem limbischen System zu sprechen, also um eine intrahirnliche Gesprächskultur.

Es gibt ein einfaches Beispiel für einen solchen Dialog aus der Methodik der Entscheidungsfindung, wenn die Notwendigkeit besteht, einen Aspekt von zwei Möglichkeiten zu wählen. Der bekannte Münzwurf: Je eine Seite der Münze repräsentiert einen Teil des Dilemmas, die Münze wird in die Luft geworfen und die Entscheidung ist gefallen. Die Seite, die nach oben offen liegt, steht für den Aspekt, der nun entschieden ist. Doch das ist nur der äußere Ablauf – in einem intrahirnlichen Dialog reagiert das limbische System auf den Zufall – es gibt eine spontane emotionale Reaktion und es ist diese Antwort des limbischen Systems, die entscheidet – entweder eine ruhige akzeptierende Emotion oder aber eine deutlichere ablehnendere, Unmut ausdrückende Emotion. In ihr wird die eigentliche Entscheidung über das Dilemma getroffen. Das limbische System hat gesprochen, was je nach Kulturkreis dem Herzen oder dem Bauch zugeschrieben wird. Nun sind die meisten Situationen, in denen es zu entscheiden gilt, keine Dilemmata, sondern bestehen aus komplexen Gemengelagen.

Und daher geht es darum, eine Gesprächskultur zu entwickeln, in der Bauch und Herz einen Platz haben. Wenn man danach sucht, wo dies in vielfältiger Weise immer schon geschieht, dann stößt man unmittelbar auf das Feld der Kunst, deren Manifestationen sich als einen gelungenen Dialog zwischen Herz, Kopf, Bauch und Hand verstehen lassen. Und so stehen in einem Teil der vorliegenden Sammlung Reflexionen über das Verhältnis von Kunst und Unternehmen, Kunst und Bildung im Vordergrund. Sie lassen sich als Impulse für eine ästhetische Organisationsentwicklung verstehen. Manches greift dabei auf die Haltung der Romantik zurück, die mit der Metapher des Schwebens zwischen Verstand und Vernunft arbeitete und die wir in der Pädagogik gerne als Herzensbildung beschreiben.

Einen zweiten Zugang haben wir über die vielfältigen Überlegungen der Familienforschung und der Gruppendynamik gefunden – Unternehmen sind ein Beziehungsfeld und Beziehungen sind nicht rational. Für eine Zeit binden sich Menschen an ein Unternehmen, an eine Gemeinschaft, die in dem Unternehmen zusammengefunden hat. Darin gibt es rationale Motive, die sich als materielle Notwendigkeiten fassen lassen. Doch das ist nicht alles. So wie man eine Ehe als die passende Verbindung ergänzender materieller Güter zu beschreiben vermag, eine Liebe lässt sich so nicht beschreiben und so auch nicht die lang anhaltende Loyalität und Leistungsbereitschaft von Mitarbeiter*innen. Daher gibt uns das emotionale Feld der Gemeinschaft Unternehmen vielerlei Hinweise, wie sich der Horizont des Handelns innerhalb eines Unternehmens erweitern und wie sich emotionale Reife der Akteurinnen*Akteure entwickeln lässt. Die derzeitige Konjunktur des ursprünglich kunstgeschichtlichen Begriffs ‚Empathie‘ zeigt, wie sehr gespürt wird, dass wir ohne die Kompetenz zur Gegenseitigkeit im Handeln, die hohe Kunst der Kooperation nicht lernen werden. Wir sind wir selbst in unserem Besten nur in und mit den Anderen. In all diesen Fragen ist es wohl das Schwierigste Zweckfreiheit in einem durch und durch Zweck- Mitteldominiertem System zu denken und ins Handeln zu integrieren. Das tiefe Bedürfnis mit anderen und für andere zu handeln gibt hier Grund zu Optimismus. Die so herausfordernde Situation der Diversität in unserer globalen und individualistisch orientierten Arbeitswelt gibt uns die Chance, die eigenen Bedürfnisse und Begehren zu verstehen, sie im szenischen Kontext mit anderen zu relativieren und so Wege zu einer Kooperation zu finden, in der Gegenseitigkeit zugleich auch individuellen Gewinn bedeutet.

Ein letzter zentraler Aspekt, um den viele Texte kreisen ist ein genuin politischer, der heute auch in der Organisationsentwicklung mit der Beschreibung demokratisch gefasst wird. ‚Wer darf sprechen, wer wird gehört?’. Gerne wird die Diskussion auf das Problem der Legitimation von Autorität und Macht fokussiert – aber in den Überlegungen des englischen Utilitarismus steht die Qualität von Entscheidungen durch eine Mehrheit ebenfalls im Vordergrund. So haben wir mit dem Begriff der Durchwegung Modelle entwickelt, die sich damit beschäftigen, wie die Weisheit des Gesamtsystems Unternehmen in Entscheidungs- und Diskursprozesse Eingang finden kann. Dabei geht es uns nicht um die kontinuierlichen Befragungen, die Stimmungsbilder erzeugen sollen, sondern um die Organisation wirklicher Dialoge, in denen Perspektiven sichtbar werden und in denen mehr geschieht, als ein Meinungsaustausch. Wir sehen das Emergenzpotential in Dialogen, die durch demokratische Praktiken in Unternehmen realisiert werden können, sowohl im Versuch die komplexe Welt zu verstehen, als auch in der Erhöhung der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die der Komplexität der Situation entsprechen. Diese soziologische oder politische Wendung in der Organisationsentwicklung ermöglicht es in einem Unternehmen auch die gesellschaftlichen Ansprüche an Unternehmen zu formulieren und zu verstehen und auf diese Weise ein profitorientiertes Unternehmertum auch für die Zukunft möglich zu machen.

Wir befinden uns an einer Schwelle. Hinter uns liegen die Modelle der Unternehmensführung, die radikal auf Wachstum und eine Sicherstellung von Profit ausgerichtet waren. Und dies geschah in jüngster Zeit zunehmend über Formen und Methoden der Effizienzsteigerung. Zugleich wird sichtbar, dass es der kulturelle Überschuss ist, die Möglichkeit zur Verschwendung, die uns neue Wege, die uns anderes finden lässt. Vor uns liegen Chancen, die den Unternehmen eine neue Rolle in der Entwicklung unserer Gesellschaft geben, die es ermöglichen können, Arbeit aus der puren Notwendigkeit herauszuführen, Leben und Arbeit in einen harmonischen Einklang zu bringen.

Kein Programm, auch wenn es immer wieder die Schwäche gibt, sich einem alles heilendem Programm zu unterwerfen. Die Textsammlung steht vor allem für eins: Das Ende der Programme und ein offenes Suchen nach Denkformen, nach Handlungsmöglichkeiten, die es erlauben, etwas zu denken und zu tun, was im Alten unmöglich schien.

Das Buch versteht sich eher als eine Collage, die aus unterschiedlichen Elementen besteht, die in einem Zeitraum von zwanzig Jahren entstanden sind und die nicht vorgeben, einer strengen Systematik zu folgen. Man kann blättern, man kann überall anfangen zu lesen. Und doch folgen alle einer Spur: Der Mensch ist ein sinnliches Wesen – wer für den Menschen Organisationen schafft, der muss genau dies bedenken und fragen: ‚habe ich einen Ort geschaffen, der der Sinnlichkeit der Menschen Raum gibt?’ Ist das nicht der Fall, dann habe ich eine Struktur für eine gehorsame Mitarbeiter*innenschaft gestaltet, aber nicht das, was wir heute wollen und brauchen: Einen Ort für einen selbstwirksamen, sich entwickelnden Menschen, der aus seiner Eigenheit Beiträge für das Ganze des Unternehmens leistet.

Denk sinnlich

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