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3.2 Führung erzählen

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Es sind narrative Zusammenhänge, die die unverbundenen Fetzen der Welterfahrung zusammenfügen und ihnen Sinn geben. Das gilt auch für Unternehmen, auch in der Organisation wer den Geschichten erzählt, in der die Organisation, ihre Handlungen und Widersprüche, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorkommen. Indem diese Geschichten erzählt werden, kann in der Organisation Sinn empfunden werden. Der erlebte Sinn macht erträglich, was in der Organisation als Unrecht und Willkür empfunden wird, heilt so Wunden der Vergangenheit und macht frei für die Zukunft. Und Sinn öffnet Zukunft, lässt über den Tag hinausdenken, Sicherheit gewinnen für die Aufgaben von Morgen. Und schließlich ist es Sinn, der die Organisation motiviert, die nächste Herausforderung aufzunehmen und sich erneut auf kommende Aufgaben zu konzentrieren. Es sind Geschichten, die die Kultur eines Unternehmens prägen und die sie weitertragen. Es könnten Geschichten sein, die eine neue Kultur schaffen.

Organisationen erzählen immer Geschichten – über sich, die Kund*innen, die Wettbewerbe. Die Frage ist, wer erzählt die Geschichten und erfüllt sie mit welchem Sinn?

In den letzten Jahren bin ich in den Unternehmen oft den Geschichten von Unterdrückten, von Widerständlern, resignierten Zynikern, Veränderungssekten mit ihrer Hoffnungsmetaphorik sowie den melancholischen Bot*innen der Vergangenheit begegnet. Alle diese Geschichten machten Sinn, ließen das, was die Menschen erlebten, als Zusammenhang verstehen und mit diesen Geschichten konnten sie sich auf die Zukunft einstellen. Was ich erlebte war, dass die Führungskräfte den Mitarbeiter*innen die Hoheit über den narrativen Raum der Sinnschaffung über ließen und das Risiko in Kauf nahmen, dass Geschichten erzählt wurden, die für das gesamte Unternehmen wenig Sinn machten.

Natürlich habe ich mich gefragt, warum die ‚Führenden‘ so arm an Geschichten sind. Ich hörte, was sie sagten und natürlich waren auch darin Geschichten versteckt – sie waren aber oft nicht gut. Sie steckten voller Kritik, voller Misstrauen, oft war mehr Furcht in ihnen als Hoffnung. Sie erzählten sie in der Sprache der Technik – kalt waren die Geschichten. Und da, wo sie sich im Erzählen neuer Geschichten übten, in den Visionsworkshops, da tendierten sie zu abstrakten Größenphantasien, die wenig für das Unternehmen bedeuteten und für die Menschen in ihm wenig Sinn machten.

Richard Sennet beschrieb die Kraft von Geschichten: Sie „gestalten Bewegung in der Zeit, geben Bedeutsamkeit, lassen damit unterscheiden, stellen Gründe bereit, zeigen Konsequenzen, schaffen einen Rahmen mit Sinn“. Kurz zusammengefasst, sie sind die eigentliche Form, in der Führung in der Zeit von Uneinheitlichkeit, Differenz, Beschleunigung und ständig drohendem Sinnverlust geschehen kann.

Aber welche Geschichte erwächst aus der Formulierung: ‚Unsere Verantwortung ist es, dass Kapital unserer Kapitalgeber*innen zu verzinsen‘? Welcher Sinn entsteht aus dieser Überschrift? Welches Verhalten fördert dieser Sinn? Welches Bild von der*vom Mitarbeiter*in wird darin gezeichnet? Was macht eine Organisation aus, die von sich die Geschichte erzählt, wir sind da, um Kapital möglichst hoch zu verzinsen? Was vermittelt diese Geschichte an die Führungskräfte?

Das Shareholder-Konzept lädt zu kurzatmigen Geschichten ein und die Verantwortungsbeziehung in dieser Geschichte hat kaum ethische Kraft. In diesen Organisationen selbst wird ‚Verzinsung‘ zum Leitbegriff von Kooperation, Menschen werden in Bezug auf ihren Nutzwert und schließlich in Bezug auf ihren Vernutzungsgrad wahrgenommen. Es werden Geschichten er zählt mit den Botschaften: Bleib in Bewegung, gehe keine Bindung ein, bringe keine Opfer, gucke auf die schnelle Auszahlung. Welche Rolle spielt hier dann eine Führungskraft? Wird heute nicht die*der Manager*in gefeiert, die*der ihre*seine Loyalität schnell wechselt, der nur schwache Bindungen an Ort und Aufgabe hat und der vor allem bei jedem Wechsel hart für seinen Vorteil verhandelt – denn nur derjenige, der auf die schnelle und hohe Verzinsung seines Wertes achtet, wird auch auf die Verzinsung für die Kapitalgeber*innen achten. Und alle modernen Personalkonzepte spielen mit der Verknüpfung von Eigennutz und Kapitalverzinsung. Welches Führungsethos bildet sich aus dieser Geschichte? Was sind die Sinnbezüge darin, die die Mitarbeiter*innen mitziehen und sie einladen, an einer besonderen Aufgabe, der Zukunft ihres Unternehmens zu arbeiten? Reicht es, wenn man sie im Wechselspiel von angebotenen Belohnungen und dem Aufbau von Drohszenarien des möglichen Arbeitsplatzverlustes still stellt?

Natürlich werden neben dieser offiziellen Geschichte andere Geschichten erzählt, die die Menschen zusammenhalten und ihnen Orientierung, Stolz und Kraft geben. Es sind oft Geschichten, die sich um das Produkt spinnen, manchmal um die Werte der eigenen Vergangenheit, manchmal um das Besondere des eigenen Bereiches, des eigenen Ortes. Die Kontinuität dieser Geschichten ist zwar durch ständige Umstrukturierungen, das Zerbrechen sozialer Sinneinheiten gefährdet, aber noch geben sie den Unternehmen und Unternehmensteilen eine Mitte.

Die Fragmentierung der Unternehmen wird weitergehen – Konzernführungen beschränken sich heute oft auf die Forderung der Erfüllung bestimmter Kenngrößen – sie geben keine Inhalte, keine Erzählung mit. Die Teile erzählen so ihre je eigene Geschichte, in der sie zugleich ihre Verbundenheit mit dem Ganzen begründen. Das ist gegenüber früher, als die Verbundenheit eine fraglose Tatsache war, nurmehr eine schwache Bindung. Schwach gebunden sind heute auch die Mitarbeiter*innen; viele, und darunter gerade die Hoffnungsträger*innen, investieren nur noch wenig ihrer Lebensgeschichte in den Arbeitsplatz – sie geben sich cool, distant und schützen sich so vor der Unberechenbarkeit der fragmentierenden Organisation. Ein Unternehmen und die Mitarbeiter*innen trotz dieser Entwicklung zusammenzuhalten, Integration in Zeiten der Desintegration zu leisten, ist eine der großen Führungsaufgaben. In Zeiten schwacher Bindungen braucht Führung starke Zeichen. Gute Geschichten sind starke Zeichen.


Gute Geschichten findet man da, wo die Führungskräfte die Persönlichkeit haben, Erzählungen zu schaffen, in denen der Ort, das Produkt, die Außenwelt, die Mitarbeiter*innen, die Vergangenheit und die mögliche Zukunft vorkommen. Wer aber Geschichten erzählen will, muss Geschichten in sich tragen und selbst in einer Geschichte aufgehoben sein, die dem eigenen Leben und eigenen Tun einen Sinn gibt, der über den Tag hin ausweist. Bildung ist ein möglicher Weg für die*den Geschichtenerzähler*in.

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