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2.2 Wie die Athener Matrosen wurden

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Wir übernehmen Geschichten, Riten und Metaphern und leben so in den Grenzen der gelernten Wirklichkeit unserer Kultur. Die Varianten, Themen, Bilder unserer Kultur bestimmen unsere Denkmodelle, schaffen Bezugssysteme, die uns Wichtiges von Unwichtigem, Bedeutsames von Unbedeutsamen unterscheiden lassen. Sie geben unserem Handeln Richtung und Sinn. Die in den Unternehmen dominante Geschichte von der Beherrschbarkeit der Welt durch Technik, Wissenschaft und kausale Erklärungsmodelle ist nur ein wirksamer Erzählstrang. Er bestimmt in den Unternehmen Prioritäten, er setzt Grenzen zwischen dem, was als sinnvoll und dem, was als sinnlos erlebt wird. Aber diese Geschichte hat – wie jede Geschichte – Grenzen, wenn es darum geht, Sinn in Zeiten der Wandlung zu vermitteln. Sie hat ihr Pathos, das es im Anfang der Neuzeit und im Bürger*innentum des neunzehnten Jahrhunderts gehabt hat, verloren. In den Unternehmen werden neben dieser Geschichte daher immer auch andere Erzählungen wirksam. Sie schaffen anderen Sinn und mit diesem anderen Sinn setzen sie andere Prioritäten und ermöglichen anderes Verhalten. In der Regel werden diese Erzählungen in den Symbolen und Metaphern der Organisation unreflektiert weitergegeben, oft werden sie im Sinne der einen dominanten Geschichte von der technisch rationalen Machbarkeit aller Dinge bekämpft und als rückständige Überbleibsel einer schon erledigten Vergangenheit beschrieben. Aber diese und neue Geschichten könnten helfen, wenn wir in Veränderungsprojekten, in der Notwendigkeit, neue Wege zu gehen, Orientierung und das Erleben von Sinn brauchen – wenn es nötig wird, die Sorge und die Ängste vor dem Neuen, Kontingenzlastigen zu bannen.

Was das Erleben von Bedeutsamkeit ausmachen kann, illustriert ein Erlebnis in einem Fertigungswerk der Elektronik-Industrie. Ein technischer Werkleiter hielt in einer Runde von Abteilungs und Gruppenleiter*innen eine Rede, in der er über Gefahren der Konkurrenz großer Fertigungsunternehmen sprach, die über sehr große Stückzahlen und ein Konzept der Trennung von technischer Betreuung der Erstanläufe und einfacher kopierter Massenfertigung einen großen Kostenvorteil erwirtschaften. Er zeigte über Berechnung auf, dass die auf sehr viel kleinere Stückzahlen ausgelegte eigene Fertigung, die zudem mit einem integriertem Modell arbeitet, diesen Kostenvorsprung durch intelligente Nutzung der eigenen Ressourcen ausgleichen kann. Der Vortrag war trocken, die gezeigten Folien abstrakt. Und doch hatte der Vortrag eine motivierende und energetisierende Wirkung. Ich habe mir daraufhin die Worte und Bilder noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich suchte nach Bedeutsamkeiten. Und ich hörte: David wird gegen Goliath kämpfen und David hat eine Steinschleuder in der Hand. Das kleine Werk wird Intelligenz, wird technischen Sachverstand nutzen, um Goliath zu schlagen. Dies war eine Ebene der bedeutsamen Erzählung, die die Mitarbeiter*innen in den kargen technischen Worten mithörten. Auf einer weiteren Ebene hörten sie noch andere Bilder, so wurden mit der Beschreibung der konkurrieren den Massenproduktion Bilder großer Hallen evoziert, in der auf eine technische Funktion reduzierte Menschen fest bestimmte Handlungen ausführen, die ihnen von Spezialist*innen, die in besonderen, entfernten Entwicklungsstandorten arbeiten, vorgeschrieben waren. In mir erschienen düstere Bilder aus Science-Fiction Filmen, in der ausbeutende Mächte Menschen in solchen großen Anlagen auf eine reine Arbeitsfunktion reduzierten. Dagegen wurden bei der Schilderung der eigenen Chancen Bilder von gemeinsamem Arbeiten, von kreativ erfinderischer Zusammenarbeit und von Opferbereitschaft aufgerufen. Erst nachdem ich diese im trockenen Vortrag versteckten Bilder, die in der späteren Diskussion deutlicher ausgesprochen wurden, verstanden hatte, wurde mir auch klar, warum dieser Vortrag auf die Mitarbeiter*innen eine so motivierende Wirkung haben konnte. Im Bild des David fand das Werk Sinn, fühlte sich beschrieben in Bezug auf die eigene Vergangenheit und in Bezug auf die Chancen der Zukunft.


Natürlich kann diese Geschichte nur dort wirken, wo sie eine schon bestehende Geschichte weitererzählt und ihr eine zusätzliche Bedeutung für die Zukunft geben kann. Das Werk hat eine lange Tradition, in der es sich gegen ein großes Mutterwerk behaupten musste und hat diesen Sinnstrang in der Geschichte der eigenen Existenz nun auf eine neue Situation bezogen. Hier war für einen Moment eine Form ‚narrativer‘ Führung, in der Sinn und Bedeutsamkeit vermittelt wurde, gelungen.

Fortsetzungen von Geschichten und Metaphern, die für neue Situationen anschlussfähig sind und denen man eine neue situative Prägnanz geben kann, sind eine Form, Organisationen einerseits an die Grenze der Gefahr zu führen und ihr gleichzeitig die Mittel zu geben, in der sie die mit der Gefahr aufbrechenden Ängste bannen kann. Eine andere Herausforderung ist es, sich der in den Unternehmen spürbaren Kontingenzerfahrung in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, auf die Chancen der technischen Innovation, auf die eigene Vitalität und auf die Entwicklung von Markt und Wettbewerb so zu stellen, dass in dem Augenblick, in dem Kontingenz in Form von Krisenerfahrung spürbar wird, nicht die ganze Macht und Wucht der alten Bewältigungsgeschichten und Bewältigungsriten in die Bresche geworfen werden. Denn damit würde man zwar für einen Augenblick alte Sicherheit zurückgewinnen, aber die neue Antwort, die stabiler die Gefahren begrenzt, wird man so nicht finden. Kontingenzerfahrungen gilt es zuzulassen, damit sie „als Stimulans der Bewusstwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen“ (Hans Blumenberg) wirken können. Geschichten müssen deshalb nicht nur erzählt werden, sie müssen auch zum richtigen Zeitpunkt erzählt werden. Für eine neue Geschichte müssen die alten Geschichten reif sein.


Reif werden sie aber nur, wenn Menschen sich mit ihnen, ihren Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzen. Reif werden sie nur, wenn in der Sicherheit der alten Geschichte mit ihnen so gefragt und so gespielt wird, dass ihre Potenzen und damit auch ihre Grenzen sichtbar werden. Daher wird ein Unternehmen, das in sich nicht einen Kulturraum öffnet, in dem mit der eigenen Kultur gespielt wird, vielleicht ein Nachahmer*innen werden können, aber nicht die*der Erfinder*in neuer Geschichten.

Als die Athener erneut von der Übermacht des persischen Königs bedroht wurden, sandten sie Bot*innen zu einem der großen Geschichtenerfinder*innen des Altertums, zum delphischen Orakel. Die Boten kamen mit einem Thema, für die nun von den Athenern zu gestaltende Geschichte zurück. Das Thema hieß: Hinter einer Mauer aus Holz sollt ihr euch verschanzen.

Und nun begannen die Athener zu erzählen. Sie hatten dafür Plätze und sie hatten schon Erfahrung mit dem kollektiven Erfinden von Geschichten. Das waren die ersten Schritte in der Erfindung der Demokratie. Manche im existenzbedrohten Athen griffen auf alte Bedeutungen zurück. Sie wollten eine hölzerne Mauer um die Stadt ziehen. Athen war aber eine bäuerliche Gemeinde und die Mauer hätte Höfe, Felder, Bäume ungeschützt gelassen. Das Gespräch wurde schwierig auf dem Marktplatz in Athen, bis jemand mit dem Thema eine neue Geschichte erzählte. Sie sprach von hölzernen Booten, die eine Mauer wären und der Möglichkeit, die persischen Truppen auf dem Wasser zu besiegen. Und während er die Geschichte erzählte, wurden die Boote so beschrieben, wie sie nach Athen passten. Sie waren klein, in ihnen saßen die kleineren sozialen Einheiten der Stadt. Und als jemand fragte, wie denn die vielen kleinen Boote zu steuern wären, da blickten sie auf ihren Marktplatz und die Art und Weise, wie sie die Geschichte im Gespräch, manchmal im Streit, manchmal in der gefundenen Übereinstimmung erzählt hatten.

An der Geschichte, die sie in höchster Not erzählten, war manches neu: Die dezentrale Steuerung der Boote, das auf das Wasser gehen, die überraschende Wendung, eine Mauer aus Holz als Schiff zu verstehen. Schließlich – und dies hatte die langfristig größere Wirkung – war die Art und Weise neu, in der sie das Gemeinwesen in höchster Not nicht zentralistisch verstanden und sich nicht auf die Verteidigung der Stadt versteiften, sondern sich auf den Kampf gegen die persischen Boote konzentrierten – das schuf eine Wende, das schuf Möglichkeiten. Die großen, mächtigen und zentralistischen Boote der Perser*innen, die schon immer die alte Geschichte von der Macht der Größe und Stärke sangen, waren den aus der neuen Erzählung entstehenden Möglichkeiten nicht gewachsen. Athen hatte die Drohung des eigenen Untergangs abgewehrt.

Wenn wir auf die wichtigsten Voraussetzungen für diese Wendung des Athener Schicksals blicken, so waren dies zweifellos die Qualitäten der delphischen Erzählung und ihre Aufnahme in den Selbstverständigungsprozess der Athener, es war sicher die Wachheit, die die Drohung des Existenzverlustes vermittelte und es war schließlich die Bereitschaft, sich in der Mitte der eigenen Gesellschaft mit der Geschichte und ihren möglichen Folgen auseinanderzusetzen. Kultur und Politik war in Athen Sache der Athener – ihr in der eigenen Gesellschaft gewachsenes Reflexionsvermögen machte sie fähig, aus Gefahr und den Andeutungen anderer Fragen und anderer Bedeutungen eine neue Antwort zu formulieren. Dies war nur möglich, weil Philosophie und Kunst Sache der Polis war.

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