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Überfall auf Tradestore

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Die meisten Bewohner von Beimuru in Papua-Neuguinea kennen an einem der im zwei Wochen Rhythmus angesetzten Zahltage nur ein Ziel: Pauls Hangar. Dort finden sie unter einem Dach nicht nur alle Güter, von denen ein bodenständiger Papu so träumt, sondern auch eine Bank, die das zum Einkaufen nötige Geld, oder zumindest einen Teil davon, ausbezahlt.

Je näher mein Kollege Alex und ich diesem Paradies kamen, desto dichter drängten sich die Menschen, bis sich eigentliche Warteschlangen bildeten, die trotz Drängeln und Stoßen nur noch um Fußesbreite vorwärts rückten. Als Weiße genossen wir das Privileg, dass man uns Platz machte, ohne dass wir unsere Ellbogen allzu energisch einsetzen mussten. So erreichten wir recht zügig den einzigen Eingang zur “Shopping Mall“, wie Paul, der australische Besitzer, seinen überdimensionierten Wellblech-Schuppen ebenso übertrieben wie liebevoll nannte. Der bildete ein wahres Nadelöhr, das von vier bis an die Zähne bewaffneten Uniformierten bewacht wurde. Die stießen ruppig den einen oder andern zurück, um ihn nach versteckten Waffen abzutasten bevor sie ihn mit einem zustimmenden Grunzen die Schwelle zum Einkaufsparadies passieren ließen.

Von Alex und mir nahmen sie keine Notiz, denn als „Rotnasen“, wie man uns umgangssprachlich bezeichnet, befanden wir uns ganz klar außerhalb ihrer Machtsphäre. Da wir die meisten der eher kleinwüchsigen Papus um gut einen halben Kopf überragten, hatte uns Nancy, die Kassiererin vom Bankschalter, der sich gleich links neben dem Eingang befand, schon aus der Ferne kommen gesehen. Sobald wir eintraten und Alex in voller Größe aus dem Menschengetümmel vor ihr auftauchte, kannte ihr Strahlen keine Grenzen mehr. Der Form nach winke sie uns beiden zu, doch in Wirklichkeit galt ihre Aufmerksamkeit ganz eindeutig meinem zwanzig Jahre jüngeren Kollegen. Der hätte, braun gebrannt, mit von der Sonne zusätzlich gebleichtem blonden Haar und Friesland blauen Augen, adrett in einen makellosen Tropenanzug gekleidet, bestimmt auch mancher weißen Frau den Kopf verdreht.

Ich wusste, dass sich die beiden mochten und wollte dem jungen Glück nicht im Wege stehen. Deshalb winkte ich nur schmunzelnd zurück und ließ Alex alleine zu Nancys Schalter gehen, der nicht gerade dicht belagert war.

In Papua-Neuguinea verdient nur eine kleine Minderheit so viel, dass es sich lohnt, das Geld zur Bank zur tragen. Die andern verputzen innerhalb von zwei Stunden, was sie in den vorausgegangenen zwei Wochen erschuftet haben.

Weil sie normalerweise mit Bankgeschäften nicht ausgelastet war, hatte Nancy noch zusätzliche Aufgaben: so bildete sie das Verbindungsglied zwischen der Lager- und Verkaufsebene im Parterre und der Chefetage, die wie ein gläsernes Insektennest unter dem Dach des Hangars hing und nur über eine eiserne Wendeltreppe erreicht werden konnte. Diese von Gefängnisbauten abgeschaute Anordnung erlaubte es Paul und seinen engsten Mitarbeitern, alles zu überblicken, was sich zu ihren Füssen abspielte und das war selbst an ruhigeren Wochentagen eine ganze Menge: Paul verwaltete nämlich neben seinem eigenen Laden und der Filiale der PNG Banking Corporation auch noch die Niederlassungen einer regionalen Fluggesellschaft und der Post und betrieb dazu einen Stehimbiss, den er als das einzige „Restaurant“ in einem Umkreis von 200 Kilometern anpries.

Bis auf die Tische der Imbissbude befand sich alles fein säuberlich abgeschottet hinter massiven Drahtgittern, die nur einen Spalt offen ließen durch den die Verkäuferinnen den Kunden ihre Ware über eine Art Theke zuschoben - wohlweislich erst, nachdem sie das Geld dafür kassiert hatten. So entstand in dem Hangar trotz seiner beeindruckenden Ausmaße eine beengende Gefängnisatmosphäre, wobei der Glaskanzel in der Mitte sowohl die Rolle eines Wachturms, als auch die einer Einsatzzentrale zukam. Die Einheimischen schien dies nicht weiter zu stören, denn sie wussten aus eigener Erfahrung, dass alles, was nicht niet- und nagelfest verankert war, binnen kürzester Zeit zu verschwinden pflegte.

In diesem von Misstrauen und latenter Kriminalität geprägten Umfeld fiel Nancy die Aufgabe zu, in erster Linie Leute, die Paul nicht treffen wollte, abzuwimmeln. In zweiter Linie allerdings sollte sie herausfinden, ob ein Besucher vielleicht doch interessant genug war, um wenigstens von einem subalternen Mitglied der Geschäftsleitung zu einem formlosen Schwatz durch die Gitter hindurch empfangen zu werden. Denn schließlich

verkaufte Paul nicht nur Waren an die Einheimischen, nein, er kaufte auch alles auf, was er in Port Moresby oder besser noch in Australien in klingende Münze verwandeln konnte, von massiven Baumstämmen aus Ebenholz bis zu den winzigen Eiern seltener Schmetterlinge, für die fanatische Sammler ein Vermögen bezahlten. Die Fälle freilich, in denen Nancy zum Telefon griff um in der Glaskanzel einen Besucher anzumelden, der würdig und berechtigt war, in Pauls Allerheiligstes vorzudringen, stellten eine krasse Ausnahme dar. Normalerweise nämlich entdeckte eines der wachsamen Augen aus dem ersten Stock einen solchen „Ehrengast“ inmitten der Menschenmenge schon lange bevor Nancy ihn überhaupt zu Gesicht bekam. Dann surrte der elektrischen Öffner, der die gepanzerte Türe zum Innenraum des Hangars freigab genau in dem Augenblick, in dem der Gast nur noch einen Schritt von Nancys Schalter entfernt war, und gab ihm damit den Zutritt frei, ohne irgendwelches Aufsehen zu erregen.

Auch wir waren offenbar rechtzeitig erkannt worden, denn noch bevor Alex Nancy ein „hallo“ hatte zurufen können, vernahm ich, der zwei Meter hinter ihm stand, schon das Summen des Entriegelungsmechanismus. Automatisch machte ich einen Schritt nach vorne um den Knauf zu packen und die Türe zu öffnen.

Doch so weit kam ich nicht: auf genau diese Gelegenheit hatten schon zwei ganz unauffällig in der Menge

mitschwimmende Eingeborene gewartet: sie warfen sich geschickt zwischen mich und die Tür und gleichzeitig zwischen mich und Alex um sich gewaltsam Zutritt ins Allerheiligste zu verschaffen. Alles ging sehr schnell schien professionell vorbereitet: Noch bevor ich richtig realisierte, was da ablief, erhielt ich präzise und wuchtig zugleich einen Ellbogen in meinen Solarplexus gerammt, dass ich, was ich in 10 Jahren als Amateurboxer hatte vermeiden können, k.o. zu Boden ging. Zumindest ein Reflex in mir musste dennoch funktioniert haben, denn ich fiel nicht wie ein Sack um, sondern schaffte es, mit einer halben Körperdrehung so am Fuß der Theke zu landen, dass ich halbwegs vor den unzähligen Füssen sicher war, die mich in der Panik, die ausbrach, sobald der Überfall erkannt wurde, wahrscheinlich zu Tode trampeln würden.

Ich hatte in den Augenblicken, die jetzt folgten, zu viel Adrenalin in meinen Adern als dass ich Schmerz oder Angst empfunden hätte, einzig der Überlebensinstinkt, den ich über Jahre hinweg im beruflichen Einsatz in Krisengebieten entwickelt hatte, bestimmte jetzt mein Handeln. Bevor ein Ringrichter auf zehn hätte zählen können, wurde mir bewusst, dass ich die Kontrolle über meine Beine, ja über meinen ganzen Körper zurückgewonnen hatte. Dennoch blieb ich liegen und bewegte meinen Kopf nur genau so weit, dass ich mir halbwegs ein Bild von dem machen konnte, was über mir geschah. Zwar versperrten mir überall nackte Füße und ungewaschene, schwarze, nach Dreck, Kot, Urin und Betelnuss stinkende Beine die Sicht, doch aus dem Umstand, dass sich das Stimmengewirr bald in ein von schrillen Schreien unterbrochenes Gekreische verwandelte und dass die meisten Zehen nun nicht mehr in Richtung Tresen, sondern zum Ausgang hin zeigten, schloss ich, dass der Überfall tatsächlich entdeckt worden war und alle Unbeteiligten ihr Heil in der Flucht suchten.

Noch immer war ich darauf bedacht, meine Position nur wenig zu ändern und meinen Kopf so unauffällig wie möglich zu bewegen. Dies genügte, um quasi in Zeitlupe mit zu erleben, wie Alex mit blutüberströmtem Gesicht, zuerst in die Knie und gleich darauf bewusstlos neben mir zu Boden ging. In dem Moment knallten auch die ersten Schüsse, die in der immensen Blechhalle wie Kanonensalven widerhallten. Umgehend schwoll darauf das Geschrei der Fliehenden nochmals an und selbst der Tonfall stieg um gute zwei Oktaven. Parallel dazu steigerte sich die Kadenz der Schüsse vom Einzel- zum Serienfeuer, was darauf hindeutete, dass Angreifer wie Verteidiger bestens mit automatischen Waffen ausgerüstet waren und nicht davor zurückschreckten, von diesen auch Gebrauch zu machen.

Da die meisten Kunden in der Zwischenzeit ins Freie geflohen waren, nahm der von ihnen verursachte Lärm ab, dafür ertönten jetzt Kommandos auf Pidgin und auf Englisch in denen ich auch Pauls Stimme zu erkennen glaubte. Dabei konnte es sich allerdings auch um bloßes Wunschdenken handeln, denn langsam wurde meine Lage so ungemütlich, dass ich die Zeit für gekommen hielt, wo der Busch-Napoleon endlich in seinem Laden so nachhaltig für Ordnung sorgen sollte, wie er dies immer wieder beim Bier in der Hauptstadt geschildert hatte.

Eine Salve heißer, direkt über mir aus einer automatischen Waffe verschossener Patronenhülsen traf mich am Arm und ließ mich vor Schmerz fast aufschreien. Das allerdings hätte die Täter, von denen sich einer genau über mir befand, auf uns aufmerksam gemacht – zumindest auf mich und auf den Umstand, dass ich nicht tot war. Also biss ich auf meine Zunge, denn solange wir still und regungslos am Boden lagen, stellten wir für die Gangster weder eine Gefahr dar, noch brachten wir sie auf die Idee, uns eventuell als Geiseln zu nehmen. Was aber, wenn Alex aufwachte und sich zu bewegen begann? Noch während ich mir über die dann anzuwendende Strategie den Kopf zerbrach, peitschten einige Kugeln knapp an meinen Zehenspitzen vorbei und ließen mich blitzschnell die Knie anziehen.

„Der Weiße lebt“, schrie prompt einer der Täter auf Pidgin, worauf ein neuer Kugelhagel das verrottende Wellblech von Pauls Tradestore durchsiebte. Jemand versuchte offensichtlich, uns Feuerschutz zu geben und er tat dies mit Erfolg: knapp einen Meter von mir entfernt schlug ein Einheimischer mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen auf dem Boden auf, die Maschinenpistole noch unter den rechten Arm geklemmt.

Für Sekunden war es daraufhin still.

Dann peitschte statt Kugeln eine durch Mark und Bein dringende, wie Glas klirrende, weibliche Stimme auf Pidgin und Tokples, dem lokalen Dialekt, durch den Hangar:

„Hört auf zu schießen, ich wiederhole, stoppt sofort das Feuer. Werft eure Waffen weg und haut ab. Raus, raus mit euch. Wer nicht sofort abhaut wird den Abend nicht mehr erleben.“

Es folgte eine kleine Pause, in der ich keinen Laut, keine Bewegung mehr wahrnahm. Dann kehrte die Stimme so schneidend zurück, dass ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam:

Fuck you! Was seid ihr bloß für Typen, dass ihr feige auf Unschuldige schießt? Haut ab! Rausim yu, raus mit euch!“

Ich blieb liegen, da ich umgehend von irgendwo her eine nächste Salve erwartete oder, schlimmer noch, den Todesschrei der mutigen Frau. Doch es blieb ruhig, ja es herrschte eine wahre Grabesstille, denn selbst den Gaffern vor dem nahen Eingang schien es die Sprache verschlagen zu haben.

Dann, während Alex eben die Augen öffnete und verwirrt um sich blickte, hörte ich das Klappern von eindeutig weiblichen Absätzen auf der eisernen Wendeltreppe, das immer näher kam. Langsam und vorsichtig wagte ich deshalb meinen Kopf zu heben und stellt dabei fest, dass der Laden auf der Käuferseite bis auf Alex und mich leer war. Selbst die Wächter am Eingang waren verschwunden. Wo sie bei unserer Ankunft gestanden waren, machten sich dafür bereits die ersten Neugierigen die besten Plätze streitig um hautnah den weiteren Verlauf der Ereignisse verfolgen zu können; doch keiner wagte es, auch nur einen Fuß über die Schwelle des Hangars zu setzen.

Ich erschrak zu tiefst, als ich die eben noch dominierende Frauenstimme plötzlich direkt und fast sanft über mir vernahm:

Hi, Doc, sind sie und Alex halbwegs wohlauf?“

Yes, Mam“, stotterte ich und rappelte mich auf um unseren rettenden Engel aus der Nähe zu betrachten. Ich staunte nicht schlecht, als ich Rachel über mir entdeckte, Pauls einheimische Frau. Ich war ihr früher schon gelegentlich begegnet, hatte sie immer für unscheinbar und farblos gehalten und mich eher gewundert, was ein Weiberheld von Pauls Kaliber an einem derartigen Mauerblümchen aus der tiefsten Provinz Papua-Neuguineas gefunden hatte.

Alex, der stöhnend darum rang, das eben wiedererlangte Bewusstsein nicht gleich wieder zu verlieren, hatte die letzte Phase des Überfalls nicht bewusst miterlebt und schien sich deshalb auch weniger um die Identität unseres Schutzengels zu kümmern als vielmehr um das Stillen des Blutes, das sich in wahren Strömen von seiner Stirn, ganz in der Nähe des Haaransatzes, quer über sein Gesicht ergoss.

Offenbar hatte auch Rachel vorderhand wichtigeres zu tun, als sich um uns zu kümmern, nachdem sie erst einmal festgestellt hatte, dass wir überhaupt noch am Leben waren. Denn während weitere Angestellte, die in Laden und Lager Deckung bezogen hatten, hinter Reissäcken und Bierkartons hervorkrochen, verließ sogar Ken, der Buchhalter, seinen mit Panzerglas gesicherten Hochsitz. Er kam direkt auf mich zu, half mir vollends auf die Beine und zog, wie er es sein Leben lang gewohnt war, Bilanz:

„Hatte schon geglaubt, es hat euch erwischt! – Aber es ist auch so schlimm genug: Nancy ist tot. Sonst sehe ich auf unserer Seite nur ein paar leicht Verletzte. Die Angreifer haben einen Mann verloren; mindestens einer von ihnen ist verwundet.“

Dann seufzte er, weil ihn dies offenbar mehr schmerzte als die menschlichen Verluste:

„Leider haben sie auch einiges an Bargeld aus der Bank mitlaufen lassen!“

Sobald ich mich auf meinen eigenen Beinen wieder sicher fühlte, packte ich Alex unter den Armen und zog ihn vom Boden empor. Erst jetzt fiel mein Blick hinter den Bankschalter wo Rachel neben der in einem See von Blut liegenden Nancy kniete, ihr die Augen schloss und dabei feierlich und so laut, dass alle es hörten, einen Eid ablegte:

„Geh ein ins Reich der Ahnen, Nancy. Ich schwöre dir bei meinem eigenen Leben und bei dem meiner Kinder, dass dein Tod gesühnt werden wird!“

Unter den Zuhörern vor dem Hangar erhob sich ein dumpfes Raunen. Alle hatten den Racheschwur gehört und offenbar zustimmend zur Kenntnis genommen.

Rachel aber hatte noch nicht geendet. Mit genau jener schneidenden, fast unmenschlichen Stimme, mit der sie die Schießerei beendet hatte, hob sie erneut an:

„Und ihr, die ihr meine Nancy getötet habt: wisst, dass ich euch hier und jetzt zum Tod verurteile! Keiner von euch wird die Rückkehr der Monsunregen erleben!“

Sie verharrte noch kurze Zeit wie in Trance in ihrer magischen Pose, ließ dann die Hände sinken und kehrte zurück in den Glaskäfig.

Meine Gänsehaut verging nur langsam, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Rachels Verheißung in Erfüllung gehen würde.


Der Kuss der Schwarzen Papua

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