Читать книгу Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz - Страница 13
9 Brand-Jagd
ОглавлениеIn seiner verschlissenen Ausstattung sah Oie aus wie ein Hobby-Angler, der vom Nachtangeln an den Fürstenberger Seen kommt. Tarnweste über der Jacke, gelber Südwester und Stiefel, sperriges Angelgerät, – und im Rucksack noch drei von Ulms selbst geräucherten Aalen, die sie ihm mitgegeben hatten.
So kostümiert löste er eine Fahrkarte am Automaten, stieg in den Regional-Express und sah sich um. Gegen neun Uhr waren wenig Reisende unterwegs, nur einen Wagen weiter lärmte eine Jugend-Gruppe, in freudiger Erwartung ihrer Visite der Hauptstadt.
Oie klappte die Ohren zu und genoss im Oberdeck des Waggons die vorbei schießenden Bilder der Wälder und Seen in der sonnig grünen Frische Brandenburgs.
Immer wieder ruckend versuchte er sich wach zu halten, so als wüsste er, dass die heraufbeschworenen Geister der Vergangenheitnur darauf lauerten, ihn im Schlaf zu attackieren.
Bald aber schlief er vor Erschöpfung ein, die ihn in einen würgenden Albtraum mit einer finalen Version der Ereignisse auf Franzfelde führte.
Ein fauchender, stinkender Schatten umklammerte ihn zerrend und quetschte sein Innerstes, wie aus einer Tube, zum Halse heraus – als ihn die Schaffnerin rettete.
Mit mütterlichem Lächeln sah sie auf den übernächtigt wirkenden, zerknitterten alten Mann, der sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte.
Es war schon hinter Oranienburg, wo langsam die ausgefranste Steinigkeit Berlins ins Weichbild der grünen Landschaft drängt. Das Eintauchen des Zuges in immer dichtere Wohngebirge wirkte, nach den heftigen Ereignissen und dem nachhallenden Alb, irgendwie beruhigend – schien ihm wie eine Heimkehr, wie der Rückzug in seine sichere Festung Berlin.
Am Hauptbahnhof ausgestiegen nahm er die S-Bahn zum Alex und fuhr mit der U-Bahn weiter zur Samariterstraße.
Kathas winzige Stadtwohnung hatten sie damals nicht aufgegeben, als sie wegen Elena raus aufs Land zogen, denn das jüngste seiner Kinder sollte aufwachsen wie er, in der Natur, mit den unverfälschten Jahreszeiten und den gedämpften kulturellen Anfechtungen des Landlebens, am Rande der großen Stadt.
»Da draußen«, sagte er immer zu allen, die an der Lebensqualität vor der Stadt zweifelten, »da draußen ist die Welt noch in Ordnung. Da fühlt man noch die ewigen Maßstäbe der Natur – fernab vom hedonistischen Medien-Getöse – und Stadt-Neurotiker sind eine seltene Erscheinung.«
Zwischenzeitlich war die Wohnung dann Unterschlupf für die großen Kinder, jugendliche Verwandte, und später auch manchmal Quartier für Gäste, die Berlin besuchten.
Oie hatte sich dort einen Schreibtisch am Fenster, eine Bücherwand und einen Computer hingestellt.
Es war seine Arbeits-Klause, wenn er, wie Katha meinte, wieder mal was auszubrüten hatte. Die Verbindung des Künstlers zur Welt ist die Einsamkeit, war dann seine Erklärung für sich und andere, die sich verwundert zeigten, über diesen abgetaucht-sporadischen Ortswechsel.
Als er nun, von der Frankfurter Allee kommend, in seine Straße einbog, die leicht zur Samariter-Kirche anstieg, sah er rechts in der baumgesäumten Altberliner Stein-Schlucht – auf der Höhe seines Mietshauses – Feuerwehrwagen stehen.
Auf den ersten Blick fühlte er sich sicher beim Anblick der feuerroten öffentlichen Ordnung, besonders nach den chaotischen Erlebnissen auf Franzfelde, wie auch immer. Aber dann - näher herankommend - sah er Schläuche in seinen Hauseingang laufen.
Er verzögerte seinen Schritt, denn es standen viele neugierige Menschen neben den Fahrzeugen und irgendetwas sagte ihm: Halt dich zurück!
Rechts neben seinem Haus befand sich eine Änderungs-Schneiderei, die er von oben, aus seiner Hinterhof-Wohnung, zuweilen bei Nacht arbeiten sah. Er ging hinein und fragte eine kleine, schmächtige Näherin mit asiatischem Einschlag freundlich, ob er einen Anzug zum Kürzen bringen könnte, und was das kosten würde.
Die sagte, ihn von oben bis unten in seinem Aufzug musternd: »Hosbei funfzeh Uro – Äml zeh Uro.«
Er wusste es zu deuten, zeigte sich einverstanden und versprach den Anzug in den nächsten Tagen zu bringen – um dann unverfänglich zu fragen: »Ist nebenan etwas passiert?«
Die Näherin schaute ein Nichtverstehen, doch die hinzutretende Chefin vom gleichen Stamm bestätigte Kaugummi kauend: »Heut Nacht Hof brennt, da, sieh«, und sie ging mit ihm an das Fenster zum Hof, das er des Nachts so oft von seinem Schreibtisch aus erleuchtet gesehen hatte. »Schau da drei Stock, alles brennt – löschen Rest.«
Mit einem Schlag wurde Oie bewusst, dass das ihre Wohnung war, die da gebrannt hatte und es schoss ihm ein Entsetzen in die Knochen, – doch er riss sich zusammen und ließ sich nichts anmerken.
»Is nix passiert, wohnt nix mehr Leut, so das ist Malade. Mann noch lebt, nix gefunden. Ist nix da wesen. Habe nur einmal sehen, – is Künstler reden Leut. – Sieht ähnlich ihm«, und sie schaute dabei auf den Angler – »doch nix!«
»Na ja«, drehte sich Oie um, »ich muss los. Ich habe es noch ein Stückchen bis zum alten Schlachthof. Da wohne ich. Machen Sie es gut – ich komme demnächst vorbei.«
Er entschwand in die vorgezeigte Richtung, ohne sich noch einmal umzudrehen und lief um den Block, ziellos ins Nirgendwo.
Er hätte auch zur Wohnung gehen, sich als Mieter offenbaren und dabei Näheres von der Feuerwehr erfahren können, aber er wusste, zu ändern ist eh nichts mehr. Seine mentale Bewegungsfreiheit hätte gelitten und die Gefahr war groß, dass mit den Ereignissen auf Franzfelde, die vielleicht schon polizeilich hochgekocht waren, seine eigenen noch unklaren Pläne zu Igor Antonows Auftrag gestört würden.
Wieder schossen Gedanken wie Hagelschauer durch seinen Kopf. Dabei war eine Frage seit gestern immer wieder bohrend präsent: Warum? – War das, was er hatte – die Listen – so brisant nach zwanzig Jahren?
Oder ging es denen ums Prinzip, um das Wesen der Geheimdienste, wie Antonow einst betonte – und sich damals auch konsequentdaran hielt. Wenn sie das nicht beherzigen würden, was wären sie dann anderes als eine Nachrichtenbörse, eine Projekt-Gesellschaft oder ein Reisebüro mit anderen, zweifelhaften Mitteln, waren die abwimmelnden Worte Igor Antonows, an die er sich zu erinnern glaubte.
Oie hatte so gar keine Vorstellung von den Hintergründen der letzten Ereignisse, war als Berufsoptimist jedoch noch immer versucht, gegen seine schrillen Ahnungen, intellektuelle Barrieren von Unfall oder Zufall aufzubauen.
Die objektive Ernüchterung wurde jedoch mit jeder Minute größer, denn die letzten Stunden ließen keinen anderen Schluss zu: Der Brand war der zweite Versuch ihn umzubringen. – Oder war es schon Rache für Franzfelde?
Nur der Spontanausflug zu Ulm hatte ihm offensichtlich den Hals gerettet. Wäre er mit der JAWA nach Berlin gefahren, – er konntees nicht zu Ende denken.
Oie war sich jetzt sicher: Die da meinten ihn. Antonows Vermächtnis war eine Bombe mit Magnet-Zünder, die zu jeder Stunde, an jeder Ecke, bei jeder zufälligen Begegnung hochgehen konnte.
Die Brutalität, mit der sie vorgingen, ließ keinen anderen Schluss zu. Einfach seine Klause abbrennen – das ging über seinen Verstand. Seine Höhle, einen Teil seiner Geschichte zerstören, nur wegen ein paar alter Informationen? Wie sollte er das Katha beibringen? Das beunruhigte ihn am meisten.
Sein überhitztes Gehirn schleuderte zwischen den Optionen: Zu Katharina raus fahren war zu riskant. Sicher warteten die dort schon und er brachte seine Familie in Gefahr – das ging nicht. Verdammt noch mal, was wollten die?
Nur Antonows Vermächtnis, – die Listen? Sicherlich auch ihn als Mitwisser beseitigen, soviel war ihm jetzt klar, anders war diese Brutalität nicht zu erklären. Weiter abtauchen, lag also nahe – aber wohin?
Sein Auto aus der Reparatur abholen erschien ihm nicht sinnvoll, denn wohin sollte er fahren? Sicher kannten, die ihn verfolgten, auch sein Autokennzeichen, wenn sie über zwanzig Jahre vergangene Adressen, wie Franzfelde, auf dem Schirm hatten.
Er lief ziellos, wie betäubt, durch die Stadt, schaute wie abwesend in Schaufenster und ignorierte die Blicke der Kinder, die ihm belustigt, ob seines skurrilen Aufzuges, der sich als Mischung aus Rumpelstilzchen und Klabautermann darstellte, hinterher blickten.
In der Hitze des Tages wurden seine Gummistiefel zu Schweißbädern, sein Südwester zur Brutkappe und sein Anglergepäck zur Plage.
Am S-Bahn-Bahnhof Frankfurter Allee trieben ihn die schmerzenden Füße ins Café vom Ring-Center. Er setzte sich unter eine Markise, ließ sich einen Eis-Kaffee und zwei große Mineralwasser bringen, – zog die Stiefel aus und goss sich das Wasser über die heißen, wundgescheuerten Füße.
Mit berlinischer Gleichmütigkeit ignorierten die anderen Gäste diese Attitüde eines ungewaschenen, alternden Stadtindianers – sahen sie doch in der Gegend täglich Verrückteres.
Was tun?
Seine Schwester Maria und sein Schwager fielen ihm ein – nur zwanzig Minuten mit der S-Bahn – und ein Gastgeschenk hatte er auch: geräucherten Aal.
Er bezahlte, quälte sich in die Stiefel und brauchte dann einige beherzte Schritte um den aufflammenden Schmerz zu ignorieren.
Unter der Brücke durch schwenkte er gerade in die Gasse zwischen Kaufhaus und Viadukt zum Bahnhofs-Eingang, da erhob sich ein leiser Klang wie ein fernes, weinendes Horn im Sturm, – dem Seefahrer den sicheren Hafen weisend.
Es war eine Harmonika, die aus dem Menschenstrom herauf klang und Kalinka spielte, wie einen Blues. Im Näherkommen sah er rechter Hand vor der gelbroten Backsteinmauer, einen Musiker hocken, den die Passanten umfluteten wie eine Buhne im Strom. Den antrabenden Oie in seinem exotischen Aufzug wahrnehmend, sang der alte, weißhaarige Musikant aus voller Kehle, – Kalinka – kalinka – kalinka moja! W sadu jagoda malinka, malinka mojaaaa – wie wenn er Oie erwartet hätte.
Seltsam berührt, empfand er es in dem Augenblick wie einen Gruß von Igor Antonow, aus seinem himmlischen Parallel-Universum – und wie eine Mut machende Bestätigung seines Entschlusses, dessen kryptisches Vermächtnis nun anzunehmen.
Aus dem Menschstrom ausbrechend, verharrte er beim Harmonikaspieler, fingerte dann verträumt einen Fünfeuroschein aus der Weste und legte ihn in den rot-samten ausgeschlagenen Harmonika-Koffer.
Der tiefe, dankbare Blick aus wasserblauen Augen und ein feines Nicken waren wie eine erneute Bestätigung, und wie ein Augenaufschlag des Freundes im Jenseits.
Dem folgte – als wolle Igor ihm Beine machen – ein abrupter Tempowechsel vom Blues in den Kasatschok: Kalinka–kalinka–kalinka moja – der den vorbeieilenden Passanten ein Lächeln in die Gesichter zauberte und – als musikalischer Marschbefehl – bei Oie wie eine Injektion Adrenalin wirkte.
Er spannte die alten Knochen, ruckte an, zwinkerte dem Musikanten dankbar zu, und stieg auf zur S-Bahn.
Als er bei seiner Schwester auftauchte, hatte er sich gefangen. Sie war noch auf der Arbeit, aber sein Schwager Rudolf begrüßte ihn und staunte: »Wat denn, angeln tuste ooch?«, mit dem typischen Berliner Slang, den man abließ, wenn man unter Freunden war.
Er überreichte einen Aal und bat um ein Quartier – weil er Ärger habe und nicht nach Hause könne – so beschrieb er es.
Rudolph verstand ihn offenbar, fragte nicht weiter und bat ihn herein. Oie borgte sich Sandalen und frische Sachen, stieg unter die Dusche und war ein neuer Mensch.
Dann setzten sie sich bei einer Flasche Bier unter die Weinpergola, bis seine Schwester eintraf.
Rudolph sprang auf und ging in die Küche, das Abendbrot zuzubereiten.
Die Schwester war mehr als erstaunt über den überraschenden Besuch und da Albrecht einige Tage bleiben wollte, hatten sie gefühlt alle Zeit der Welt, tratschten über die letzten Ereignisse in der Familie, ohne dass Oie die Nachricht über den toten Bruder, die ihm die ganze Zeit im Nacken saß, anzusprechen vermochte.
Als sie dann aber am Abend in der Stube zusammensaßen, Wein tranken und alles besprochen war, fasste er sich ein Herz: »Maria, ich muss dir was Schlimmes sagen: Vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass Otto im Jahr neunundachtzig in Russland umgekommen ist.«
Die Schwester wandte sich ihm wie vom Blitz getroffen entgeistert zu, schwieg mit verkrampftem Mund wurde bleich und brach in Tränen aus. Nach einer Weile fassungslosen Schluchzens sagte sie: »Ich habe es nie glauben wollen, hatte immer einen Rest Hoffnung, dass er heimkehrt, irgendwie.
Wenn du das jetzt sagst, ist es, als ob alles gerade geschehen wäre, – woher weißt du es?«, fragte sie mit leidvoll-erstarrtem Gesicht.
Albrecht nahm sie in den Arm und auch ihm kamen die Tränen: »Ein alter Freund aus Russland hat es mir vor seinem Tode mitgeteilt, aber wo und wie wusste er auch nicht. Nur eine Person, die mir mehr sagen könnte, hat er aufgeschrieben. Die lebt in Russland.«
Seine Schwester löste sich und suchte die Beherrschung: »Ich kannes nicht begreifen, so ein kluger und guter Mensch, wer bringt so jemanden um?«
»Umbringen? – Ich weiß nicht«, versuchte Oie sie zu trösten.
»Es ist bisher nur eine Information aus einer für mich seriösen Quelle, dasser tot ist. Deshalb muss ich hin, um mehr zu erfahren.«
»Kann das nicht jemand anders tun? Ich möchte dich nicht auch noch verlieren. Mit soviel Liebe habe ich euch begleitet – bis ihr mir über den Kopf gewachsen seid. Trotz der ganzen Jahre, seit er verschwunden ist, ist es immer noch schrecklich. Wenn ich dich sehe, denke ich manchmal es ist Otto, oder er kommt wenigstens gleich rein, mit einem lustigen Spruch – und wir können wieder zusammensein.
Ihr wart ja wie Abziehbilder, nur im Temperament so verschieden. Weißt du, wie oft ich uns nachts in meinen Träumen, in der Sonne spielend, im Garten sehe? Oder beim Füttern unserer Kälbchen, Katzen und Kaninchen. Es ist jedes Mal herzzerreißend, wenn ich aufwache. Dann brauche ich lange, um mich zu fassen und den Traum Beiseite zu schieben.
Die ersten Jahre, seit er vermisst ist, habe ich in meinen Träumen ganze Bäche von Tränen geweint. Schöne Träume und Tränen aber nützen ja nichts, wenn das Erwachen so bitter ist. Nur weiß ich nach zwanzig Jahren immer schon vor dem Aufwachen, dass es nur einTraum ist – das macht es aber nicht einfacher.«
Tief ergriffen durch die Nachricht von Ottos Tod sprachen sie noch lange über ihre Kindheit auf dem Bauernhof ihrer Eltern und gingen dann zur Ruhe.
In dieser Nacht lag Oie lange wach. Seine Schwester hatte dicht am Wasser gebaut, das war ansteckend und das hatte sie von ihrer Mutter. Auch er hatte lange nicht mehr soviel Tränen vergossen. Wie aber konnte er ihr und sich helfen? – Wie konnte es weitergehen?
Wie kam er an Informationen, was mit Otto geschehen war – und warum?
Im Halbschlaf umschwebten ihn schöne Bilder. Otto, der freundliche Schöngeist, der als studierter Historiker soviel wusste und Albrechts Kindern der liebste Onkel war. Voller Fantasie, verspielt und ein Erzähler vor dem Herrn, hingen sie an ihm, sobald er auftauchte.
Otto selbst hatte noch keine Familie, weil die passende Prinzessin fehlte, wie er immer sagte, um die Neugier der Kinder zu stillen. Umso mehr kümmerte er sich um Oies Kinder, wenn er abends Geschichten erzählte – Geschichten aus dem Wald, wie er es märchenhaft nannte.
Dabei konnten sich die Kinder immer die beteiligten Helden wünschen und Otto improvisierte. Einen Abend mit Elch, Eichhörnchen, Biber und Fuchs, – und einen anderen Abend mit der Gans, dem Bär oder Maulwurf, der Katze oder dem Frosch.
Das waren köstliche Momente damals, und jeder Abend war anders, voll von Abenteuern, Sprachwitz und Fantasie, an die sich seine Kinder noch heute gern erinnerten.
So war Otto – und als Historiker am Museum in Berlin unterfordert. »Zu viele Tabus im Gefängnis der Wörter«, sagte er immer und schrieb nebenbei, nach dem Vorbild Victor Klemperers, an der Sprache des Vierten Reiches – der DDR – wie er ironisch zu verstehen gab, wenn man ihn fragte.
Partei-Chinesisch nannte das damals der Volksmund auf diesem rasant wachsenden Friedhof der Utopien. Diese agitatorische Wort-Mischung aus ideologisch zentrierter Propaganda rund um den Klassenkampf, die Sozialistische Menschen-Gemeinschaft, die Planerfüllung, den Bruderbund mit der Sowjetunion, den proletarischen Internationalismus – den Klassenfeind und die Imperialistische Bedrohung durch den Westen.
Ernteschlacht war eines seiner Lieblingsworte als Bauernsohn. Oder Errungenschaft, fester Klassenstandpunkt, Parteilichkeit oder Einheitsfront. Dazu die permanenten Tabu-Wörter wie Mauer, Flucht, Vertreibung, Wehrdienst-Verweigerung, Reisefreiheit oder Ausreise.
Die damit verbundenen, ja verordneten Verbiegungen der Sprache, hatten es Otto besonders angetan, denn Totschweigen, Umbenennen, Überbügeln und Ausgrenzen waren die Instrumente einer von der täglichen, widerborstigen Realität überforderten Funktionärskaste.
Otto nannte diese ideologisch aufgeladenen Wort-Kapriolen, zwischen idealisierter Theorie und kolateraler Amoralität, im Umgang mit so genannten temporären Entwicklungshindernissen, ironisch Politsprech, Korrektsprech oder Sprachfrevel – denn Wörter unter Kuratel zu stellen, machte ihn wütend.
Nur fehlte ihm die Öffentlichkeit, der Resonanzboden für seineArbeit auf dem Schneidezahn der alten Propaganda-Hyäne, wie er es beschrieb.
Bis Oie, der da ein Depressionspotential befürchtete, Igor Antonow bat seinem Bruder zu vertrauen – den er ja schon von der Ausstellung in Moskau kannte – und ihm eine angemessene Aufgabe zu geben.
Von da an sammelte Otto, als Historiker, Material über die verbalen und faktischen Widerstände gegen die Perestroika in der DDR, die eben immer auch von diesen unsäglichen Sprach-Volten der Parteifürsten und ihrer wiederkäuenden Polit-Mulis begleitet wurden. Den hundert Jahre alten, klassenkämpferischen Spruch Honeckers ‚Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf’, konnte er, mit finalem Esels-Geschrei, aufs Lustigste imitieren – da lief er zu Höchstform auf.
Otto sezierte Politsprech aus der Sicht des Historikers und fand in Igor Antonow häufig einen intellektuellen, humorigen Stichwortgeber, soviel bekam Oie am Rande mit. »Glasnost – Transparenz – heißt auch, Ursachen für systembedingte Fehlentwicklungen zu durchschauen, menschliche Verhaltensweisen zu hinterfragen, sowie die finsteren Spielregeln von Desinformation und Propaganda zu entlarven«, betonte Igor in diesem Zusammenhang.
Und zur Veröffentlichung bereit sein – da waren sie sich einig – wenn der Tag kommt, da man offiziell nach den Ursachen und was dem vorausging fragen kann.
Dem diente sein Bruder mit der Leidenschaft und der Akribie eines Wissenschaftlers, bis zu seiner Reise nach Moskau, die er Oie gegenüberals eigene Entscheidung darstellte.
Er wollte, zum Austausch, in den Kreis der sowjetischen Historiker, die sich der gleichen Aufgabe verschrieben hatten – dass er unter einem Decknamen agierte, wie nun aus den Listen Antonows zu ersehen, war damals für Oie nicht erkennbar.
Es klang damals so, als würde Otto länger bleiben, als er mehrmals anrief und zweimal Karten schrieb, aus verschiedenen Städten.
Dann verlor sich seine Spur und so oft er auch nachhakte – es war immer vergebens. Alle Nervenheilanstalten hatten sie nach Männern ohne Identität abfragen lassen, und alle Polizeibehörden nach nicht identifizierbaren Toten. – Nichts!
Selbst die Bemühungen über Igor Antonow und den Militär-Geheimdienst blieben damals ohne Erfolg. Bis sich die Sowjetunion auflöste und niemand mehr zuständig schien für einen vermissten Deutschen.