Читать книгу Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz - Страница 5
1 Der Notar
ОглавлениеWieder schien eine Schachpartie eröffnet und Albrecht van Oie fragte sich, ob es für ihn ein ebenso gutes Ende nehmen würde wie damals, als die Mauer in Berlin fiel. Als dem erleichterten Aufatmen ob des friedlichen Durchbruchs, der einen befreienden Aufbruch verhieß – Tage wie Hammerschläge folgten und die Zeit einer anderen Auslegung anbrach, die noch Generationen umtreiben würde.
Eine neue Zeitrechnung, in der die anlaufende, Geld getriebene Zentrifuge der deutschen Vereinigung sogleich begann, die suchend Besonnenen, Nachdenklichen und Verunsicherten an den Rand zu schleudern.
Nachhallende Ereignisse, Personen, Fakten und Vermutungen zwischen Kreml-Flug und Mauerfall mischten sich seither zu einem Puzzle von Figuren und Schachzügen, das unentschlüsselbar schien, da kein plausibles Gesamtbild existierte.
Was war damals wirklich geschehen, wie konnte es so schnell geschehen, vor allem aber, was waren die Hintergründe und welche Akteure gab es noch?
Igor Iwanowitsch Antonow, der Chef der Operation Ljutsch, die zur Maueröffnung führte, war im Jahr 2004 in Moskau verstorben. Oie hatte es zufällig aus der Zeitung erfahren und damals in stillem Gedenken mit einem Wodka quittiert.
Er wusste nichts von Antonows letzten Lebensjahren, hatte keine Adresse, kannte keine Verwandten, – und hatte eigentlich schon begonnen, ihn zu vergessen.
Bei ihrer letzten Berliner Begegnung in den Neunzigerjahren hatte Antonow auf Oies Nachstochern zu den Geheimnissen um die Maueröffnung wie so oft mit spöttischer Miene geantwortet: »Oie, darüber darf ich dir immer noch nichts sagen, denn das Wesen der Geheimdienste ist, sie sind geheim. Die einzige Währung, mit der Dienste bezahlen und bezahlt werden, ist das Geheimnis.«
Gleich darauf kam jedoch ein schelmisches »Aber Außenstehende könnten es so sehen...« – und er erzählte ein paar erhellende persönliche Anekdoten, die zeigen sollten, dass er guten Willens war, aber nichts sagen durfte von dem, was er als Dirigent der Operation zur Maueröffnung unzweifelhaft wusste.
Doch nun, sechs Jahren nach dem Tod des Freundes, erhielt Oie eines Abends den Anruf eines Berliner Notariats. Er möge in einer Nachlass-Sache Igor Antonow vorbeikommen und einen Brief entgegennehmen.
Sie verabredeten einen Termin für den nächsten Tag um zehn Uhr, beim Notar Bulgakow auf der Kantstraße in Charlottenburg. In dieser Nacht schlief Oie, den sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, schlecht.
Rasselnde Militäraufmärsche wechselten mit rätselhaften, hektischen Verfolgungsszenen im dunkel verhangenen Berlin, in denen sein lang vermisster Bruder Otto wie ein Spuk auftauchte und lachend auf eine von Menschen umwuselte, hell erleuchtete Bresche in der Mauer verwies, bevor er sich mit einem letzten, ewigen Blick im Nebel auflöste.
Nass geschwitzt wachte Oie auf und wusste nicht, ob er es der Traumwelt oder der kochenden Stadt zurechnen sollte, der die weiten, aufgeheizten Ziegel-Gebirge seit Tagen jede Nachtfrische raubten.
Auf der morgendlichen Fahrt durch das schon flirrende Berlin fragte er sich, was nach nunmehr sechs Jahren wohl nachgelassen werde von Igor Antonow – und was ihn das noch anginge, ihn, einen Gestalter Anfang sechzig, im zwanzigsten Jahr nach der Deutschen Vereinigung?
Oie hatte es unter unausweichlichem Anpassungsdruck geschafft, die radikalen Veränderungen des Berufsumfeldes nach der Wende zu bestehen, die so viele seiner akademischen Künstlerkollegen aus der Bahn warfen. Das hektische Tempo der neuen Zeit, die geldgetriebene Atemlosigkeit und der Verlust an Maßstäben für das Beständige, Verwurzelte und Gültige in der Gestaltung hatten ihn herausgefordert – und er hatte es, so glaubte er, mit Haltung gepackt.
Unter dem Segel der Gesamtgestaltung, wie er es nannte, um sich von den modisch aufgesetzten Attitüden der Friseure im Design abzugrenzen, wurden neue, anspruchsvolle Kunden und Partner gewonnen, die seine gestalterische Sicht teilten, kulturelle Verwurzelung schätzten, und auch die besondere Eigentümlichkeit seiner Entwürfe für Gegenstand und Raum honorierten.
Oie fühlte sich bei seiner Arbeit – wie auch jetzt auf dem Weg zum Notar – immer als Entdecker, wie vor geheimnisvollen Toren, hinter denen die menschlich-kulturellen Überraschungen, die Freuden und Schönheiten des Gestaltens zu erwarten sind.
Auch gewachsene Eigenheiten und Verwerfungen, die es zu kultivieren galt, interessierten ihn. Das war das Spannende: die neue Sicht, die unverwechselbare, menschlich kompatible Problemlösung, der die kulturellen Erfahrungen des gestaltenden Praktikers Methode und Halt geben.
Dieses Spiel von Gegenstand und Raum, das seine Leidenschaft war – und dem schon Schiller mit der ewigen Wahrheit Ausdruck verlieh, dass der Mensch nur dann ganz Mensch sei, wenn er spielt – war für ihn ein nie versiegender Quell von Freude an Gestaltung. Vor allem hielt es jung, und er fühlte sich jung, obwohl er in den Maßstäben der medialen Jugendkultur ein alter Affe, ein Silberrücken war.
Zwar zwackten am Morgen die Knochen und sein Asthma oszillierte mit den Tages- und Jahreszeiten, aber er hatte beschlossen, nur noch soviel zu altern, wie es unabwendbar war. Dafür hatte er sein Trainingsprogramm, das er zweimal die Woche durchzog. Der Kopf war jedoch das Wichtigste. Sich jünger fühlen war für ihn vor allem eine Frage kreativ-intellektueller Beweglichkeit, mit der sich Picasso einst den Nachruf verdiente, – er sei bei seinem Tode der Jüngste der Franzosen gewesen.
Jünger aussehen, das musste Oie allerdings nicht - das war ihm zu mühsam. Vor allem die visuell lärmende Endalterung durch modischen Schnickschnack – und sein es Turnschuhe.
Die schlichte, schwarze Farbpalette des Designers war sein Lieblingsaufzug. Kurz geschorene Haare und ein silbriger Dreitagebart passten am besten zu seiner kleinen, kräftigen Figur und der hohen Stirn des starken Schädels.
Er hatte sich, so fand er, mit den Jahren nur äußerlich verändert – wie er es bei vielen Menschen bemerkte, die er schätzte und die ihm nahestanden – denn innere Beständigkeit war ihm wichtiger.
Sein alter, nun toter Freund Igor Antonow, zu dessen Nachlass er jetzt fuhr, begründete das bei einer ihrer letzten Begegnungen überzeugend, als er sichtbar unter dem Chaos der Jelzin-Ära litt und an seinen Abschied vom Militär-Geheimdienst dachte: »Nur Vertrautheit, die auf Beständigkeit gründet, macht das Leben lebenswert und schafft sturmfeste Konstanten in einer Welt rasanter Variablen, die täglich drohen, unser Gehirn zu sprengen.«
So sah es auch Oie.
Sie hatten sich einst – Mitte der Achtzigerjahre – im sommerlichen Moskau kennengelernt, als er auf dem Freigelände der WDNCHa, der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der Sowjetunion, seine Stadtmöbel ausstellte. Oie hatte, als Gestalter und Mitglied des Künstlerverbandes – damals eine Voraussetzung zur freiberuflichen Arbeit – den Auftrag dazu bekommen.
Im Rahmen einer designzentrierten Leistungsschau der DDR-Wirtschaft sollte er den öffentlichen Raum auf dem zugeordneten Freigelände der Ausstellungshalle so gestalten, wie er es damals in seiner Stadt so exemplarisch angepackt hatte.
Mit dem größten verfügbaren Sattelschlepper schafften sie die Ausstellungsmuster nach Moskau. Dort baute er mit seinem Bruder Otto als Gehilfen eine Woche lang seinen Stadtmöbel-Baukasten von Haltestellen, Informationselementen, Normaluhren, Bänken, Kinder-Gartenmöblierungen, mobilen Marktständen, Leuchten und Fahrradständern auf.
Aus starken, karminrot lackierten Stahlrohren, bernsteinfarbenen Polyesterdächern, lasierten Hölzern, farbig durchscheinenden Sonnensegeln und grafisch gestalteten Emailletafeln waren sie in Material und Verarbeitung von einer bisher im Osten nie gesehener Ästhetik.
Erst wurden vorgefertigte Fundamente in die Wiese gelegt, dann die in der Heimat hergestellten, roten Stahlrohr-Konstruktionen aus Bauteilen errichtet und schließlich alles komplettiert.
Und jeden Morgen saß ein gut gekleideter Herr mit Hut und Aktentasche für eine Zigarettenlänge auf einer Bank am Freigelände und sah ihnen dabei zu. Dann grüßte er, indem er seinen Hut lüftete, und ging seines Wegs, – zur Arbeit, wie es schien. Oie konnte die Uhr danach stellen, was er im Angesicht der etwas chaotischen Begleitumstände, dieser Reise in die Sowjetunion unter den Leiden der gerade von Gorbatschow verkündeten Prohibition, im Nachhinein als merkwürdig empfand.
Als alles aufgebaut war, sie nur noch die Schilder polierten und der fremde Herr wieder eine Weile geschaut hatte, kam er herüber. Er stellte sich vor – auf Deutsch mit leichtem Akzent: Konstantin Iwanowitsch Michakow, so hieß er damals – und war ein Außenhändler bei Mos-Film, wie er vorgab.
Er machte ein paar Komplimente und fragte Oie‚ ob er glaube, dass so etwas Schönes auch in der Sowjetunion hergestellt werden könnte? Damals war das eine typisch russische Frage. Oie kannte die diesbezüglich verwahrlosten Zustände im Zentrum der Proletarischen Welt-Revolution in Moskau schon nach wenigen Tagen und verstand Michakows Ansinnen.
Auch forderte es Oies technisch-pragmatischen Optimismus heraus – und er zeigte dem Interessierten die einfachen konstruktiven Details anhand der grafischen Blätter und Zeichnungen aus seiner Entwurfsmappe. Auch tat er seine Überzeugung kund, dass das klare, schöne Produkt immer mit der schön anzusehenden Zeichnung – dem ästhetischen Plan – beginne, und dass man handwerkliche Mängel der Produzenten durch präzisere Technologien kompensieren könne. Die Antwort war also: Ja, auch in der Sowjetunion ginge das.
Antonow, alias Michakow, war beeindruckt, bedankte sich und versprach am Abend zur offiziellen Ausstellungseröffnung zu kommen. Auch wollte er einige Freunde mitbringen. Diese gehörten, wie Oie später herausfand, zu den so genannten Germanisten in der politischen Szene Moskaus, eine Bezeichnung für einflussreiche Politiker des Kreml, die auf Grund ihrer Aufgaben der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte nahe standen.
So fing alles an, – und nun, nach über fünfundzwanzig Jahren, wurde Oie zu diesem Notar namens Bulgakow bestellt, von dem er noch nie zuvor gehört hatte.
Er kurvte durch ein ausgetrocknetes, nach Auspuffdünsten und Staub muffelndes Berlin, das die heraufziehende, unerbittliche Hitze des Tages ahnen ließ. Die Windstille der letzten Tage ließ schon früh eine Dunstglocke entstehen, deren waberndes Gelbgrau die Stadt wie mit einem Farbfilter überzog.
Von Ampel zu Ampel schnürte ihm sein Asthma mehr den Hals zu und die gefühlte Temperatur stieg, – wie ein beunruhigender Indikator kommender Ereignisse. Als ahnte sein Körper, dass ihn das Kommende zutiefst erschüttern würde, und dass bald Tage folgen sollten, an denen eherne Gewissheiten in einer Flut neuer Hintergründe zusammenstürzten.
Pünktlich um zehn Uhr trat er in die Kanzlei im ersten Stock eines imposanten Berliner Gründerzeitgebäudes. Dunkles Eichenholz auf dicken Teppichen, grünes Chrom-Leder und vergoldeter Möbelzierrat, über dem ein aromatischer Geruch von Zigarre schwebte, empfingen ihn.
Der Notar war auf den ersten Blick, in Garderobe und Bewegung, ein aristokratischer Typ. Er war zuvorkommend höflich, und seine filmreife theatralische Gestik war mit diesen kleinen Pausen versehen, die der geschäftliche Angler benutzt, bis der Fisch fest angebissen hat.
Der Erfolg seines Tuns war in der üppigen Ausstattung seiner Residenz-Kanzlei sichtbar: eine hochherrschaftliche Büroflucht im Stile der Zarin Katharina, der in allen Facetten, mit Bildern, Karten und kostbarem Interieur dieser Zeit präsent war.
So gelang auch der schnelle Einstieg in die Geschichte und Poesie preußisch-russischer Beziehungen. Ein kurzer Austausch über die anhaltinische Prinzessin Katharina, die der Große Friedrich der Zarin Elisabeth – der Mutter des künftigen russischen Zaren – als dessen Gattin verschrieben hatte. Wie ein Apotheker, der genau dosiert, was hilft. Das wiederum rettete dem später von Feinden umgebenen Friedrich den Hals.
Eine der ersten gelungenen, konspirativen, strategischen Operationen in der neueren Geschichte der Diplomatie zwischen Preußen und Russland – da war man sich schnell einig. Bulgakow erzählte auch von der Verbindung seiner Familie nach Deutschland, da diese, wie tausende Wissenschaftler, Beamte und Intellektuelle der Zarenzeit, nach der russischen Revolution in Berlin eine neue Heimat gefunden hatten.
Dann rief er über die Gegensprechanlage nach seiner Sekretärin, stand auf und fingerte einen Schlüssel aus seiner Weste, mit dem er den Tresor aufschloss, der sich hinter ihm in der barocken Bücherwand befand. Er suchte etwas umständlich und entnahm ein Kuvert.
Auf Oies Frage, warum der Brief denn hier sei, und nicht auf einem Postamt, wedelte Bulgakow damit und schloss seine Froschaugen für eine etwas zu lange Sekunde – wie das Tier vor dem Sprung.
Notariell gravitätisch formulierte er, sich setzend, vorsichtig: Es gehe um ein Vermächtnis, das er zu erfüllen hätte. Ein Emissär, wenn man eine ältere Dame aus dem Umkreis der Familie Antonow so nennen könne, hätte den Brief vor ein paar Tagen aus Moskau gebracht.
Wie auf ein Stichwort trat Bulgakows Sekretärin hinzu: eine üppige Blondine in leichtem, geblümten Sommerkleid. Mit weißem Teint und stark geschminkt, war sie der Prototyp der russischen Schönheiten, die Oie schon damals auf besondere Weise faszinierten. Wie Blumen vor dem Verwelken, die in einem letzten Farbenrausch die Bienen locken. Die einschwebende Duftwolke ihres teuren Parfüms war wie eine benebelnde Bestätigung.
Ein Formular vor den Notar auf den Schreibtisch legend, warf sie einen kurzen Blick auf den offenen Tresor und musterte den Gast misstrauisch aus den Augenwinkeln, als müsste sie sogleich ein Echtheits-Zertifikat seiner Person zu Protokoll geben.
Als sie Oies bewunderndem Blick begegnete, fragte sie mit dem erwarteten Augenaufschlag und singendem Akzent, ob die Herren Kaffee wünschten. Der Notar empfahl Eis-Kaffee.
Die Blondine verschwand ihn zu holen.
Bulgakow drehte und wendete das gepolsterte Kuvert einen Augenblick zögernd, bevor er es mit einem Ruck, dem Froschblick und freundlichen Worten über den Tisch reichte: Er freue sich es auszuhändigen, wisse aber nicht was darin ist, denn die absendende Person sei verstorben.
Die alte Dame, so erzählte er, war auch sehr bedrückt und aufgeregt, da sie das ihr aufgetragene Vermächtnis aus nicht erklärten Gründen seid sechs Jahren mit sich herumtrug. Nun brenne es ihr so auf der Seele, dass sie diesen letzten Wunsch Igor Antonows erfüllen wolle und dem Notar den Auftrag dazu erteile.
Die Sekretärin kam herein, schaute wieder mit lächelndem Scanner-Blick auf Oie, servierte den Eis-Kaffee und verschwand.
Genüsslich tranken sie die Kühle.
Der Notar tupfte sich mit der Serviette etwas Sahne von den Lippen, hüstelte und fuhr fort: »Das begegnet mir häufiger, dass alte Menschen, wenn sie das Ende ihrer Tage fühlen, den Mut fassen, wichtige Dinge zu regeln, um mit ihrem Gewissen ins Reine zu kommen und ihren Seelenfrieden zu finden. Gerade mit Russen erlebe ich das, trotz der sechzig Jahre von verordnetem Atheismus, denn es sind die lebendigen Reste des orthodoxen Glaubens in ihrer russischen Seele, Herr van Oie. Wenn Sie wüssten, wie viele der ehemaligen Macht-Eliten, der Genossen des alten Systems, zum Glauben zurückgefunden haben, Sie würden sich wundern.«
Dabei schob er ein Formular über den Tisch, ließ ihn quittieren, notierte seine Pass-Nummer, bedankte sich – und empfahl seine Dienste für künftige Geschäfte mit Russland.
Auf Oies Frage, was er schuldig sei, beschied der lächelnde Frosch: Nichts – die alte Dame, deren Namen er nicht nennen dürfe, hätte ihn bereits honoriert.
Überrascht, verunsichert, gespannt und neugierig fuhr Oie durch die Backofen-Straßen Berlins. Jedes Lebewesen schien nun die Sonne zu fliehen. Selbst Spatzen unter den Straßenbäumen, an den Brotkrumen-Quellen der Dönerbuden, hockten reglos im Schatten, um mit angelüfteten Flügeln etwas vom Fahrt-Wind der vorbeirauschenden Wagen zu erhaschen.
Auch Oie stieg eine unerklärliche Hitze in den Kopf, obwohl seine Klima-Anlage unter Volllast lief. An jeder roten Ampel schielte er auf das Kuvert neben sich auf dem Sitz. Er hätte es am liebsten gleich aufgerissen oder es wenigstens gefragt: »Was ist in dir – was ist dein Geheimnis?«
Ein Geheimnis lauerte da, soviel spürte er – und das beunruhigte ihn zutiefst. Er bezwang sich, kurvte drei Runden für einen Parkplatz ums Stein-Karree und stieg auf zu seiner kleinen Kartause, wie er sie nannte, einer Arbeits-Wohnung im Hinterhaus eines halb verlassenen, heruntergekommenen Mietshauses, nahe der Frankfurter Allee.
In der Wohnung zögerte Oie noch immer so, als ahne er, dass sein Leben von nun an aus den Fugen geraten würde.
Igor Antonow, der Stratege, der nach wabernden Gerüchten den Weg zur Deutschen Einheit bereitet hatte, was konnte und wollte er ihm noch mitteilen – vor allem auf diesem konspirativen Weg? Und warum hatte die alte Dame sechs Jahre seit seinem Tode verstreichen lassen?
Es war wohl doch ein besonderes Geheimnis, da war er sich jetzt sicher.
Rituell geprägt, geschuldet seinen christlichen Wurzeln, goss er sich einen Wodka ein, zündete eine Kerze für den Verstorbenen an, und wünschte Igor Antonow ein schönes Dasein in der anderen Welt. Dann öffnete er das Siegel.