Читать книгу Was uns den Schlaf raubt - Reinhard Pietrowsky - Страница 21
3.5 Albträume als Ausdruck des Seelenlebens
ОглавлениеGanz im Gegensatz zu den geschilderten Auffassungen, dass Albträume von Göttern eingegeben oder von Dämonen stammen und auch im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Auffassung, dass es äußere Sinnesreize seien, die die Albträume verursachten, steht die Meinung, dass Albträume der Seele des Träumers entstammen würden. Diese Auffassung ist uns zuerst von Aristoteles bekannt, der in seinen Schriften „Über die Träume“ und „Über die Weissagungen im Schlaf“ den Standpunkt vertritt, dass die Träume eine spezifische Erfahrung im Schlaf seien, die zum sensitiven Seelenteil gehören, aber nicht eine Folge von Sinneswahrnehmung sei, sondern von Vorstellungen (Näf, 2004). Somit vertritt er explizit die Meinung, dass Träume nicht gottgesandt seien. Aristoteles begründet seine Traumtheorie mit einer Reihe von empirischen Beobachtungen und psychophysiologischen Befunden. Er schließt jedoch nicht aus, dass es auch mitunter hilfreich sein kann, Träume zu deuten (was vermutlich seiner Zeit geschuldet war, in der die Traumdeutung eine wichtige Rolle spielte), und betont auch die medizinische Diagnose und Prognose aufgrund von Träumen, was in Übereinstimmung mit seiner Auffassung ist, dass Träume seelische Vorgänge wiedergeben. Auch weist er auf den Zusammenhang zwischen Träumen und Ereignissen der Wirklichkeit hin. Das steht zwar nicht völlig diametral der Auffassung seiner Zeit entgegen, dass Träume gottgesandt seien, da auch da das Leben der Menschen Anlass für die Götter sein kann, über Träume in dieses einzugreifen. Es ist aber insofern revolutionär, da Aristoteles annimmt, dass Erfahrungen des Lebens direkt, also ohne Eingreifen der Götter, sich im Traum niederschlagen. Daher gelangt er auch zu der Auffassung, dass die Träume der tugendhaften Menschen besser seien als die der anderen Menschen. „Bei Aristoteles wird … der Weg geöffnet zu einer Betrachtung der Träume, welche diese in Zusammenhang mit charakterlichen und intelligenzmäßigen Besonderheiten der Menschen stellen“ (Näf, 2004; S. 61). Somit sind Albträume auch Folgen der charakterlichen oder moralischen Schwäche der Betroffenen oder Ausdruck von tatsächlichen Belastungen oder angstbesetzten Ereignissen.
Schließlich nahm Aristoteles auch an, dass „durch den Schlaf der Geist klüger werde“; eine Einsicht, die auch durch die moderne Schlaf- und Traumforschung (siehe Kapitel 5) bestätigt wird. Jedoch wissen wir nicht, in welchem Zusammenhang oder durch welche Mechanismen Aristoteles dieses Klügerwerden des Geistes durch den Schlaf meinte. Aufgrund seiner Traumlehre können wir aber annehmen, dass dies in Träumen dadurch geschieht, dass durch den Schlaf aktuelle Sinneseindrücke fehlen und die vorhandenen, bzw. während des Wachens aufgenommenen Sinneseindrücke in Form von Vorstellungen im Zentralsinn des Herzens verarbeitet und bewusst werden. Das entspricht ziemlich genau der gegenwärtigen Erklärung für die Gedächtniskonsolidierung und Einsichtsbildung im Schlaf, sofern der „Zentralsinn“ vom Herzen in das Gehirn verlegt wird (z.B. Diekelmann & Born, 2010; Wagner et al., 2004).
Die Sichtweise, dass die Träume ein Ausdruck des Seelenlebens sind, war auch eine der Grundlagen für die Nutzung des Heilschlafs in den Asklepieien der Antike. Zwar wurden die Träume des Heilschlafs dazu genutzt, dass durch sie die Götter mit dem Erkrankten in Kontakt treten konnten und damit zur Heilung beitragen oder über die Deutung der Träume eine Heilung gefunden werden konnte (siehe Kapitel 3.1). Jedoch bestand auch die Annahme, dass in den Träumen sich die akuten Belastungen und Probleme des Schläfers widerspiegeln, sodass die Deutung der Träume auch dazu genutzt wurde, diese Belastungen zu reduzieren oder Lösungen für aktuelle Probleme zu finden. Somit finden wir hier auch – und interessanterweise parallel zu der Annahme, dass die Träume durch die Götter eingegeben sind – die Auffassung, dass die Träume auch ein Produkt der Seele, der Psyche des Träumers sind.
Wir können also festhalten, dass unsere gegenwärtige Sicht, dass Träume und Albträume ein Ausdruck des Seelenlebens sind und nicht von äußeren Mächten eingegeben werden, bereits von Aristoteles beschrieben wurde, auch wenn diese Auffassung Jahrtausende lang hinter den viel schillernderen Annahmen, dass Träume von den Göttern oder von Dämonen stammen, weit zurückstand. Die Annahme, dass Träume und Albträume ihre Ursache im Innerpsychischen des Träumers haben, wurde erst mit Beginn der modernen Psychologie wieder populär.
2 Maul: München, 2013.
3 Selbstverständlich konnten die Engel auch dem wachen Menschen erscheinen, wie etwa der Erzengel Gabriel, der Maria die Geburt Jesu verkündet, oder die Engel, die den Hirten die Geburt Jesu verkündeten.
4 In der Übertragung von R. Schrott, München, 2008.
5 Friese: Die Ästhetik der Nacht. Reinbek, Rowohlt, 2011.
6 Die Schreibweise „Alp“ wird in diesem Buch für den Erdgeist dieses Namens verwendet, die weitaus gebräuchlicher war als die Schreibweise „Alb“.
7 Unter einem „Traumgesicht“ versteht man den eigentlichen Inhalt eines Traumes.
8 Unter „Dschinn“ werden im arabischen Kulturkreis Geister verstanden – ähnlich den Geistern und Kobolden Europas –, die aus vorislamischer Zeit stammen und in den Islam integriert wurden. Ihnen ist sogar die Sure 72 gewidmet. Die Dschinn befinden sich zwischen den Menschen und den Engeln und können mit Menschen über Visionen und Träume kommunizieren. Menschen können auch von Dschinn besessen sein, ähnlich der Besessenheit durch Dämonen.