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Die Sanitätseinheiten – unentbehrlich für die Moral der kämpfenden Truppe. Bericht eines Divisionspfarrers

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Neben den Ärzten waren die Divisionspfarrer besonders wichtig, die sich den größten Teil ihrer Zeit um die Verwundeten und Kranken auf den Hauptverbandplätzen und in den Lazaretten kümmerten. Der Bericht31 des evangelischen Pfarrers Martin Tarnow32, der hier von den Sanitäts-Kompanien der 16. Panzer-Division berichtet, sei allen Zeitzeugenberichten vorangestellt: „Hier soll davon die Rede sein, was man im Kriege nur selten sah und hörte, was bei den Eilmärschen oft verborgen blieb oder was man mit schnellem Blick kaum wahrnahm – nämlich von dem, was sich auf vorgeschobenen Verbandplätzen dicht hinter der Front abspielte, in Operationszelten oder Operationswagen, auf der Trage oder im Erdbunker, in armseligen Hütten oder Kellern; von den letzten Stunden oder letzten Augenblicken unserer Kameraden. Für unsere Verwundeten an der Front gab es zwei Lichtpunkte: die Kameradschaft und die wehende Rotkreuzflagge an den Verbandplätzen. Jeder Soldat mußte damit rechnen: Mir kann etwas passieren! Aber er durfte auch damit rechnen: Mir wird geholfen werden! Und wer unter uns als Verwundeter die Rotkreuzflagge von weitem erblickte, wußte sofort: Hilfe ist mir sehr nahe. Welch ein Licht in der dunklen Nacht des Krieges für jeden Verwundeten: diese flatternde Rotkreuzflagge an einem Verbandplatz!


Pfarrer Martin Tarnow

Viele Kameraden waren von tiefer Dankbarkeit erfüllt, wenn sie die Namen der beiden Stabsärzte Dr. Paal und Dr. Weber hörten, denn ihrem großen ärztlichen Können und Wirken verdankten sie ihr Leben. Aber nur wenige wußten vielleicht, daß jeder unserer beiden Ärzte allein in Rußland etwa 15 000 Operationen durchgeführt hatte! Manche unter uns würde schon längst die russische Erde decken, wären unsere Ärzte und ihre getreuen Helfer nicht gewesen.

Es war eine ‚windige Sache‘, so dicht hinter der Front zu operieren, manchmal nur ein bis zwei Kilometer hinter der kämpfenden Truppe. In der Tat sollten auch Pfarrer Peter Mohr33 und ich das alsbald erfahren. Wir fanden oft schwerverwundete Kameraden; in Windeseile war eine Trage zur Stelle, von tapferen Sanitätern im Eiltempo gebracht, und wenig später lagen die Verwundeten schon auf dem Operationstisch, während ringsum Granaten einschlugen.

Welch eine Wohltat war die schmerzlindernde Spritze! Es gab schreckliche Verwundungen, und die Schmerzen waren darum oft grauenhaft. Einmal wurde ein Oberleutnant gebracht; Granatsplitter hatten seinen Oberschenkel zertrümmert, und ein Knochenteil ragte wie ein Dolch weit über das Knie hinaus. ‚Mutter, Mutter,‘ kam es vor großen Schmerzen über seine Lippen. Oberarzt Dr. Hegemann34 und Dr. Paal bemühten sich um den so schwer Verwundeten. Das Erste: die Spritze, um die furchtbaren Qualen zu lindern. Der ‚Alte Fritz‘ war gelegentlich über die Schlachtfelder geritten und wenn ein Schwerverwundeter vor Schmerzen schrie, pflegte er zu sagen: ‚Sterbe er anständig!‘ So konnte nur jemand reden, dem Schmerzen erspart geblieben waren – wer aber selber einmal solche Schmerzen erlebt hatte, der wußte aus Erfahrung, was gelitten wurde. Und welche Erleichterung, schreien zu dürfen, und welche Wohltat, daß jemand einem Klagenden die Hand reichte, sei es Arzt oder Pfarrer. Auch jenem, dem ein Splitter den ganzen Unterkiefer weggerissen hatte, auch dem, dem ein Schuß quer durch beide Augen gegangen war. Manchmal falteten wir Seelsorger nur stumm die Hände, und der Schwerverwundete spürte es. Beendete aber der Tod die oft furchtbaren Qualen, dachten Pfarrer Mohr und ich an das Wort der Hoffnung: ‚Der Schmerz wird nicht mehr sein!‘ Ich sprach dieses Wort der Hoffnung an den Gräbern.

Nun lagen Major Stock, Kommandeur der Nachrichtenabteilung, und ich einmal in jenem Operationswagen von Dr. Paal; russische Jagdflugzeuge hatten ihre höchst unsympathischen kleinen Splitterbomben über unseren Verbandplatz abgeworfen. Ihr infernalisches Geräusch beim Heruntersausen jagte den Major und mich unter einen Lastwagen. Da wir beide etwas höher lagen als die meisten Einschläge, gingen die gefährlichen Splitter in die Mulde, und nur wenige trafen uns unter dem LKW. Major Stock erwischte es an der Ferse, mich am Oberschenkel. Der Major sprach ein kurzes Gebet. Blitzschnell landeten wir im Operationswagen von Dr. Paal, die Spritze vollbrachte ihre wohltuende Wirkung, der Verband wurde angelegt, und dann ab zum Hauptverbandplatz. So also ging es im Operationswagen zu: Es wurde kaum gesprochen; was vorher eingeübt worden war, klappte wie am Schnürchen; die knappen Handbewegungen von Dr. Paal, seine sprechenden Augen, und seine Sanitäter wußten sofort Bescheid. Noch ein schnelles ‚Danke‘ kam über unsere Lippen, und schon kamen die nächsten Verwundeten auf den Op-Tisch. Einer schrie fürchterlich; ihn hatte es schwer erwischt. Welche Wohltat, diese ärztliche Versorgung einmal miterleben zu können! Nun konnte man sich in das Leiden der Verwundeten hineinversetzen.

In pausenlosem Einsatz waren auch Dr. Weber und seine getreuen Helfer tätig. Bis zur Erschöpfung wurden die Verwundeten Tag und Nacht betreut. Am 18. August 1941 war Dr. Paal vor versammelter Sanitätskompanie in Nikolajew das EK 1 verliehen worden. General Hube35, der selber so manches Mal Besucher auf den Verbandplätzen war, hatte die Verleihung der Auszeichnung empfohlen. Sie war zugleich eine Anerkennung für seine getreuen Mitarbeiter bis hin zum schlichten Sanitätsgefreiten gewesen. Kerzengrade, wie immer, war Dr. Paal vor der versammelten Sanitätskompanie gestanden und hatte die Worte der Anerkennung für ihn und seine getreuen Mitarbeiter gehört. Wir alle, die wir dabei gewesen waren, hatten uns mitgefreut. Die Auszeichnung war wohlverdient, denn wer in Gefahr operieren mußte und sich nicht wehren konnte, der mußte die Ruhe bewahren, konnte den Operationsraum nicht verlassen und durfte nichts anderes empfinden als die Betreuung der oft so schwer Verwundeten. Solche Stunden vergaß man nicht! Im Wirken unserer Ärzte und ihrer getreuen Männer lebte der wunderbare Satz von Paracelsus: ‚Der Grund der Arznei ist die Liebe‘. Sie redeten nicht viel darüber, aber was geschah, und zwar für alle Verwundeten, auch für die russischen, geschah aus dem Geiste des Paracelsus. Allein auf dem Hauptverbandplatz in Buki bei Tscherkassy waren in wenigen Tagen über 2000 Verwundete versorgt worden; die Sanitätskompanien der 16. Panzerdivision hatten Übermenschliches geleistet. Als wohlverdiente Anerkennung war Dr. Paal und mit ihm zusammen der ganzen 1. Sanitätskompanie das Deutsche Kreuz in Silber verliehen worden.


Dr. Erich Weber, Chirurg des Feldlazaretts 297

Wo immer es einen Verbandplatz gab, dort gab es auch Gräber von Gefallenen, und über diesen Gräbern das schlichte Holzkreuz mit Namen, Geburts- und Todestag. Sanitätsgefreiter Baumann und seine Mitarbeiter zimmerten diese Kreuze und erwiesen damit den Gefallenen das Werk der Barmherzigkeit. Das Grab mit dem Kreuz noch schnell fotografieren und das Bild alsbald heimwärts schicken, damit Trauernde getröstet würden, das gehörte selbstverständlich dazu.

Vor allem die Panzer verursachten schwerste Verletzungen. Ich holte einmal aus einem von einer Granate durchschlagenen Panzer einen Mann mit einem vielzackigen Splitter heraus: eine grausame Verwundung! Sorgsam wurde der Verletzte mit der Zeltbahn auf die Trage gelegt, auf den Panzer gehoben und dann auf den Op-Tisch. Der Operateur und seine Helfer standen schon bereit; leider war es wieder einmal wie so oft eine schwere Kopfverletzung. Sofort wurde der Verband sorgfältig angelegt, und wir hofften, daß das Leben im Lazarett doch noch erhalten werden konnte. Später traf ich den Kopfverletzten wieder; man hatte ihm den Splitter mit einem Magneten aus der Stirnwunde herausgezogen.

In einem russischen Dorf lagen wir wie so oft ganz plötzlich unter schwerem Artilleriebeschuß – Einschlag auf Einschlag. Nur eine Granate explodierte in einer Baumkrone, unter der einige Kameraden standen. Die meisten Verwundungen waren Gott sei Dank nicht schwer, aber ein Kamerad wurde wachsbleich, keine äußere Verletzung war zu sehen. Jetzt schnell zu Dr. Paal, der das weiße Hemd öffnete und mit einem Blick wußte: Granatsplitter tief im Bauch! Er bemerkte: ‚Hier draußen kann ich leider selber nicht operieren, so gern ich es täte. Nur sorgfältig einen Verband anlegen, dann aber sofort zum Hauptverbandplatz und vielleicht in ein Lazarett der Heimat!‘ Freundlich wies er die Sankafahrer an: ‚Äußerst vorsichtig auf der Rollbahn fahren, vielleicht kann man dem Mann dort noch helfen!‘

Auch dieser Krieg ging leider nicht ohne Nahkämpfe ab. Einer unserer tapfersten Offiziere hatte diese Nahkämpfe nach vielen eigenen Erlebnissen verflucht. ‚Zu Ihnen darf ich ja sprechen,‘ sagte er zu mir. ‚Furchtbare Verwundungen bei Nahkämpfen durch das aufgepflanzte Bajonett, grausam der Nahkampf mit dem geschliffenen Spaten in den Laufgräben und das entsetzliche Stöhnen der gequälten Verwundeten!‘ So mancher von ihnen hatte schon dadurch das Leben behalten, weil das strömende Blut unter der geschickten Hand des Chirurgen und seiner Helfer gestillt werden konnte. Dr. Paal strahlte vor Freude über eine gelungene Rettung, und Feldwebel, Unteroffiziere und Gefreite der 1. Sanitätskompanie nicht weniger.

Schweren Herzens mußten sich unsere Ärzte so manches Mal zu Amputationen entschließen, wenn Arme und Beine nur noch durch Fetzen mit dem Körper verbunden waren. Man sah es Dr. Paal manchmal an, wie schwer ihm eine notwendige Amputation fiel. Denn nur eine solche Amputation konnte einem Verwundeten oft das Leben erhalten. Einer unserer amputierten Kameraden sagte mir einmal bei einer späteren Begegnung: ‚Nur noch ein Rumpf ist da, aber ich lebe und kann arbeiten!‘ Die Sehnsucht, zu überleben und wieder nach Hause zu kommen, war sehr groß – um so höher war die Tapferkeit einzuschätzen. Dr. Paals reiche Erfahrung war eine rettende, und junge Ärzte lernten viel von ihm.

Trotz aller Hilfeleistung war oft nichts mehr zu machen. Zweiter Chirurg nach Dr. Paal war Oberarzt Dr. Hegemann. Welch eine kameradschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ärzten! Einmal brachte man einen Kameraden zum vorgeschobenen Verbandplatz, der nach schwerer Beinverletzung mit seiner Qual Tag und Nacht einsam gelegen, gelitten und geschrien hatte, endlich aber gehört und gefunden worden war. Welch ein schauriger Anblick! In seinem zerrissenen Bein wühlten schon die Maden. Bei solcher Vergiftung eines Menschen war das Leben kaum noch zu retten, aber Dr. Hegemann versuchte es. Oberarzt Dr. Hegemann wies auf einen sehr jungen Schwerverwundeten; sein Blick besagte: Hier ist, menschlich gesehen, nicht viel zu machen. Wie gerne hätte er es getan – er war ja mit Hingabe Arzt –, aber er litt wie viele andere unter menschlicher Ohnmacht in dunkelsten Situationen. ‚Sprechen Sie doch mal mit ihm!‘ Ich wandte mich dem so jungen Kameraden zu. Ängstlich sagte er sogleich: ‚Es wäre doch schade, wenn ich abrutschen tät!‘ Solch ein Wort der Hoffnung bis zuletzt vergaß man nie. ‚Der Oberarzt soll mich doch noch operieren, bitte sagen Sie es ihm!‘ Und Dr. Hegemann versuchte mit seinen getreuen Helfern wirklich alles; aber der Verwundete wachte aus der Narkose trotzdem nicht mehr auf. Dr. Hegemann blickte traurig zur Seite, und ich konnte nur mit Paul Gerhard sagen: ‚Mach End, o Herr, mach Ende, mit aller unser Not!‘, auch mit diesem elenden Krieg. Einige fingen an zu fragen: Muß das wirklich sein? Sie fragten, gerade weil sie ihr Vaterland liebten.


Dr. Gerd Hegemann, Chirurg der 1. San.Kp. der 16. P.D.

So sagte ein Sanitätsgefreiter: ‚Und bitte kein Wasser!‘ Da wußte ich Bescheid, es handelte sich um einen Bauchschuß. Ich ging in die hölzerne Baracke, und da lag auch schon einer, mit kalkweißem Antlitz, aber beim Bewußtsein. Das irdische Ende dieses Mannes schien sehr nahe. Wir beide waren ganz allein. Jetzt nicht viel herumreden, sondern diesen Kameraden, der bei einem Spähtrupp verwundet wurde, ganz leise an ‚daheim‘ erinnern, nur nicht sagen, zwar gut gemeint und doch täuschend, aber leider oft genug gesprochen: ‚Bald wirst du wieder zu Hause sein‘ – nein, so nicht, sondern im Sinne von ‚wir werden daheim sein bei dem Herrn‘, und das auch den Angehörigen schreiben. Nur nicht von stolzer Trauer, von Ideologen am Schreibtisch ausgedacht, als ob man Tränen verdrängen könnte!

Oft bohrten sich Granaten tief in die Erde und richteten deshalb keinen Schaden an. Aber bei einem Gang durch einen rechts und links mit Sträuchern bepflanzten Hohlweg sah ich vor mir einen Trichter und darin ein Stück Uniform. Ich blickte in die Baumkrone darüber und entdeckte in den Zweigen die Reste eines menschlichen Körpers, auch einen Teil der Kopfhaut mit den Haaren. Kameraden setzten die Reste in einem Grab neben dem Verbandplatz bei – eine schaurige Erinnerung! Ich dachte an das Wort Christi: ‚Alle eure Haare sind auf eurem Haupte gezählt,‘ auch die dieses armen Kameraden.

Auch Dr. Weber besaß wie sein Kollege Paal eine reiche chirurgische Erfahrung, und darum blickten die Verwundeten voller Vertrauen in die Augen des Operateurs, besonders wenn die Verletzungen sehr schwer und die Schmerzen so groß waren, besonders bei einem Kameraden, dem eine Maschinengewehrsalve durch beide Hüften gedrungen war, oder einem im Panzer so furchtbar Verbrannten. Manches Mal riefen wir den tapferen Krankenfahrern mit ihrer leidenden Last für ihre einsame Fahrt zu: ‚Fahrt mit Gott!‘ Leichter Verwundete wurden an Ort und Stelle im Operationswagen operiert und kehrten bald vom Hauptverbandplatz zu ihrer Einheit zurück. Die erste und oft entscheidende Hilfe aber vollzog sich durch die Hand Dr. Webers. ‚Das haben wir sicher doch geschafft,‘ kam es oft hoffnungsvoll über die Lippen, aber leider manchmal kam der Satz, leise geflüstert: ‚Hier ist nichts mehr zu machen,‘ bei Kopfschüssen, zu großem Blutverlust oder abgerissenen Gliedmaßen. Die Gesichter der 2. Sanitätskompanie wurden mit der Dauer des Krieges immer ernster, und ermattet warf sich oft der Chef auf sein Feldbett, häufig nur für wenige Stunden Schlaf, denn auch die nächtlichen Bombenangriffe forderten ihre Opfer an Verwundung und Tod. Oft waren Sekunden für die Rettung entscheidend, aber Dr. Weber konnte sich vom Sanitätsfeldwebel bis zum Gefreiten auf seine Helfer verlassen, jeder von ihnen kannte seinen Platz und seine Aufgabe. Sie alle wußten, von Dr. Weber eingeübt: Auf dich kommt es jetzt an, wenn ich mit der Op beginne! Ich hatte es mit ihm nicht ganz leicht, denn er war, wie man damals sagte, ‚gottgläubig‘, zugleich aber unserem kirchlichen Dienst gegenüber an der Front sehr tolerant. Vier oder fünf Kapläne waren in seiner Kompanie Sanitätsunteroffiziere oder -gefreite. Sie sind außer einem alle gefallen.36

Auch der verwundete russische Soldat war nicht weniger Leidensgefährte wie unsere eigenen Kameraden, auch für ihn wurde der verdreckte Verband durch unseren Arzt erneuert. Mit einer russischen Ärztin in Artemowsk wiederum erlebte ich Folgendes: Nach meiner Verwundung sollte mir ein Bein amputiert werden, nicht wegen einer schweren Verwundung, sondern einer beginnenden Vergiftung nach einer leichten Verletzung. Die russische Ärztin sagte zu mir: ‚Nix operieren, deutscher Arzt noch zu jung!‘ Mit einer anderen geduldigen Therapie bewahrte mich diese Frau vor der Operation. Jeden Tag betreute sie auch mich in dem großen Raum mit vielen deutschen Verwundeten, denen sie die gleiche Hilfe erwies.

Auf einem großen Verbandplatz in einer Scheune lagen viele Verwundete, neben deutschen auch russische. Angesichts des nahen Todes gab es keine feindseligen Empfindungen mehr, sondern nur noch die Nachbarschaft der gemeinsam Geängstigten. Immer wieder hörte man das laute Rufen eines schwer getroffenen Russen: ‚Wodä, wodä!‘ Er leerte meine Feldflasche mit einem Zuge. Ich hob die Decke und sah den völlig durchgebluteten Verband auf seinem Bauch; menschliche Hilfe, die ihm auch zuteil wurde, blieb hier umsonst. Verständigen konnten wir uns beide nicht, aber seine Hand umklammerte plötzlich mein silbernes Kreuz. Vielleicht hing ein Kreuz daheim an der Wand im Hause der Eltern, an dem der Gekreuzigte einmal für alle ohne Ausnahme rief: ‚Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!‘ Seine Hand ließ mein Kreuz bald los, denn er starb schnell, aber es war trotz aller Angst ein getröstetes Sterben.


Feldlazarett 194 in Artemowsk: Verbandraum

In Kramatorskaja, einige Kilometer hinter der Front, wo die schwersten Kämpfe tobten, befand sich ein großes Feldlazarett. Ärzte und Ärztinnen – auch russische Ärztinnen! – schufteten am Operationstisch, um Leben zu retten. Mauern der Feindschaft fielen bei der Operation zusammen, denn man sah nur noch einen Menschen, der litt und auf Hilfe hoffte. In dunklen Tälern brach sich urplötzlich verschüttete Humanität, wahre Menschlichkeit Bahn. Aber das Sterben nahm in Kramatorskaja kein Ende – zu groß war der Blutverlust bei den langen Anfahrten und zu schwer die Verwundungen. Der Marktplatz wurde mit Spaten und Spitzhacke aufgerissen, um die Verstorbenen zu bestatten. Aber wie viele starben allein, ohne ein Wort des Trostes und des Beistandes, ohne einen Händedruck im Flur, auf der Trage oder in einem Klassenzimmer auf der Pritsche! Waren aber die Sterbenden wirklich allein? Da ich selber dort verwundet lag, konnte ich niemanden besuchen und ihm ein gutes Wort sagen. Aber ER selber war ja da, wenn sonst niemand neben der Trage niederknien und ein hilfreiches Wort sprechen konnte. Wie oft sah ich auch meinen katholischen Kollegen Mohr in gleicher Weise seine Kameraden mit diesem wunderbaren ‚Er selbst ist ja da‘ aufrichten!

‚Wenn das nur gutgeht!‘ pflegten jene überaus mutigen Kameraden zu sagen, die einen LKW mit Minen vollbeladen über die holprigen Straßen steuerten, denn was eine Bombe oder auch nur eine Granate mitten in die gestapelten Minen bedeutete, wußte jeder dieser Kameraden hinter dem Lenkrad. So erging es einem dieser Männer: Eine von einem Flugzeug geworfene Bombe, am blauen Himmel kaum zu sehen, traf mitten in die Fülle der Minen. Helle Blitze und Explosionen waren die Folge. Zwar kam der Fahrer gerade noch aus dem Gehäuse heraus, aber wie! Der Leib war aufgerissen, und die Gedärme schleppte er mit wankenden letzten Schritten durch den Staub der Steppe; nach wenigen Metern brach er zusammen. Helfende Kameraden waren schnell zur Stelle. Aber was sollte man noch machen? Kein Arzt befand sich in der Nähe, und die Versuchung tauchte auf: Gnadenschuß? Aber nur einen Augenblick, nicht länger, denn auch im Kriege galt: ‚Ich bin der Anfang und das Ende‘, also auch das Ende unseres Lebens. Und wenn man mit einem Bewußlosen nicht mehr reden konnte, dann konnte man die Hand aufs Haupt legen und das Zeichen des Kreuzes auf die schweißnasse Stirn machen mit seiner Botschaft: ‚Es ist vollbracht,‘ nämlich Heil und Rettung auch aus der Nacht des Todes. Sterbende können hellwach verstehen, auch wenn die Lippen sich nicht mehr bewegen.

In maßloser Qual lag ein Schwerverwundeter vor mir. Ein Geschoß hatte ihm Ober- und Unterkiefer weggerissen; nur die zerfetzten Wangen und die Nase waren noch zu erkennen. Der Menschheit ganzer Jammer konnte einen packen, wenn man in diese aufgerissenen Augen sah. Stabsarzt Dr. Paal linderte die Schmerzen, soweit möglich. Immer wieder wies der Verwundete mit der rechten Hand auf meine Pistole, die wir Divisionspfarrer zum Schutze der Verwundeten tragen mußten. Ich verstand den so schwer Verletzten sehr schnell: Machen Sie doch meiner Qual bald ein Ende, bitte! Er erhielt durch den Arzt noch eine lindernde Spritze und wurde dann vorsichtig in den Wagen mit der wehenden Rotkreuzflagge hineingetragen; das Ziel: das nächste Feldlazarett. Sein Oberleutnant erzählte mir später, der Verwundete habe die qualvolle Fahrt über die holprige Rollbahn leider nicht überstanden. Hier half nur die Erinnerung an jenes Wort des Neuen Testamentes: ‚Der Tod wird nicht mehr sein, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein.‘ Auch das Stöhnen des so schwer verletzten Kameraden wird nicht mehr sein, denn ‚das Erste ist vergangen.‘

So wie hier beschrieben – nur wenige Ausschnitte von unzähligem Sterben – ging es weiter, Tag für Tag, auch Nacht für Nacht, wenn man z. B. in tiefster Dunkelheit jemanden rufen hörte ‚Sani, Sani!‘, und man fand ihn doch nicht. Und Tag um Tag, Nacht für Nacht wurde es noch schlimmer als bisher, denn der Krieg wurde im Laufe der Zeit erbarmungsloser. Warum sollte ich die Wirklichkeit verschweigen? Denn nur die Wahrheit kann uns freimachen! Daß es noch schlimmer wurde, merkten wir auch daran, daß das Singen ganz allmählich aufhörte. Selbst Narren sangen nicht mehr ‚kein schönrer Tod, als wer vom Feind erschlagen!‘ Wer wie wir Erschlagene mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte vor einem solchen grauenhaften Ende nicht mehr singen, sondern nur noch verstummen …

Mein katholischer Kollege, Pfarrer Peter Mohr, besaß eine besondere seelsorgerische Begabung. Wenn er mit seiner warmherzigen Stimme zu den Verwundeten sprach, spürten sie alsbald seelische Erleichterung, und Sterbenden machte er mit seinem tröstlichen Wort den Heimgang leichter. Wenn er knieend das ewige Leben bezeugte, dann stand dahinter die Gewißheit: Nichts kann unsere lieben Kameraden von der Liebe Gottes scheiden! In gleicher Weise nahm er sich der verwundeten russischen Soldaten an. Wenn deren Blick auf das silberne Kreuz von Mohr fiel, entspannten sich ihre zerfurchten Gesichtszüge. Sie merkten: Mir naht jetzt kein Gegner, mir naht vielmehr ein Pontifex, ein Brückenbauer zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Gott und Mensch, auch zwischen Mensch und Mensch.

Während schwerste Kämpfe tobten, trafen wir beide unseren Divisionsarzt. Er sagte uns: ‚Dort, wo Sie jetzt hinwollen, ist es überaus windig!‘ Wir verstanden sofort, was er meinte. Mohrs Antwort: ‚Dort aber gehören wir auch hin,‘ und meinte damit auch unsere getreuen Küster Johann Wahl und Martin Krinke. Denn wenn Männer unter Schmerzen unsäglich leiden und auch sterben mußten, konnte oft allein das geistliche Wort noch lindern und helfen. Als Mohr auf dem dortigen Verbandplatz mit den vielen Verwundeten erschien, wurde es auf dem vom Stöhnen der Verwundeten erfüllten Ort ein wenig stiller, denn von ihm gingen Segensströme aus. Wie dankbar waren ihm unsere beiden Stabsärzte Dr. Paal und Dr. Weber! Mohr war in jeder Hinsicht ein tapferer Seelsorger. Wenn er einen Soldaten getroffen stürzen sah, war er alsbald bei ihm. Unser General Hube, hervorragend begabt, war zwar kein besonderer Freund der Kirche, hatte aber vor solcher Tapferkeit höchsten Respekt. Sein warmer Händedruck bezeugte es. Wie konnten wir diesen Krieg noch verantworten? Peter Mohr sprach es einmal so aus: Immer sind es unsere tapferen Landser, die für die Sünden ihrer Politiker büßen müssen! Deshalb war Mohr ein besonderer Freund der Landser, wie sie auch ihn überaus schätzten.

Selten, daß General Hube an einem Verbandplatz vorbeifuhr. ‚Bei der Rotkreuzflagge halten,‘ lautete sein Befehl. Auch Ärzte und vor allem Verwundete brauchten ein ermutigendes Wort des Kommandeurs in kritischer Lage! Unser einarmiger General wußte aus eigenem Leid, was ein Verbandplatz und ein gutes Wort für einen Verwundeten bedeuten konnten. Daher sein kameradschaftlicher Handschlag für Dr. Weber, einen Gefreiten oder einen Verwundeten, sobald es seine Zeit als Kommandeur erlaubte. Sein Blick streifte auch über die vielen Gräber neben dem Verbandplatz. Ob er an seinen gefallenen Sohn dachte und daran, daß der Krieg bald ein Ende nehmen würde? Überaus dankbar war Dr. Weber auch für die Besuche von Divisionsarzt Dr. Gerlach.

Nicht immer konnten Pfarrer Mohr und ich bei unseren beiden Sanitätskompanien bleiben, denn wir durften ja auch die Truppe nicht vergessen. Welche Freude, wenn wir auch in den vorderen Gräben auftauchten oder in einem Erdbunker! Jedes Mal aber gab uns Dr. Paal ein Handzeichen, und das besagte: Der Verwundete dort braucht ein seelsorgerisches Wort! So arbeiteten Seelsorge und Medizin im Krieg eng zusammen, ein gutes Beispiel auch für die heutige Zeit. Pfarrer Mohr stand Dr. Weber und seinen Mannen in Stalingrad und während der ganzen Gefangenschaft von 5 ½ Jahren mit glaubender Zuversicht zur Seite.“

Ein einziger Divisionspfarrer war für zehn- bis fünfzehntausend Soldaten zu wenig; jedoch befanden sich in den Sanitätseinheiten der einzelnen Divisionen mehr als 20 katholische Priester, die ihren Dienst als Sanitäter verrichteten. Ihre Mithilfe war zwar von der NS-Führung nicht vorgesehen, doch Dank des Entgegenkommens der in dieser Hinsicht viel toleranteren Kommandeure und Ärzte standen an den großen Festtagen des Kirchenjahres die von verschiedenen Priestern gehaltenen Feldgottesdienste im offiziellen Divisionsbefehl, z. B. in der 297. Infanterie-Division. Alois Beck: „An Großkampftagen war es aufgrund einer Vereinbarung mit dem dafür aufgeschlossenen Divisionsarzt und natürlich auch seitens der am Verbandplatz tätigen Ärzte selbstverständlich, daß bei Abwesenheit des Divisionsarztes, der nicht überall gleichzeitig sein konnte, ein Sanitätspriester den Sterbenden seelsorgerischen Beistand leistete.“37

Stalingrad - Die stillen Helden

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