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Die vorgeschobenen Verbandplätze
ОглавлениеBeim raschen Vormarsch, besonders bei den Panzertruppen, erwiesen sich die Sanitäts-Kompanien und Feldlazarette jedoch als zu langsam und waren nicht unmittelbar dort, wo Verwundete anfielen. Verschiedene Ärzte machten sich daher Gedanken, wie diesem Missstand abgeholfen werden konnte. Das Ergebnis dieser Überlegungen, das mehrere Ärzte für sich reklamierten, war ein vorgeschobener Hauptverbandplatz.
Dr. Kohler: „Die Entstehung des vorgeschobenen Hauptverbandplatzes in unserer Division ist mir dabei besonders berichtenswert, weil dies richtungsweisend für die anderen Divisionen wurde. Ich sagte mir: Wenn die Spitze der Vorausabteilung Feindberührung bekäme und Verwundete anfielen, machte deren Versorgung große Schwierigkeiten. Selbst, wenn im Idealfall der ernstlich Verwundete vorne sofort von einem Sanka (Krankenkraftwagen) aufgenommen würde, dann brauchte er – bei der für den Sanka erreichbaren Geschwindigkeit – Stunden, um an dem marschierenden I.R. 92 vorbeizufahren, und träfe dann auf eine im Marsch befindliche Sanitätskompanie. Man würde dann den Verwundeten an das noch weiter hinten marschierende Feldlazarett verweisen. Damit wäre aber die erste, wichtigste Zeit für die chirurgische Versorgung des Verwundeten verstrichen und bei ernsteren Verletzungen sein Schicksal sehr fraglich, seine Überlebenschancen sehr gering.
Dr. Ottmar Kohler, der berühmte „Arzt von Stalingrad“
Ich schlug deshalb dem Kommandeur der Vorausabteilung vor, es müßte schon im Verband der Vorausabteilung eine einsatzfähige Chirurgengruppe mit einem Teil der Sanitätskompanie mitmarschieren. Bei an der Spitze der Vorausabteilung entstehenden Kampfhandlungen könnte diese kleine Sanitätsformation vorne in kürzester Zeit einen Hauptverbandplatz eröffnen und die schwerer Verwundeten sofort operativ versorgen. Das Schicksal der Schwerverwundeten hing weitgehend von der frühzeitigen chirurgischen Versorgung ab. Das galt sowohl für die schweren Extremitätenverletzungen mit Verletzung großer Gefäße und starker Blutung – eine Abschnürbinde sollte nicht länger als zwei Stunden liegen –, das galt aber ganz besonders für die Verletzung der großen Körperhöhlen: Thorax, Bauch, Schädel.
Der Kommandeur der Vorausabteilung war von der Notwendigkeit einer solchen einsatzfähigen Chirurgengruppe bei der Vorausabteilung, die ich damals als ‚vorgeschobenen Hauptverbandplatz’ bezeichnete, bald überzeugt. Bei der nächsten Kommandeurbesprechung trug er diesen Plan dem General vor. Der Divisionsarzt widersprach heftig und verwies auf die bestehenden militärärztlichen Vorschriften.
Bei den nun folgenden längeren Auseinandersetzungen beharrte der Kommandeur der Vorausabteilung auf diesem Plan und machte schließlich die Übernahme der Führung der Vorausabteilung davon abhängig, daß ihm dieser vorgeschobene Hauptverbandplatz als Gruppe zugeteilt würde. Darauf befahl der General, zu der Vorausabteilung eine einsatzfähige Chirurgengruppe zu stellen, da er sich selber schon bald von deren zukünftiger Notwendigkeit im Balkanfeldzug überzeugt hatte.
Das war die Geburtsstunde des ‚vorgeschobenen Hauptverbandplatzes‘. Er wurde zunächst bei der 60. I.D. (mot.) als erster Division eingeführt. Da er sich beim Balkanfeldzug bewährt hatte, wurde er auch in Rußland beibehalten. Ich bekam also den Auftrag, eine solche Gruppe für die vordere chirurgische Versorgung zusammenzustellen. Dazu wählte ich einen Zug der Sanitätskompanie mit Mannschaften, Fahrzeugen und einem ganzen Satz Sanitätsmaterial, als Ärzte einen Chirurgen und einen Internisten – zusammen mit etwa 70 Mann – und einen Krankenkraftwagenzug. Diese Aufstellung wurde mir vom Chef der Sanitätskompanie nicht gerade erleichtert. Einmal, weil der Plan so ungewöhnlich neu war; aber auch dann, weil alles, was ich für den vorgeschobenen Hauptverbandplatz forderte, auf Kosten des späteren ordentlichen Hauptverbandplatzes ging. Aber es wurde dann trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten gut. Ich hatte nicht daran gezweifelt, daß ich als Chirurg diesem vorgeschobenen Hauptverbandplatz zugeteilt und mir auch die Leitung übertragen würde. Aber die Entscheidung fiel anders aus: Als Chirurg und Leiter des vorgeschobenen H.V.P. wurde ein Chirurg des Feldlazarettes eingeteilt.
Auch in Rußland bewährte sich dieser vorgeschobene H.V.P. erneut ausgezeichnet. Auch dort spielte das Transportproblem eine große Rolle. Die Entfernungen waren groß, die Wege bei Regen nur schwer passierbar, und zwischen Vorausabteilung und folgenden Truppen bestanden oft große Lücken.
Sobald die Vorausabteilung Feindberührung bekam, wurde ich mit allen Einheitsführern zum Kommandeur bestellt. Nachdem alle Chefs20 ihren Einsatz bekommen hatten, wurde ich gefragt, wo ich meinen Hauptverbandplatz aufmachen wollte. Noch in Gegenwart der Chefs benannte ich einen Ort in der Nähe des Befehlsstandes des Kommandeurs mit der Angabe, der H.V.P. wäre in zwei Stunden einsatzbereit. Auf diese Weise wußten alle Einheiten, wo er zu finden war. Sofort wurde mit den Vorbereitungen begonnen, und die Zufahrtswege wurden ausgeschildert. Als zweiten Arzt hatte ich in Dr. Zemitsch21 einen ausgezeichneten Internisten dabei. Die anrollenden Verwundeten wurden sortiert. Alle Schwerverwundeten wurden ausgesondert und erhielten vom Internisten eine Behandlung zur Schockbekämpfung mit Infusion, Kreislaufmitteln und eventuell einer Bluttransfusion. Dann kamen sie auf den Operationstisch und wurden in Lokalanästhesie oder Vollnarkose operiert. Die Erfolge waren ausgezeichnet. Da die Brust- und Bauchschüsse schon innerhalb weniger Stunden zur endgültigen Versorgung auf den Operationstisch kamen, konnte ich noch im nichtinfizierten Gewebe operieren und eine Infektion verhüten.
Das stand freilich im Gegensatz zu allen militärärztlichen Vorschriften jener Zeit. Diese Vorschriften besagten, daß Bauch-, Thorax- und Schädelverwundungen nicht auf dem Hauptverbandplatz, sondern erst im Feldlazarett versorgt werden dürften. Man war der Auffassung, ein operierter großer Höhlenschuß dürfte nach der operativen Versorgung nicht vor Ablauf von drei Wochen transportiert werden. Ein längerer Transport vor der operativen Versorgung wäre dagegen wesentlich weniger schädlich.
Ich war dagegen der Ansicht, daß das Schicksal dieser Verwundeten durch den Zeitpunkt der frühen Versorgung entschieden würde. Nach der geltenden Vorschrift sollte der H.V.P. nicht näher als 25 km hinter der Front liegen, das Feldlazarett aber 250 km dahinter. In Rußland war das Feldlazarett oft noch weiter entfernt. Wenn die Verwundeten mit Schädel- oder Bauchschüssen im Feldlazarett ankamen, dann hatten sie fast alle eine Hirn- oder Bauchfellentzündung. Dann half auch die beste Operation meist nicht mehr! In jener Zeit kannten wir ja noch kein Penicillin.
Wenn ich bei einem Verwundeten mit Bauchschuß nach kurzer Vorbereitung und Schockbekämpfung den Bauch öffnete, dann war häufig der Darm an mehreren Stellen durchschlagen und der Bauchraum – das Bauchfell – überschwemmt mit Darminhalt. Durch sofortiges Vorlagern der verletzten Darmschlingen, Abklemmen der blutenden Gefäße und Spülung des Bauchraumes mit warmer physiologischer Kochsalzlösung gelang es in den meisten Fällen, die tödliche Bauchfell-Entzündung zu vermeiden. In Ruhe konnte ich dann die Darmwunden verschließen oder zu sehr zerfetzte Darmschlingen resezieren. Dasselbe galt in ähnlicher Weise für die Schädel- und Brustschüsse.
Eine wesentliche Voraussetzung für diese rasche Versorgung der Schwerverwundeten weit vorne war die Art des Krieges. Wir führten einen Bewegungskrieg nach vorne. Wenn nach einem harten Einsatz die Vorausabteilung weiter vorstieß, dann ließ ich die versorgten Bauch-, Thorax- und Schädelschüsse in einigen Bauernhäusern mit Sanitätern und Krankenkraftwagen mit der Maßgabe zurück, sie zu versorgen und zu betreuen, sie an die aufrückende Sanitätskompanie zu übergeben und selbst wieder aufzuschließen. Aber ich ließ auch schon frisch operierte Bauchschüsse nach drei oder vier Tagen – wenn es sein mußte – abtransportieren, ohne daß dies den Verwundeten durch den frühen Transport geschadet hätte.
Auch wurden – im Gegensatz zu den Vorschriften – alle leichteren Verletzungen der Extremitäten, wenn Knochen und Blutgefäße nicht verletzt waren, sofort nach hinten weitertransportiert. Diesen Verwundeten konnte man vor der endgültigen Versorgung ohne Gefahr einen längeren Transport zumuten; dafür benötigte ich den Krankenkraftwagenzug. Da die Versorgung der Schwerverletzten meine ganze Zeit beanspruchte, hatte ich mit meinem zahlenmäßig begrenzten Personal für die Versorgung der Leichtverwundeten nicht die erforderliche Zeit.
Als ich im Dezember 1942 wegen eines Todesfalles in der Familie von Stalingrad beurlaubt wurde, besuchte ich auf dem Wege nach Tazinskaja die Kriegslazarette22 und ‚meine‘ Verwundeten. Ich fand sie alle in gutem Zustand. Nach freundlicher Aufnahme im Kriegslazarett nahmen mich gewöhnlich nach einiger Zeit der Chef und der Chirurg beiseite. Sie bestätigten mir den ungewöhnlich guten Zustand der auf unserem vorgeschobenen H.V.P versorgten Verwundeten mit großen Höhlenschüssen und fragten dann, nach welcher besonderen Methode ich operiert hätte. Ich konnte ihnen immer nur sagen, diese guten Erfolge beruhten nicht auf einer besonderen Operationsmethode, sondern auf dem frühen Zeitpunkt der Operation.“23