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9. Scham und Schuld

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Hi Rainer,

danke für deine Mail, die thematisch an unsere vorherigen Ausführungen anschließt. Unser Thema ist nicht leicht zu verstehen.

Du hast mir in deinem letzten Schreiben erläutert, dass unsere westliche Zivilisation im Wandel begriffen ist, von der Schuldkultur zur Schamkultur.

Während sich ein schuldorientiertes Gewissen nach absoluten moralischen Regeln ausrichtet, orientiert sich ein schamorientiertes Gewissen an der Moral einer Gemeinschaft. Oder einfacher ausgedrückt: In der schuldorientierten Kultur macht sich der Mensch Sorgen über seine Schuld. Oder die Wiedergutmachung seiner Schuld.

Anders in der Schamkultur. Hier kommt es kaum darauf an, ob der Mensch schuldig ist oder nicht, sondern welche Konsequenzen der Schaden in der persönlichen Reputation hat.

Nicht nur hier in den USA, auch in Europa ist dieser Rückfall sukzessive im Gange.

Von der eigenen Schuld wandelt sich die Gesellschaft zu einer Außenwahrnehmung des Menschen. Das Prestige ist wichtiger als die Wahrheit. Bestes Beispiel dafür sind viele aktuelle bekannte Politiker.

Als Auslandjournalisten sind wir sensibilisiert, solche Änderungen wahrzunehmen, doch in kirchlichen und sozialen Institutionen wird diese Wandlung als problematisch festgestellt.

Bleiben wir dran, du wirst sehen, dass diese Entwicklung nicht etwas Theoretisches ist, sondern sich im Alltag bis in jede Beziehung abspielt. Wir werden wieder darauf zurückkommen.

Ich habe dir erzählt, dass unsere jüngste Tochter vorhat, bei uns auszuziehen.

Amena ist jetzt 24 Jahre alt und sie wohnt mit einer Studienkollegin in Salem. Beide haben den Bachelor und wünschen sich, nach Studienabschluss in den Weinanbau zu gehen. Gute Beziehungen dazu haben sie zum Glück.

Nun, ich muss noch auf die Redaktion.

Liebe Grüße,

Mike

Mike White

Hillstreet 12

Portland

Oregon USA

Hello Mike,

vom Pinot Noir und dem Pinot Gris aus der Region des Vally habe ich schon gehört.

Das wäre ein Grund, in die USA zu kommen und also eine Reise wert :-)

Ich versuche mich nun anzuhängen an das, was du über die Scham- und Schuldkultur geschrieben hast. Auch ich habe festgestellt, dass sich heute kaum jemand darum rührt, zu weltfremd scheint dieses Thema zu sein. Doch alles andere ist der Fall! Es durchdringt unser Leben mit markanten Folgen.

Wie kommt es dazu, dass nicht mehr das ruhige Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als erstrebenswert angenommen wird?

Immer weniger an Gebote und Vorgaben hält sich die westliche Kultur, sondern mehr an die äußere Anpassung und das Nicht-Erwischenlassen. Wie kommt es zum einen oder anderen Verhalten?

Der evangelikale Missionsforscher Klaus W. Müller zeigt die Entwicklung dazu im Kontext seiner Herkunftsfamilie. Der schuldorientierte Mensch wächst auf in einer kleinen Zahl von prägenden Personen, den Eltern und Geschwistern der Kleinfamilie.

Umgekehrt sind die Verhältnisse bei der schamorientierten Prägung. Das Kind wird bestimmt durch eine große Zahl von Personen; neben den Eltern sind es die Verwandten, Freunde, Fremde oder eine religiöse Gemeinschaft.

Wichtig scheint mir jedoch zu berücksichtigen, dass es keine reinen außen- oder innengeleiteten Kulturen gibt.

In diesem Jahr werden wir in der „Nähe“ Urlaub machen. In vierzehn Tagen fahren wir an die Westküste von Jütland. Wir freuen uns!

Liebe Grüße,

Rainer

Rainer Schmitt

Koppelgasse 101

D-20099 Hamburg

Tschêl

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