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4. Adrians Heimkehr
ОглавлениеPasskontrolle an der Grenze, das habe ich schon länger nicht mehr erlebt, überlegt Adrian. Er kramt in seiner Ledermappe, die neben ihm auf dem leeren Sitz des ICE-Zuges liegt, und sucht seinen Ausweis. Er konnte eine Bahnverbindung früher als geplant erreichen, somit wird er bald zu Hause sein. Nach einer Woche Abwesenheit freut er sich auf Seraina, auf einen romantischen Abend mit gutem Essen und ihrer Nähe.
Draußen fliegt die herbstlich bunte Landschaft vorbei. Der Mann in Uniform wirft einen Blick auf den Pass, schaut kurz in sein Gesicht, nickt unmerklich und geht weiter.
Zwölf Jahre sind sie nun schon verheiratet. Aber sind sie sich wirklich ganz nah gewesen? So nah, wie dies Seelenverwandte beschreiben? Ich bin noch immer verliebt in meine Frau, denkt er. Ist er das? Oder ist es vielmehr ihre Gestalt, die ihn entzückt? Ja, ihr Körper zieht ihn an, doch das lässt sich nicht trennen von ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihre Lieblichkeit, diese ausgewählte Andersartigkeit, ihre Direktheit und gleichzeitig diese Distanz zu ihm. Bald wird er sie umarmen, ihre Wangen spüren und ihren Nacken streicheln.
Nicolina steht auf und streicht die Falten ihrer schicken Hose glatt.
„Ich muss mich noch auf das Meeting morgen in der Firma mit den Chinesen vorbereiten. Und in einer Stunde kommt dein Mann. Ich mache mich nun schleunigst auf den Heimweg. Hoffentlich hat es keinen Stau auf der Straße. Es dauert sowieso mindestens eineinhalb Stunden, bis ich zurück in Chur bin.“
Seraina stellt ihre Tasse ab.
„Ach Nicolina, es ist schön gewesen, keine Eile! Wir sehen uns viel zu wenig. Es ist so wertvoll, mit dir zu plaudern, Gedanken und Ideen zu teilen. Genau wie früher in der Schule! Danach fühle ich mich immer befreit und entspannt und verstanden.“
Zögernd erhebt sie sich.
„Doch du hast recht, nach dem Abendessen will sich unser Nachbar noch bei Adi melden. Und drei Telefonanrufe muss er beantworten. Ich sollte wohl beginnen, das Essen vorzubereiten. Komm, ich begleite dich zur Wohnungstüre. Gute Nacht!“
„Gute Nacht – und ähm … Guten Abend, Adrian! Schön, dich kurz zu sehen! Wir haben eben unsere Klatschrunde hinter uns, ich bin auf dem Weg nach Hause.“
Während Nicolina sich rasch verabschiedet, tritt ein müder Mann ein, beladen mit Koffer und Tasche. Seraina winkt ihrer Freundin kurz, dann blickt sie ihn erstaunt an.
„Hallo Adi, du bist heute früh zu Hause! Ich hab dich noch nicht erwartet nach der langen Fahrt.“
„Ich wollte rechtzeitig bei dir sein und freue mich auf den Abend mit dir. Ich hoffe, dass wir ungestört zusammen sein können.“
Sie schiebt den Koffer aus dem Weg und geht zur Küche.
„Na ja, Matthias von nebenan wollte dich gestern etwas fragen wegen seiner Bohrmaschine. Und ein Herr Rudolf vom Verein will deine Einschätzung zum laufenden Projekt. Ich vermute, es ist der Kassier. Dann hast du noch mehrere Anrufe auf dem Beantworter. Du kannst dich ja mal darum kümmern, ich koche in der Zwischenzeit das Abendessen. Und falls du einen Wein möchtest, hol dir ihn gleich selber aus dem Keller.“
So viel zum romantischen Abend, seufzt Adrian in Gedanken und folgt ihr.
„So eine Woche im Ausland mit neuen Leuten und unerwarteten Aufgaben ist herausfordernd. Und nun schon wieder diese Verpflichtungen, das ist mir zuwider.“
Er rollt mit den Augen. Jetzt ist sie empört:
„Du klingst so sarkastisch. Ist etwas nicht in Ordnung?“
Wieso hat Adi schlechte Laune? Er ist beleidigt wie ein Kind. Habe nicht eher ich Grund, ärgerlich zu sein, nach einer Woche allein zu Hause mit all den Arbeiten hier? Zudem hat er überhaupt nicht gefragt, wie es mir ergangen ist.
Welches Recht hat er, sauer zu sein, wenn er sich doch aufführt, als sei er erst sechzehn?
Ungeduldig und verstimmt dreht sich Adrian im Bett. Noch bevor er den Koffer ausgepackt hatte, ist Matthias gekommen. Danach dieser Mann vom Verein. Ein unsicherer Mensch, der sich mit seinen Fragen nach allen Seiten absichern wollte. Die Mitteilungen auf dem Telefonbeantworter hatte er schnell erledigt. Bald ist es 23 Uhr. Seit einer Dreiviertelstunde liegt er unter der Decke und Seraina ist immer noch im Bad. Warum wäscht sie um diese Zeit ihre Haare? Früher konnte sie es kaum erwarten, dass er von einer Geschäftsreise heimkehrte. Sie hat ihn jeweils lächelnd an der Tür erwartet und mit einem langen Kuss begrüßt. Heute jedoch hat sie ihn kaum angeschaut, war in ihrem Alltag gefangen und hat nur gemeint: „Du bist heute früh“.
Er kennt die Geräusche aus dem Badezimmer. Sie schaltet den Fön aus, legt ihn in die Schublade. Kurz die Spülung des WCs, dann löscht sie das Licht. In einem neuen Nachthemd tritt Seraina in das halbdunkle Schlafzimmer und legt sich neben Adrian ins Bett. Nichts ist versöhnlicher als Sex, geht es ihm durch den Kopf. In einer halben Stunde ist alles wieder gut. Er streckt seinen Arm aus und legt die Hand auf den Bauch seiner Frau. Mit kreisenden Bewegungen streichelt er ihren Unterleib. So beginnt er meist, und es scheint ihm ein gutes Vorspiel zu sein.
„Lass mich in Ruhe, ich bin müde!“ Seraina dreht sich weg und hängt an: „Du bist so egoistisch, du hast mich nicht einmal gefragt, wie es mir in dieser Woche ergangen ist. Das Einzige, was du willst, ist Sex.“
„Das muss ich mir nicht bieten lassen, Seraina! Du redest so verächtlich mit mir. Eine solche Ausbildungswoche ist anstrengender, als du denkst. Durch den Tag lernen und am Abend die Geselligkeit in den Restaurants. Es ist mir wichtig, bei dir zu sein, und du sprichst darüber derart respektlos.“
„Und du bist lieblos und unreif, geh, wohin du willst!“
Einen Moment lang erwägt er, seine Frau an den Schultern zu fassen, sie aufs Bett zu drücken und sie so lange zu halten, bis sie sich ihm hingibt.
Das Verlangen ist groß, doch er dreht sich um, zieht eilends im Halbdunkeln seine Kleider an und geht in sein Büro. Eine Weile ist es unruhig dort, Schubladen werden auf- und zugestoßen, Schlüssel vom Brett genommen. Dann verlässt Adrian die Wohnung.
Seraina hört die Geräusche des startenden Motors. Verwundert steht sie auf, blickt aus dem Fenster und sieht den grauen Volvo, den sie vor zwei Monaten gekauft hatten, um die nächste Straßenecke fahren. Im Büro entdeckt sie die offenen Schubladen. Alles von der Geschäftsreise hat Adrian mitgenommen, auch den Koffer, den er letzte Woche bei sich gehabt hat.
Was soll das? Hat er mich verlassen? Habe ich etwas falsch gemacht? Warum ist er so schnell verletzt? Ich bin nur müde, möchte schlafen und sicher nicht das nette Mädchen sein, die den Mann nach einer strengen Arbeitswoche tröstet! Ich verstehe Adi nicht. Wie so oft in den vergangenen Monaten. Immer wieder haben wir aneinander vorbeigeredet, einander verletzt oder in friedlichen Momenten bloß gestaunt, wie schlecht wir einander kennen. Oder habe allein ich das so empfunden? Manchmal bin ich schrecklich unsicher, ob ich auch nach so vielen Ehejahren nur meine Gedanken in ihn hineininterpretiere. Wir sprechen viel zusammen, ab und zu streiten wir und versöhnen uns hinterher. Aber ich habe es satt, dass Versöhnen in erster Linie Sex heißt und überhaupt nicht romantisch ist. Trotzdem – so wie heute hat er noch nie reagiert. Einfach davonlaufen. So kindisch. Typisch Mann!
Jetzt ist sie wütend. Und durcheinander. So ist Schlafen unmöglich. Darum zieht sie eine Wolljacke über das Nachthemd an und bindet ihre Haare zusammen. Sie braucht einen Lavendeltee, ihren Zeichenblock und die Wachsstifte, um sich zu beruhigen. Ganz große Kreise und Spiralen in Grau und Braun spiegeln ihre aufgewühlten Gedanken wider. Erst mit der Zeit kommen ein wenig Blau und Violett dazu und irgendwann leuchten ein paar orangefarbene und gelbe Punkte hervor und geben dem Bild eine neue Dimension.
Nach einer Weile verschwimmen die Farben. Seraina löscht das Licht, tappt ins Schlafzimmer und kriecht ins Bett.
An der Kreuzung steht Nicolina. Sie trägt eine bunte, vollgepackte Tasche und eine gelbe Jacke. Nach einem kurzen Blick zurück zu ihr marschiert sie weiter. Seraina will ihr folgen, doch sie kommt nicht vom Fleck. Mit jedem Schritt vorwärts scheint die Kreuzung gleichwohl in die Ferne zu rücken. Sie spürt einen Druck in der Brust, Verzweiflung erfüllt den ganzen Körper.
Wo bin ich? Wohin gehe ich? Warum hat Nicolina nicht gewartet?
Sie fühlt sich einsam und verlassen. Irgendwie nackt. Wo sind ihre Kleider?
Dort kommen Menschen, sie will sich verstecken, denn sie schämt sich. Aber sie kann sich nicht vom Fleck bewegen.
Also denkt sie richtig fest, sie sei zu Hause und versteckt sich auf dem Balkon. Tatsächlich steht sie auf einmal hinter ihrem Haus. Keine Ahnung, ob sie jetzt Kleider trägt. Es ist alles grau. Sie vergisst zu atmen.
Der Wecker schrillt und sie erwacht keuchend. Die blutleere Hand schmerzt, weil sie darauf gelegen hat. Sie bewegt die Finger, bis sie endlich den furchtbaren Wecker abstellen kann. Dann atmet sie tief durch. Nun ist Adi bestimmt auch wach und hat schlechte Laune.
Adi. In diesem Moment erinnert sie sich an gestern Nacht. Ihr Mann ist weggefahren. Wohin? Warum? Sie schüttelt energisch den Kopf. Jetzt muss sie aufstehen, heute Morgen hat sie Klienten, die auf sie warten. Oh, heute kommt Robert um zehn Uhr! Normalerweise ist sie mit ihren Patienten nicht per Du. Doch Robert ist ihr Cousin. Nach einer schwierigen persönlichen Zeit und dem Verlust der Arbeitsstelle hat er vor einem Jahr bei ihr angefragt, ob er zu ihr in die Kunsttherapie kommen dürfe. Sie hatten sich vorher mindestens zehn Jahre nicht gesehen. Daher war sie gespannt gewesen, ihn zu treffen, und motiviert, ihm auf seinem Lebensweg ein wenig zu helfen. Mittlerweile ist sie überrascht, welch tolle Freundschaft zwischen ihnen entstanden ist. Die Stunden mit ihm sind für sie wertvoll. Und nach dieser Nacht hat sie den Eindruck, dass wohl eher sie eine Therapiestunde benötigt.