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2. Regentag

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Gestern diese Hitze und heute so kühl. Der Sommer kommt trotzdem, auch wenn es sich heute nicht so anfühlt, denkt Stefan optimistisch. Hellgraue und dunkelgraue Wolkenballen verhüllen die gegenüberliegenden Bergspitzen des Unterengadins. Kaum auszumachen ist die Sonne im Westen, doch ihre Strahlen finden eine Öffnung in der wattigen Decke, sodass die karbonatreichen Sedimente an den Nordhängen in einem warmen Ocker erstrahlen.

Stefan nimmt seinen Feldstecher von den Augen und schaut in die Runde. Im Osten das Val d’Uina, dann das Val S-charl und das Val Plavna.

Das Handy vibriert, schon wieder ein Anruf. Soll es doch. Später, im Tal, ist der Empfang sowieso besser. Oder könnte es Martina sein?

Morgen werde ich 49 Jahre alt, eine krumme Zahl, kein Grund zum Feiern, ein gewöhnlicher Arbeitstag. Irgendwie mag ich Geburtstage nicht. Es ist mir ein unangenehmes Ritual. Man ist wichtig und trotzdem danach vom Tag enttäuscht.

Würde Martina anrufen wegen seines Geburtstags, diesen Tag als Vorwand nehmen für einen Neubeginn? Zweiundzwanzig Jahre sind wir zusammen gewesen, zwei Jungen haben wir gemeinsam erzogen, und nun sind wir getrennt.

Geburtstag als Neubeginn? Wie sehne ich mich nach meiner Frau! Wie konnte es zu einer solchen Trennung kommen? Trennung – dieses Wort macht mich wütend und verzweifelt. Wut wegen einer Nähe, die mir früher als Kind zu viel gewesen ist. So stark und penetrant, als müsse ich daran ersticken.

Was sagte mir kürzlich ein Freund, als wir über unser Seelenleben sprachen? Dir ist einmal jemand durch deinen Garten getrampelt. Ja, vermutlich wurden vor vielen Jahren meine Grenzen missachtet, bis ich den Kontakt mit meinen eigenen Gefühlen verloren habe.

Seinen Kollegen im Zentrum hat er von der Trennung erzählt. Nur kurz und ohne Tiefe.

Ob sie auch vom Geburtstag wissen? Möglich. Stefan ist erst ein knappes Jahr im Nationalpark angestellt und es besteht ein gutes, offenes Verhältnis. Mit einer Ausnahme. Sobald er schon nur an Carlo denkt, wird er wütend. Diese Wut ist immer noch in ihm, wie einst zu Hause. Wie bei Martina.

Die liebe Martina. Er kennt niemanden, der sie nicht mochte. Wie oft hörte er jemanden über sie sagen: „Sie ist die Ruhe in Person“.

Abends, wenn er schön längst müde im Bett lag, schrieb sie am Küchentisch noch Geburtstagsbriefe an irgendwelche Leute in der Nachbarschaft. Und er wartete im Doppelbett. Auf sie, auf ihre Nähe. Woche für Woche, Monat für Monat dauerte dieses nicht enden wollende Warten.

Damals ist diese „Warterei“ für ihn zur größten Herausforderung und zu einer brennenden Sehnsucht geworden. Eine Sehnsucht, die sich mit der Zeit in Wut verwandelte. Fünfundvierzig Minuten, eine Stunde und mehr wartete er auf seine Frau. Oft legte er dann voller Zorn die Bettdecke über die leere Betthälfte, marschierte wütend ins Besucherzimmer und schlief im Gästebett.

Bevor er talwärts geht, packt er den Feldstecher und das Handy in den Rucksack. Er trinkt einige Schlucke aus der Wasserflasche und wandert nun abwärts über nasse Blumenwiesen. Unterwegs bleibt er nochmals stehen und betrachtet seine Umgebung.

Heute spottet das Wetter über die übliche Beschreibung dieser Region. Von den Föhrennadeln tropft es unentwegt und leichter Nieselregen breitet sich aus über die Gipfel Richtung Osten. Ein Arvenhäher fliegt von einer Föhre zur anderen. Der Filzhut ist nass, die Brille bedeckt mit Tausend Wassertröpfchen. Regenwasser rinnt vom Hut an der Kordel hinunter zum Hals. Würde er den Hut etwas verschieben, dann bliebe der Hals trocken. Doch solches gilt es auszuhalten, will man unbemerkt bleiben.

„Der Nationalpark liegt mitten im inneralpinen Trockengebiet der Zentralalpen. Die trockenen Verhältnisse lassen sich nicht nur an den geringen jährlichen Niederschlagsmengen ablesen, sondern auch an den tiefen Werten der relativen Luftfeuchtigkeit.“ Etwa so stellt Stefan den Besuchern die einzigartige Alpenlandschaft in der Einführung vor. Heute allerdings steht er nass und unbeweglich hinter einer Gruppe von Waldkiefern und Föhren und beobachtet den Wanderweg unterhalb seines Standortes.

Da, ist das nicht wieder diese Frau? Nein, das ist keine Täuschung: dieser geschmeidige Gang, die leichten Wanderstöcke! Ihr Körper und ihr Rucksack sind heute jedoch umhüllt von einer türkisfarbenen Pelerine. Habe ich sie nicht schon zwei-, nein dreimal gesehen? Sie hat einen langen Weg vor sich, weil die Busse im Frühling noch nicht bis hier hinauffahren. Bei diesem Wetter …

Ich muss sowieso in Scuol einkaufen. Wenn ich jetzt rasch zum Auto gehe, begegne ich ihr unten an der Kreuzung und kann sie mitnehmen. Sie würde gute eineinhalb Stunden schneller im Dorf sein. Falls sie mitfahren will.

Tschêl

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