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1. Vor der Klinik

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Atemlos und unruhig erreicht sie den See. Ihr Herz schlägt bis zum Hals hinauf.

Sie versucht, still zu stehen, doch die Schuhe rutschen ab im schlammigen Seeboden und sie rudert mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu finden.

Wie schön, wenn das Wasser landeinwärts rollt, den Weg findet zwischen den Schilfstängeln hindurch und irgendwie versickert in den groben Kieselsteinen! Das Wasser erschien ihr immer schon faszinierend. Als Kind hat sie in den Bergbächen gespielt. Allerdings hat sie bereits damals die Gefahren und die Kraft dieses Elements erfahren. Der Wanderweg oberhalb ihres Geburtsortes war mehrmals im Frühling gesperrt, weil eine Brücke weggerissen oder beschädigt worden war. Auch das Seewasser plätschert nicht jeden Tag so friedlich wie heute. Erst vorgestern haben die hohen Wellen ein Ruderboot und dicke Äste auf die Wiese vor der Klinik getragen. Sie fühlte sich in diesem Frühling manchmal ebenfalls wie ein Stück Treibholz. Herumgeschoben und herumgewirbelt. Und danach stand die Welt Kopf. Oder vielleicht eher sie – je nach Sichtweise.

Sie nickt und bekräftigt damit ihren Entschluss, nächste Woche den See zu verlassen und einen Ruheplatz in den Bergen zu suchen. Eigentlich lustig, dass ihr vorläufig neues Daheim so nahe bei ihrem Geburtsort liegt. Zurück ins Tal, zu ihren Wurzeln, das will sie sicher nicht! Nun hat Nicolina von einer einmaligen Foto-Ausstellung in einem Kulturzentrum im Engadin geschwärmt und ihr einen Besuch dringend empfohlen. Als sie entdeckt hat, dass sie gemeinsam mit dem Künstler vor vielen Jahren eine Weiterbildung absolviert hat, hat sie ihm spontan eine Mail geschrieben. So ist ein spannender Kontakt entstanden, und Andreas hat sie ermuntert, dieses Dorf kennenzulernen. Seine Ausstellung geht zwar in zwei Wochen zu Ende und er wird abreisen. Doch in den Tagen davor kann er ihr in Surain einige wichtige Menschen vorstellen und die zauberhaftesten Plätze zeigen. Danach muss sie ihr Leben neu ordnen und ausrichten. An den See, in die Klinik, wird sie nur noch ab und zu für Kurse und wenige Einzelpatienten reisen.

Sie geht zwei Schritte zurück und breitet die Arme seitwärts aus, steht da wie ein Kreuz und saugt die frische Luft ein. Und wieder aus. Und wieder ein. Das Herz schlägt ruhiger.

Plötzlich wird sie sich der Zeit bewusst und schaut auf ihre Uhr. Oh, sie muss hinein, die Therapiestunde beginnt bald! Robert wartet wohl schon, ihr erster Klient heute. Ein letzter Blick gen Norden, über den weiten See, dann dreht sie sich um und eilt über den unebenen Spazierweg der Klinik zu. Beim Gedanken an Robert macht ihr Herz einen kleinen Sprung. Die Schritte werden schneller und leichter.

An der Tür des Ateliers steht neben ihrem Vornamen immer noch der Nachname ihres Ex-Mannes, dabei liegt die Scheidung von Adrian bereits drei Wochen zurück. Nach der Therapiesitzung werde ich zum Housekeeping gehen und Daniel Beine machen, denkt Seraina.

Tschêl

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