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5. Mann und Frau

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Für alle Bewohner, die nach dem Ende der vergangenen Wintersaison nicht in die Wärme verreist sind, bleibt der Vorfrühling in den Bergen eine öde Zeit. Die Wiesen zeigen sich gelbbraun, an einigen Orten liegen noch Schneereste, das Wetter ist launisch. Die halbe Talschaft ist im Urlaub, viele Restaurants, Bäckereien, Metzgereien, Sportgeschäfte sind geschlossen.

Auf dem weiten Platz vor der Kirche Surain stehen einige Autos. Auch vor dem Gemeindehaus, wo am Sonntag geparkt werden darf, befinden sich zwei Fahrzeuge. Es hat sich herumgesprochen, dass die Pfarrerin heute im Gottesdienst mit dem ersten Teil ihrer Beziehungsserie beginnt.

Nach der Begrüßung, einem Gebet und einem Lied spricht Irene Weingard über Partnerschaft und Ehe.

„Natürlich ist dieses Thema so vielschichtig, dass eine Predigt allein zu wenig Raum und Zeit bietet. Im Sommer werden Sie die Möglichkeit haben, sich an drei Abenden ausführlich darüber zu informieren. Und es wird nicht nur ‚Frontalunterricht’ sein, es gibt auch kleine Workshops, um untereinander sprechen zu können. Keine Angst, niemand wird in eine Schamsituation kommen. Der Titel zur Serie: Liebe, Partnerschaft, Ehestreit.

Nun aber mitten in die Probleme. Ich erzähle euch eine erste wahre Geschichte von einem Paar, das seit 18 Jahren verheiratet ist.

Die Frau erzählt: wieder ein Abend, an dem wir uns nicht verstehen, aneinander vorbeisprechen und uns anklagen. Wir sind wütend aufeinander, verletzt, schreien uns an. Am nächsten Morgen beschließen wir, dass wir unsere Ehe beenden wollen. Obwohl wir schon an etlichen Beratungen teilgenommen haben, fühlen wir beide, dass unsere Ehe rettungslos zerstört ist.

Soweit die Frau dieses Paares.

Jetzt eine zweite wahre Geschichte. Diesmal berichtet der Mann: Seit vielen Jahren sind wir verheiratet. Letzte Woche war so ein Abend, an dem wir wie aus heiterem Himmel aneinandergeraten sind. Sie warf mir vor, dass ich sie bewusst kränke und wütend mache und sie mir nicht glaube, dass ich sie je geliebt habe. Ich war verzweifelt und ärgerte mich über meine Unfähigkeit, angemessen zu reagieren und ruhig mit meiner Frau zu sprechen.

Dies ist die Sichtweise des Mannes.

Was läuft hier schief? Was läuft in jeder zweiten Beziehung schief? Haben sich die beiden vor Jahren geliebt, und mit der Zeit ist die Liebe erloschen? Wer ist schuld an diesem Streit?

Wie oft hörte ich in Beratungsgesprächen diese Aussagen: Solche Worte habe ich nicht verdient. Du provozierst wieder einen Streit. Ich wünschte, du würdest endlich deinen Mund halten. Oder: wenn mein Mann nur reif genug wäre …

Wie kommt es, dass viele dieser Frauen denken oder sogar aussprechen: ,Du bist nicht derjenige, den ich glaubte, geheiratet zu haben.‘

Und wie läuft es beim Mann? Ein Mann ist guten Willens und wird von seiner Frau beschimpft. Dann will er nicht mit Worten oder Taten gegen sie kämpfen. Häufig ist die Reaktion des Mannes, dass er schweigt. Er macht dicht und geht. Dabei kann er kaum glauben, dass seine Frau ihn so respektlos behandelt. Er empfindet es als pure Verachtung.

So dreht sich der Teufelskreis weiter. Wenn es einem Paar nach einem Streit nicht gelingt, wieder eine Herzensverbindung aufzunehmen, wachsen Groll, Frustration und Zorn unaufhaltsam. Unternehmen sie nun nichts, öffnet sich ein Abgrund, der ihnen jegliche Vision für ihre Gemeinsamkeit nimmt.

In unserer Abendserie im Sommer werde ich tiefer eingehen auf diese Thematik.

Schon der Religionsphilosoph Martin Buber sagte: ,Der Mensch wird am Du zum Ich.‘

Doch Sie müssen nicht bis zum Sommer warten. In vierzehn Tagen erfahren wir von einem möglichen Weg für die vorhin geschilderten Beziehungsprobleme.

Nach dem Orgelspiel, das heute von Sibylle Caduff mit der Querflöte begleitet wird, lese ich den Text zur heutigen Predigt. Es ist die bekannte Stelle aus Johannes 4. 1-19.“

Irene Weingard spürt ihr Publikum, sie erkennt an der Stille im Raum und den aufmerksamen Blicken, dass ihr Thema hier Anklang findet. Und sie freut sich darüber. Einmal mehr geht ihr der Satz von Rilke durch den Kopf:

„Vergessen Sie nie, das Leben ist eine Herrlichkeit.“

Während der Predigt lehnt sich Stefan in der Kirchenbank zurück. Ihm ist die Stelle aus dem Neuen Testament bekannt. Er erinnert sich an die Geschichte der Frau aus Samarien:

Jesus zieht mit seinen Jüngern nach Galiläa und trifft unterwegs auf die Frau, die um die Mittagszeit an einem Brunnen Wasser schöpft. Zu ihr spricht Jesus: „Zu Recht hast du gesagt, einen Mann habe ich nicht. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Jesus handelt hier nicht moralisch, er ist viel größer, er ist heilig und handelt in seiner Heiligkeit.

Während die Pfarrerin den Kontext der Geschichte ausleuchtet und erläutert, schweifen Stefans Gedanken ab in die Südschweiz. Dort, im Maggiatal, oberhalb des Hauptortes, befindet sich auf dem Weg zum Val del Salto eine kleine Wegkapelle mit einem schönen Gemälde dieser Bibelstelle. Nach dem Musikstück und den Mitteilungen bittet die Pfarrerin die Gemeinde, für den Schlusssegen aufzustehen. Zum Ausgangsspiel der Orgel setzen sich alle nochmals in die Bänke und werden von den kräftigen Tönen mitgerissen.

Wenige Minuten nach dem Ende der Musik öffnet sich die Kirchentüre und die Besucher treten auf den Dorfplatz. Viele bleiben zum Kirchenkaffee im Haus nebenan. Stefan macht sich nachdenklich auf den Heimweg. Von Martina hat er sich nie verachtet gefühlt. Was genau hat in ihm immer wieder diese Wut ausgelöst? Er steigt in seinen Subaru und fährt hinunter nach Scuol.

Tschêl

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