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Kapitel 9

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Es rüttelte mich sanft, und die Luft strich, mit Eiderdaunen weich gefüttert, durch knirschende Waggons. Draußen vor den Zugfenstern glänzten diluvisch die Hausfassaden auf, im Spätlicht. Ich döste offenen Auges.

Zwischen Passy und Bir Hakeim liefen, wie gewöhnlich auf diesem Streckenabschnitt, kleine, zigeunerhaft aufgemachte Mädchen durch die Reihen der Fahrgäste, stumm ihre handgeschriebenen Zettel vorweisend und mit großen, einstudierten Klageblicken um Spenden bettelnd. Ab und an stiegen die üblichen Musikanten hinzu, meistens paarweise, spielten ihr Dreiminuten Programm, gingen mit der Mütze umher und verschwanden wieder. Ich beachtete diese Standardszenen kaum; das, was um mich herum geschah, war nicht viel mehr als ein ultraviolettes Summen in meinen noch schlafverhangenen Nervensträngen.

Klänge lagen darunter, die von den Seiten her aufstiegen, millionenfach über das Schienennetz weiterhüpfend, um in winzigen Tonfunken oder als feines, scharfes Prasseln auf meine Trommelfelle zu treffen. Es klang ein wenig nach elektrischem Meeresrauschen, das mit der Musik einer wohltemperierten Fuge von Bartholomeus Balthasar Bach unterlegt war. Dann glitt die Metro abwärts, es ging Untertage weiter, die Musik verabschiedete sich, es gurgelte jetzt dumpf, zischte, brodelte, das unzarte Dröhnen eines senfgelben Maelstroms, der von heißen, glühenden Schlacken aus mayonnaiseweißenn und ketchuproten Gummi durchzogen war.

Ich nestelte gedankenverloren an dem Halstuch, das ich trug, weil ich seit Tagen unter lästigen Halsschmerzen litt. Das Tuch aus schiefergrauer Seide war ein Geschenk von Kim. Obwohl man in den Tunnelröhren den Himmel mit seinem Gewölk nicht sehen konnte, sah ich ein Nachbild, sah wechselndes Licht, sah Grashalme und Sommerwiesen und hörte ein Bimmeln und ein Läuten, als wären komplette Schafherden in Glockenblumen abgetaucht. Zur gleichen Zeit schien sich alles bis zum absoluten Stillstand verzögern zu wollen, in einer milden, synkopischen Phasenverschiebung, und Rudersklaven, eingekeilt in pochende Taktschläge, verhielten, verschnauften, ruhten sich aus. Die Maschinengärten schwiegen.

Ein schwarzer, struppiger Rüde lag ganz in meiner Nähe zwischen den Sitzbänken, den Kopf auf den Vorderpfoten, ab und an wachsam ein Ohr oder ein Auge hebend. Er gehörte zu einem Mädchen, dass Musik über Kopfhörer in sich hinein saugte, ein Mädchen, dessen Haar silbern schimmerte und fuchsrot, die Spitzen steil aufgerichtet, als stünden sie unter Gleichstrom, dessen bräunliches Gesicht aber gleichwohl unter überhängenden Augenlidern madonnenhafte Züge trug. Über uns allen lagerte mehliger, kehliger Staubgeruch. Es roch nach Holzbläsern, nach Streichern. Nur sah man die Spieler nicht. Aber längs der erhellten Wände des Metroschachtes zuckten intermittierend ihre Schattenrisse. Ich nahm eine Halspastille und kaute bedächtig darauf herum.

Ich war schon einmal hier gewesen, zu nächtlicher Stunde. Doch das Haus in der Rue de la Roquette erkannte ich wieder. Ich schritt durch die offene Toreinfahrt und überquerte den düsteren Hinterhof. Eine Katze miaute. Ein Radio spielte Move on up’ von Curtis Mayfield. Es roch nach Abfällen, nach Rasierschaum, ein wenig auch nach Pfefferminze.

Der Eingang hinten rechts, ja, dort musste es sein. Der Treppenflur war eng, geschraubt, verwinkelt. An den Wänden starb der Putz. Das Gebäude musste im vorvorigen Jahrhundert von einer Großloge der Wanderratten und Spitzmäuse erbaut worden sein. Die Wohnung lag im dritten Stock. Ich klopfte, da die Klingel ihren Dienst verweigerte. Die Tür war nur angelehnt. Als sich nichts rührte, klopfte ich ein weiteres Mal, dieses Mal eindringlicher. Ich hörte eine helle, dünne Stimme ‘Herein’ rufen. Es war die helle, dünne Stimme von Roger Kruger.

Ich stieß die Tür ganz auf und trat in den schmalen Korridor. Ich erkannte den abgenagten Fußläufer wieder, ebenso die zahlreichen Poster, sogar den goldlackierten Gaszähler und das überquellende, einsturzgefährdete Schuhbord. Ich ging den Korridor entlang, kam an einer offenen Tür vorüber. Es war das Klo. Drinnen saß eine nackte Farbige. Sie schenkte mir ein frohes Grinsen, und ihre weißen Zähne entfachten ein Strahlen, das die Umgebung für Augenblicke taghell ausleuchtete.

Ich tappte leicht verwirrt weiter und gelangte in eine Art Wohnzimmer. Dort lag auf einem roten Sofa, die Beine hoch gelagert, Roger und kaute an einem Stück Hartwurst. Ich hob die Hand zum Gruß. Roger nickte freundlich und wies auf einen zerknautschten Sessel.

Installe-toi.

Ich kam der Aufforderung nach und ließ mich auf dem Sitzmöbel nieder, das mit einem müden Quietschen reagierte und, wie ich mit einem kurzen Seitenblick feststellte, über Sprungfedern verfügte, die wie Lockenwickler bodenwärts in alle Richtungen aus dem Innenfutter herausragten.

Auf dem Tisch vor uns stand eine halbvolle Flasche Wein. Roger bot mir davon an. Während ich mich bediente, kam die kleine Farbige in den Raum getänzelt. Sie trug jetzt immerhin ein Höschen. Roger stellte sie mir als Fania vor. Das Mädchen schwebte auf mich zu, ich erhob mich halb aus dem Sessel, und wir tauschten Wangenküsse, wobei mir war, als würden mich die Spitzen ihrer birnenförmigen Brüste sanft berühren. Erneut lachte sie über das ganze Gesicht, dann wandte sie sich an Roger.

Je vais partir, chéri.”

Où?

Chez le toubib.

Damit entschwand sie. Sie habe eine Entzündung am Fuß, sagte Roger, als müsse er ihren raschen Abgang erklären, deshalb renne sie wöchentlich zum Arzt, irgend so ein morgenländischer Wunderheiler, ein Bekannter ihrer besten Freundin, ein Araber. Er wüsste sie ja viel lieber bei einem richtigen Arzt in Behandlung, aber sie habe eben ihren eigenen Kopf. Roger verzog resigniert sein milchblasses Gesicht und hob achselzuckend beide Hände.

Ich schlug die Beine übereinander. Ich war hier, weil wir uns zu einer Modigliani Ausstellung verabredet hatten. Roger arbeitete bei einem Radiosender, einem der vielen radio libre, die es in und um Paris herum gab, und er arbeitete vorwiegend nachts. Er verdiente nicht viel in diesem Job, darum versah er nebenher eine Tätigkeit als Wächter in einem Museum. Überdies waren die freien Radiosender ständig vom Absterben bedroht. Man sah seinem Gesicht die berufliche Anspannung an, in seiner rechten Augenbraue regte sich gelegentlich ein heftiges Zucken, in seinen Bewegungen lag eine nervöse Hast, ansonsten war er jedoch ein schelmischer Zeitgenosse, und er redete gern, und er redete viel.

Am Rande erfuhr ich, dass er mit der schwarzen Perle seit einem halben Jahr zusammenwohnte. Sie kam von der Elfenbeinküste, und war für ihn ein doppelter Glücksfall. Zum einen, weil sie wie eine Sommerfrische sein Leben aufpulverte, zum anderen, weil sie zurzeit mehr in die gemeinsame Kasse einbrachte als er. Sie arbeitete als Model, sie war, wie er mir nicht ohne Stolz mitteilte, das erste schwarze Hand-Model Frankreichs. Er nannte mir ein paar Anzeigen, in denen ihre Hände der Reklame für verschiedene Produkte als Verschönerung dienten, sogar für einen Werbespot sei sie schon verpflichtet worden.

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