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Kapitel 6
ОглавлениеIn der Stadt flammten nach und nach die Lichter auf. Der Abend glitt heran, auf Rollschuhen. Ich saß (wir alle tun das von Zeit zu Zeit) auf etwas wackligen Füßen, denn in der Nähe meines Tisches schlängelten sich stellenweise die Wurzeln einer riesigen Korkeiche über den Erdboden hinweg. Meine Kaffeetasse schepperte obertonreich auf ihrem Untersatz. Jemand neben mir nieste. Und am Himmel fiel ein früher Stern aus seiner Fassung, zerplatzte ohne den geringsten Laut. Ich schob die Tasse beiseite, weil, sie war leer getrunken und bestellte einen Osborne.
Die Witterung war zartbitter. Die Bäume entlaubten sich. Die Nächte wurden schon kühl. Die Terrasse des Cafés war so platziert, dass man einen weiträumigen Blick über das angrenzende Valle del Manzanares hatte. Schräg von mir, zur anderen Seite hin und am Rande einer Plaza, dämmerte eine kleine Kirche im Plataresken-Stil. Ich war zuvor, vom nahe gelegenen Palacio Real kommend, kurz in ihrem Innern gewesen, um für ein paar geweihte Augenblicke die Gotteshäusern so eigene, überzeitliche Stille einzuatmen.
Ich wartete auf einen Anruf von Carlos. Doch der Anruf blieb aus. Es war jetzt gut eine halbe Stunde über die vereinbarte Zeit. Seinetwegen war ich in diesem Café. Er hatte mich hierher bestellt. Der Café Inhaber war ein Freund von ihm, oder ein Mittelsmann oder etwas Ähnliches. Carlos van Breusegem war Belgier. Als ich ihn kennen lernte, war das sein Name. Er führte aber auch andere, wie ich später erfahren sollte. Carl De Vroye etwa oder Castor van Butseele.
“Verzeihen Sie, wenn ich störe!”
“Ja... bitte?”
“Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber wir waren vorhin im selben Bus, auf dem Wege hierher.”
“Nein, ich erinnere mich nicht.”
“Ich vermute, Sie sind wie ich auf Reisen, hier in Spanien?”
“In gewisser Hinsicht.”
“Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: mein Name ist Anthony Beck, aus New York..”
“Hm.”
Ich hatte den Mann vorhin schon einmal aus den Augenwinkeln heraus marginal wahrgenommen, er war zweimal oder auch dreimal an meinem Tisch vorbei gekommen, ein dicklicher Typ, unruhig in Mimik und Gestik, der sich seltsam schleichend voranbewegte, ein nervöses Schleichen, eine Art Anschleichen, dazu ein Kopf, der gelegentlich zackig ruckte, ein unförmiger Kopf, ein Kopf, der tief zwischen runden, aufgewölbten Schultern saß, ein Dachskopf, in dessen Mundhöhlung ich eine fette, rote Zunge wähnte, von einem Rot, wie sie die Abendsonne nun zeigte, die changierend in der aufziehenden Dämmerung wegzuschmelzen begann, eine weitere Seite umschlagend in dem Buch irdischer Tage und Nächte, aller Tage Tau und aller Nächte Rauh.
Der Mann sprach mich freundlich grinsend an, auf Englisch und reichte mir in einer Weise auffordernd seine Hand, dass ich fürchtete, er würde jeden Moment mit mir den Gebärmutterfoxtrott tanzen wollen.
“Sie sind Deutscher?”
“ Ja.”
“Meine Urgroßeltern kommen aus Deutschland, väterlicherseits. Ich heiße eigentlich Anton Beck. Ich bin Pole, vor dem Krieg in die Staaten ausgewandert, lebe seither in New York.”
“Interessant.”
“Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze. Darf ich uns etwas zu trinken bestellen? Was möchten Sie?”
“Wenn Sie mich so fragen, Mr. Beck, dann nehme ich einen Brandy.”
“Fein. Nehmen wir also zwei spanische Brandy. Und nennen Sie mich Anthony, bitte. Wie Sie sicher schon bemerkt haben, habe ich aus Anton Anthony gemacht. Es macht sich besser in Amerika.”
“Schön, Anthony... und ich heiße Theobald.”
Anthony Beck winkte den Kellner herbei. Eine dicke, rote Zunge hatte er nicht, mein polnisches Gegenüber, dafür aber schlechte Zähne. Seine flinken, wachsamen Augen fixierten mich unablässig. Er lachte gerne, und seinem Lachen war etwas Lawinenhaftes eigen, seine Haut glänzte wie Salatöl. Wie ich bald erfuhr, hatten wir nicht nur im selben Bus gesessen, wir waren uns auch am Palacio Real begegnet. Es war mir entgangen.
Anthony war, wie er mir stolz erzählte, Geschäftsmann, er hatte einen Frisörladen in Brooklyn, einen mit vier Angestellten. Als er vor vielen Jahren in die Staaten gekommen sei, sagte er, hätte er so gut wie nichts besessen. Er hätte oft hungern müssen. Aber über die Jahre wäre es ihm geglückt, sich hochzuarbeiten. Und nach und nach sei es ihm besser gegangen. Jetzt ginge es ihm so gut, dass er in der Welt umherreisen könne, wenn seine Zeit es erlaube. Im Anschluss an Madrid wolle er weiterreisen nach Krakau, wo seine Eltern und seine Schwester lebten.
Auf der Terrasse gingen die Lampen an. Lärm sprühte aus den offenen Türen eines benachbarten Restaurants zu uns herüber. Unten in der dunklen Ebene glitzerte ein versprengter Lichterflor. Glocken läuteten. Der Mond stieg. Eidechsen umgürteten seinen brütenden Leib. Werden wir je wissen, was der Schlaf ist oder der Tod?
Der Pole ist, wie sich herausstellt, ein rechter Hitzkopf, wenn es um seine Lieblingsthemen geht, und seine Lieblingsthemen sind Geld und Frauen. Ich höre nur mit halben Ohr hin. Innerlich bin ich bereits im Aufbruch. Für heute ist mein Bedarf an Zufallsbekanntschaften gedeckt. Ein japanisches Paar, mit der obligatorischen Fotoausrüstung und einer Horde plappernder Blagen ausgestattet, hat nebenan Platz genommen. Ich entscheide, Carlos am nächsten Morgen vom Hotel aus anzurufen, nachdem er mich heute vergeblich hat warten lassen. Für Sekunden hüpft mein Blick zum Nachbartisch hinüber und trifft auf zwei weibliche Schlitzaugen, die mich interessiert anblinzeln.