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Kapitel 3
Оглавление“... Übrigens, Manni... für wen machst du dich eigentlich so schick zur Zeit?”
“Hmm, für den lieben Gott... seit ich gehört habe, dass er eine Frau ist.”
“Mir noch etwas von dem Wein, danke,... weißt du, Manni, es ist doch so, die alten Gleichungen, sie stimmen einfach nicht mehr. Wir befinden uns im Windschatten eines gefräßigen Zyklopen, der nur gelten lässt, was er zählen kann, und die von ihm geschaffenen Wirklichkeiten gleichen einem Tintenfisch mit tausend kalten Fangarmen. Ich hätte die Welt gern überschaubarer. Das Viele verwirrt mich. Als kleiner Junge habe ich noch zwischen Ruinen gespielt. Meinen ersten Kuss habe ich im Schatten eines Luftschutzkellers getauscht. Unsere Körper waren mager, unsere Gedanken frei von Fallstricken und unsere Herzen rein, damals. Wo sind diese starken Ideen, Manni, die es einst gab, Ideen, die uns begeistern und fortreißen konnten? Das Leben ist nüchtern geworden, klinisch nüchtern…Gib mir doch mal deinen Tabak bitte... danke. Woran liegt es eigentlich, dass Vergangenes stets ein so besonderes Licht wirft? Ist es nur Einbildungskraft? Du sagst nichts dazu... Ja, weiß schon, die Vergangenheit hat für dich nichts von einer Goldmine, so ist es doch, nicht wahr? Ich sah neulich einen Film im Kino, er spielte in der Nachkriegszeit, in den Fünfzigern, in einer dieser tristen, graugrauen Vororte Roms, eine Bande Jugendlicher, Motorroller, Zigaretten, wilde Sehnsüchte, Langeweile, nichts mit sich anfangen wissen, Raufereien, Diebstähle, Überfälle, darunter eine Liebesgeschichte, einer der Jungen stirbt am Ende, der Romeo natürlich, auf einer Brücke, nachts, erschossen von Carabinieri, über allem das sternenbesäte Firmament, wunderbar.... ich habe Tränen geweint, es war alles so anrührend, so bewegend, Manni, irgendwie wunderbar... und was mich am seltsamsten berührt, an alten Filmen, immer: sie sind nun alle so viel älter, die Darsteller dort auf dem Zelluloid, so viele Jahre älter, ja, manche werden schon begraben sein...Das macht mich ganz melancholisch, allein diese Vorstellung... aber im Moment bin ich ja verliebt, Manni, mein Himmel hängt noch voller ungeöffneter Fallschirme..., leg doch diese Platte noch mal auf, du weißt schon: la fille mal gardée...”
“Gern.”
“Unsere ganze Farbenpracht, nicht wahr, entfalten wir doch erst im Beisammensein mit einer Frau, die wir begehren. Manni, kennst du diesen wundervollen Augenblick, wo eine Frau sich das erste Mal vertrauensvoll bei dir einhakt? Sicher wirst du ihn kennen. Wenn da so ein neues Wesen in dein Leben tritt, ist es nicht wie ein Neubeginn..? Habe ich dir Marlene eigentlich schon vorgestellt? Endlich einmal wieder starke Gefühle, die mich erheben, du weißt, oft zieht es mich hinunter, ins Düstere, ins Schwermütige, die Emotionen hängen dann wie bleierne Gewichte an mir, werden mir zur Sackkarre, und ich wünschte, ich wäre kühler, berechnender, aber man ist nun mal das, was man ist... Jetzt kannst du es ruhig wieder leiser drehen, Manni… Weißt du, am Ende der Musik sollte tiefer Friede herrschen oder aber ein Gewehrschuss, ein trockener, feuriger Knall, als Echo jenes Schreis, der tief in jedem von uns als unstillbares Verlangen brennt, etwas von der Urnatur, etwas von dem ursprünglichen Zustand der Schöpfung anzurufen und wieder in uns lebendig werden zu lassen, etwas von jener Wildnis zurückzuholen, die unter der kalten Schlangenhaut des zivilisatorischen Leviathans halbvergessen vor sich hindämmert... schenk doch noch einmal nach, sei so nett, ja.”
Wir hatten zunächst eine Weile draußen vor dem Weinladen von Paco Ehrenfels gesessen, das konnte man, wenn das Wetter danach war. Paco stellte gelegentlich einige Stühle auf den Bürgersteig. Dann kam die Mittagszeit, und der Laden blieb vorübergehend dicht. Wir gingen hoch in Pacos Wohnung, die im ersten Stock über dem Geschäft lag und aßen eine Kleinigkeit, Hühnersalat mit Brot, den hatte Lisa zubereitet, dazu gab es Spätburgunder.
Paco selbst war noch einmal weg, er müsse sich, wie er uns sagte, um eine Weinlieferung kümmern. Wir saßen also zu dritt in der Wohnstube, Fred hatte die Musikanlage seines Bruders eingeschaltet. Irgendwann ging er hinaus und in die Küche, wohl um Lisa Gesellschaft zu leisten. Jan, bis hierhin eher wortkarg, bewegte sich hinüber zu den an der Wand aufgestapelten Schallplatten und suchte sich eine Scheibe heraus, die er mich aufzulegen bat.
Dann versank er in dem breiten, marineblauen Diwan, eine große, weich gerundete und bleiche Masse und hielt dabei sinnierend die Hände über dem Bauch verschraubt. Ich hatte uns beiden eine Zigarette gedreht, reichte ihm die seine jetzt herüber. Ich wusste, er wartete nur auf einen geeigneten Zeitpunkt, um den Vorhang aufgehen zu lassen.
Es begann mit einem allgemeinen Exkurs über das Vergängliche. Langsam, aber stetig türmten sich Jans Gedanken zur Hochfrisur. Er sprach laut mit seiner hellen, energischen Stimme, so laut, dass es durch die offene Tür zweifellos bis in die Küche hinein zu hören war. Und er trank die Flasche Wein kommentarlos nahezu alleine aus.
Lisa kannte ihn flüchtig, weil ich ihn schon einmal mitgebracht hatte. Fred und er dagegen waren einander fremd. Jan Wichers war eigentlich Altphilologe, arbeitete zurzeit aber für den Eigentümer einer Kette von Waschsalons. Wir hatten uns in einer Bücherhalle kennen gelernt. Die Wahrheit war, ich kannte diese Marlene. Fast jeder aus unserem Kreis kannte sie. Ich überlegte, ob ich Jan vor ihr warnen sollte, aber das, so entschied ich, stand mir nicht zu. Ich wusste nicht, ob Marlene eine Nymphomanin war, sie hatte jedenfalls alle Voraussetzungen dazu und saugte sich bevorzugt an dem eher langsamen, trägen Koala-Typus der männlichen Gattung fest. Die Mitgift der Beute spielte dabei offenbar keine entscheidende Rolle, wichtig schien ihr der Stolz der puren Besitznahme zu sein und der Siegerkranz (geflochten aus dem weichen Bast liebeskranker Unterwerfung) im Verein mit dem triumphalen Kitzel, den Skalp des Opfers postcoital den Aasfressern vorwerfen zu können.
Ich musterte Jan, wie er sich friedlich, ja, gelöst auf dem Diwan räkelte, von diesem Mädchen schwärmte, und dabei ahnungslos mit der Taschenlampe seiner Liebe in ihr kleines, finsteres Herz leuchtete. Vielleicht sollte ich ihm doch einen Wink geben, zumindest einen winzigen.
In der Zwischenzeit war Fred wieder zu uns gestoßen, er kaute gemächlich an einer Gewürzgurke und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich erhob mich und kündigte an, eine neue Flasche Wein holen zu wollen. Als ich durch die Tür zur Küche treten wollte, nahm mich Fred beiseite:
“Ist der immer so?”
“Ich bin nicht immer bei ihm.”
Lisa trug an diesem Tag ein hübsches, geblümtes Kleid, das ihre Schultern frei ließ. Es stand ihr. Sie war schlanker geworden, aufgrund einer Diät, wie ich annahm. Sie bereitete gerade Hackbraten vor. Heute war Wochenmarkt gewesen. Manchmal begleitete ich Lisa dahin, Dieses Mal hatte Paco die Besorgungen übernommen. Ging Lisa zum Einkaufen, kaufte sie Beefsteakhack, machte Paco die Einkäufe, gab es gemischtes Hack. Das stand, was die beiden anging, für manches.
Mit der Flasche Wein im Arm kehrte ich zurück ins Wohnzimmer. Fred folgte mir, schlenderte zum Plattenspieler und legte eine andere Musik auf: Hit me with your rhythm stick. Jan verzog missbilligend das Gesicht, als die Stimme von Ian Dury losschnarrte.