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Kapitel 5

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Mein Hotel lag in der Carrera De San Jeronimo. Schon im Foyer war mir die Gestalt aufgefallen. Ein Mann jenseits der Sechzig, schätzungsweise; leicht gebeugte Haltung, die Arme beim Voranschreiten träumerisch pendelnd, korrekt kurz geschnittenes Haar, perlweiß, alpine Gesichtszüge, mausgrauer Kordanzug.

Er kam aus dem Lift und passierte mich, der ich auf dem Weg zur Rezeption war, um nach einem Zimmer zu fragen, und auch er musterte mich, wie mir auffiel, im Vorübergehen, ephemer. Er ließ sich am Ende der Empfangshalle in einen Sessel fallen. Es sah ganz danach aus, als erwartete er Jemanden.

Er nahm eine Zeitung zur Hand. Neben ihm ein Bündel Bücher, zusammengehalten durch einen Lederriemen, sowie eine Baskenmütze. Leute durchquerten die Halle. Es war zwölf Uhr. Ich zündete mir eine Zigarette an.

Kurz darauf betraten zwei Männer die Hotelhalle, hielten auf das Objekt meiner Studien zu. Die Zwei wirkten mediterran, der eine war von beachtlicher Leibesfülle, der andere von vibrierender Magerkeit. Sie setzten sich dem Grauen gegenüber. Der Beleibte saß da, breit ausladend, die Arme baumelten seitlich schlaff von den Sessellehnen herab, Kopf und Hals waren zu einer kolossalen Einheit verschmolzen. Er gemahnte an einen Buddha, an einen, der eine dicke Fettschicht zwischen sich und die Wirklichkeit gelegt hat. Der zweite, der hagere Mann wandte mir sein Profil zu, scharfe, mönchische Konturen, Hakennase, aufrechte, soldatische Haltung, schwarze, strenge Kleidung, ein Christus im Feldwebelornat.

Ich begab mich dorthin, wo die drei Männer saßen, nahm ein paar Meter von ihnen entfernt Platz und überlegte, was ich mit dem Tag anfangen sollte, hatte ich doch erst gegen Abend meinen Termin mit dem Bekannten von Carlos. Vielleicht ein Besuch im Prado. Dahin wollte ich schon, seit ich hier angekommen war.

Das Männertrio stand schließlich gemeinsam auf, machten einige Schritte zur Mitte der Halle hin. Der Mann im grauen Kord ging hinüber zur Rezeption. Die beiden anderen besprachen noch etwas miteinander und verschwanden dann. Auch ich erhob mich von meinem Platz. Ich ließ meinen Blick wandern, betrachtete beiläufig ein Wandfresko, das seitlich der Treppe über dem Lift schwebte wie ein… Anderswo.

Auch der Graue schritt anschließend dem Ausgang zu, die Mütze auf dem Kopf, die Bücher unter dem Arm. Ich folgte. An der Schwingtür, in einem Moment der Unachtsamkeit, entfiel das Bündel Bücher seiner Hand, woraufhin ihn, als er innehält, um nach unten zu schauen, die in Drehung versetzte Tür mit einer ihrer Glaswände so an der Wirbelsäule traf, dass der ganze Mensch heftig ins Straucheln geriet… Kleine Ursachen, die sich aufschaukeln.

Der Hotelpage eilte hinzu, doch schneller als jener war ich zur Stelle, fasste den Gestrauchelten am Arm, sammelte seine Bücher auf, welche einzeln - durch den Aufprall aus dem sie zusammenhaltenden Lederriemen herausgesprungen - am Boden lagen und gab sie ihrem Besitzer zurück. Während des Aufsammelns las ich flüchtig die Namen der Autoren auf den Buchrücken: Jung und Jünger.

Der Graue bedankte sich artig, auf Spanisch. Ich antwortete, auf Englisch. Er fragte mich, auf Englisch, ob ich Amerikaner sei? Ich erwiderte, nein, ich sei Deutscher, worauf der Mann mir, auf Deutsch, erklärte, dass wir dann ja nahezu Landsleute wären, er sei aus Tirol gebürtig. Wir traten gemeinsam auf die Straße hinaus, und der Tiroler lud mich ein, auf eine Tasse Kaffee.

Wir suchten uns ein Stehcafé. Der Graue stellte sich mir vor, sein Name lautete Vittorio Berger. Er arbeitete, wie er mir sagte, als Übersetzer. Der Dicke von vorhin, das war ein spanischer Autor gewesen, dessen Werke der Tiroler derzeit ins Deutsche übertrug, und dessen Begleiter sein Verleger. Ich wurde gefragt, ob ich als Reisender in der Stadt sei, und ich antwortete:

Sozusagen, für ein paar Tage.

Oh, ein paar Tage nur, das ist nicht viel. Die Eindrücke bleiben da doch eher flüchtig, brennen sich nicht ein. Oder waren Sie bereits öfter hier?

Nein, es ist das erste Mal.

Ah so! Was mich angeht, ich reise viel, die Metropolen dieser Welt sind mir geläufig, ich schreibe gelegentlich Reise-Essays für Journale und Magazine. Zuletzt war ich für einen längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten.

Verstehe.

Wissen Sie, Amerika ist ein weites, ein schönes Land, aber ohne wirkliche kulturelle Vielfalt. Die wahre Kollektivierung des Lebens geht heute von den Vereinigten Staaten aus, und sie schwappt in riesigen Wellen über die Kontinente hinweg. Europa dagegen ist noch ein Hort kultureller Eigenarten, auf engstem Raum. Drüben aber können sie Tausende von Meilen reisen, und allein die Landschaften ändern sich.”

Nach dem freundlichen Geplänkel über ferne und nicht so ferne Länder - wir waren mittlerweile in Nordafrika und der arabischen Welt angelangt - und der in diesem Zusammenhang ins Spiel gebrachten Namen Paul Bowles und Ernst Jünger, die sich ja unter anderem auch als Verfasser von Reise-Impressionen hervorgetan haben, glitt das Gespräch zugvogelgleich neuen Gefilden zu, wobei sich, infolge eines Jüngerzitats über das Verhältnis von Natur und Technik, das Berger einem seiner mitgeführten Bücher entnahm, das Interesse des Tirolers vorübergehend auf den Sprachduktus besagten Textes verlagerte und er, mich als geduldigen Zuhörer in seinem Windschatten, einen kurzen Streifzug durch das Buchstäbliche zu veranstalten sich anschickte.

Während er das Wort führte, fiel mein Blick auf ein Foto, das aus dem Jüngerschen Buch herausgerutscht war und das, wie ich, aus Gründen, die ich nicht kannte, annahm, Bergers jüngste Tochter zeigte. Es zeigte sie auf einem Sofa sitzend, eine junge Frau mit strengen, klaren Gesichtszügen, und indem ich das Foto betrachtete, wurde es mir unversehens zum Vexierbild, und mir war, als blickte ich einem weiblichen Cherub ins rätselhafte Antlitz, und im Hintergrund des Lichtbildes erschien mir, zwischen Zahlen und zwischen Licht, mein eigenes, mein zweites oder mein drittes Angesicht.

Schauen Sie, Jünger schreibt Möve mit v, nicht mit w. Ungeachtet dessen, dass beide Schreibweisen statthaft sind, hat die erstere den Vorzug, nicht allein das Wort, sondern auch das damit bezeichnete Objekt mit Eleganz auszustatten, es sozusagen vornehmer erscheinen zu lassen. Und ein weiteres bewirkt diese Schreibweise: sie nimmt das Bild des Fluges, des im Fluge befindlichen Vogels ideographisch in die Schriftzeichen mit auf. Schauen Sie, so...”

Berger zückte einen Stift und warf zur Veranschaulichung seiner Ausführungen rasch eine Serie von Vs auf eine Papierserviette. Dann, anhand eines weiteren Zitats, knüpfte er noch einen anderen parasakralen Faden.

Hier in diesem Satz macht der Autor aus dem für gewöhnlich in einem Wort geschriebenen ‘einmal’ zwei Worte, nämlich ‘ein Mal’, und er schreibt Mal groß. Ich bin in diesem Fall nicht sicher, ob er es getan hat, weil er diese Schreibweise für richtiger hielt oder vielmehr deshalb, weil sie stärker ist. Wir kennen es üblicherweise so von den Ausdrücken ‘das erste Mal’, ‘das zweite Mal’ und so weiter, also in Verbindung mit dem bestimmten Artikel, der, regelkonform, das Substantiv zur Folge hat. Jünger missachtet die korrekte Form, nimmt sich sprachliche Freiheiten... Ich habe noch eine andere Vermutung bezüglich der Absicht, die ihn zu seiner Wahl veranlasst haben könnte, eine Absicht, von der ich allerdings annehme, dass sie ihn eher vorbewusst geleitet hat: das Wort Mal ist nicht nur ein starkes Wort, es ist ein Urwort, es bezeichnet etwas Magisches, es zielt auf kultische Inhalte, und es verweist hier, sozusagen durch seine besondere bzw. gesonderte Verwendung in Jüngers Prosa, auf die geistige Haltung seines Autors, auf einen Geist nämlich, dessen Denken bevorzugt in mantischen Räumen weilt, oder, stärker noch, darin Wurzen schlägt.

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