Читать книгу Oberlicht - Reinhold Zobel - Страница 9
Kapitel 7
ОглавлениеIch bestellte für sie einen Martini und für mich ein demi. Wir hatten uns fürs Kino verabredet und saßen nun nach der Vorstellung in einer Brasserie unweit der Rue de Rivoli. Es war wieder einmal ein Zelluloid ihrer Wahl gewesen: ’All About Eve’.
Kim zeigte sich vernarrt in alte Hollywoodstreifen. Sie liebte den Glamour und die weibliche Stargarderobe. Gerne identifizierte sie sich mit der jeweiligen Leinwandheldin und besaß dabei die straffe Angewohnheit, nach Verlassen des Kinos den Handlungsfaden noch um ein paar weitere Filmmeter aufzurollen. Dazu bedurfte es des gehäuften Einsatzes dramaturgischer Mittel und einer Geschichte, die sich von Minute zu Minute mehr in den dunklen Zonen subemotionaler Verstrickungen verlor.
Die Getränke kommen. Ich trinke einen Schluck und beschränke mich ansonsten darauf, Kims Schilderungen mit einem gelegentlichen Kopfnicken zu begleiten. Im Grunde bin ich nicht richtig bei der Sache, da mich das, was sie erzählt, eher langweilt. Was mich nicht langweilt, ist, sie zu beobachten, zu sehen, wie sie mehrheitlich aufblüht. Sie nutzt dergleichen Anlässe, die theatralische Seite ihres Wesens zur Schau zu stellen. Ihre Gesten wirken sorgfältig choreographiert, ihre Stimme, die für gewöhnlich einen leicht brüchigen Beiton führt, wird plötzlich konzertanter, ihre Mimik facettenreicher. Sie erregt sich. Sie singt mir - ihrem Einmannpublikum - etwas vor.
“Langweile ich dich?”
“Aber nein.”
“Wenn ich dich langweile, musst du es sagen, hörst du?”
“Selbstverständlich.”
Ich greife erneut nach dem Bierglas. Ich bin seit sieben Wochen in Paris, und es hat etwas Fiktionales. Ich tue im üblichen Sinne nichts oder jedenfalls nichts Bestimmtes. Ich lasse mich so treiben. Ich stromere umher. Ich gestatte den Dingen, auf mich zuzukommen. Ich verfolge keinen festen Plan. Das bedeutet nicht eine radikale Umkehr dessen, wie ich bisher gelebt habe, und doch ist etwas neu, anders. Neu und anders ist möglicherweise, dass ich jeden Versuch einer Zielfindung habe fahren lassen. Das ist meinem aktuellen Verständnis nach keine Ziellosigkeit; Ziele ergeben sich - vegetativ. Schon möglich aber, dass, auf lange Sicht betrachtet, die Dinge kein brauchbares Muster ergeben… Bisweilen verspüre ich eine seltsame Spannung, eine klirrende Irritation, die direkt nach meinem Herzmuskel zu greifen scheint, in Momenten, die seltener sind, erfasst mich eine wilde, verzauberte Erregung.
Ich blicke versunken geradeaus und in die Augen des Mädchens mir gegenüber. Sie lächelt jetzt sanft und sagt:
“Deine Augen, sie gefallen mir.”
“Wirklich?”
“Ja. Sie sind wie ein tiefes, klares Wasser, das vom Grund herauf leuchtet. Ich will dich Schönauge nennen.”
Nach diesen Worten fasst sie in ihre Handtasche und zieht einen Lippenstift hervor. Sie dreht sich der Wand zu, die verspiegelt ist, malt ihre Lippen nach. Damit fertig, presst sie diese noch einmal kurz aufeinander, legt den Stift dann beiseite und schaut mich nachdenklich an.
“Wie sehe ich aus?”
“Gut.”
Kim ist Neunzehn. Sie ist etwas pausbäckig, das mag noch Babyspeck sein. Ihr Gesicht mit den schrägen, großen Augen und den kleinen, aber üppigen Lippen ist ausdrucksvoll, sinnlich. Das halblange Haar trägt sie zu einem Zopf gebunden. Es ist blond eingefärbt. An den Haarwurzeln schimmert es dunkel, in seiner Originaltönung, hervor. Wir haben uns in einem Kino an den Champs-Elysees kennen gelernt, wo sie als Platzanweiserin arbeitet. Sie war es, die mich ansprach, am Ausgang, nach Ende der Vorstellung. Sie wollte mich um ein paar Francs erleichtern. Wir kamen ins Gespräch. Wir unterhielten uns in einer Melange aus Englisch und Französisch. Ich hielt sie zunächst für eine Japanerin.
“Gib mir deine Hand!”
“Wozu?”
Ich tue es. Sie nimmt die Hand, dreht die Innenfläche nach außen und streicht mit dem Finger darüber, als wolle sie etwas darauf schreiben. Es kitzelt. Dann nimmt sie den Lippenstift und malt ein Herz darauf, ein Herz, von einem Messer durchbohrt. Ich blicke sie erstaunt an.
“Was soll das?”
“Nichts weiter... ich muss jetzt gehen. Sehen wir uns morgen?”
“Morgen? Ja, gut.”
“Sagen wir, um... acht Uhr, hier?”
“Einverstanden.”
Sie erhebt sich, macht eine rasche Kusshand und verschwindet zum Ausgang hin.
Ich kenne dieses Verhalten schon. Ich sehe ihr nach. Sie bewegt sich leichtfüßig. Ihr schwarzes Täschchen aus Schlangenhaut-Imitat schaukelt im Takt ihrer Schritte. Es erinnert mich an etwas aus meiner Knabenzeit, und ich sehe es mit Wohlgefallen. Ich denke daran, dass sie mir bei unserer ersten Begegnung nicht sonderlich aufgefallen war, als Frau, meine ich. Dennoch schien sofort unfassbar klar, dass wir uns wieder sehen würden. Und es geschah also.
Kim ist, wie sich herausstellt, keine Japanerin. Ihr Vater ist Franzose, die Mutter Laotin, ein Halbblut also. Indochina Krieg. Sie ist aber in Frankreich aufgewachsen. Ihre Familie lebt in Bordeaux. Sie ist nach Paris gekommen, weil sie frei sein wollte, wie sie sich ausdrückt, gegen den erklärten Willen ihrer Eltern, vor allem den Willen ihres Vaters. Bislang hat sie in Bars oder Cafés gearbeitet oder eben wie jetzt als Platzanweiserin. Ich blicke zur Uhr und zahle. Ich habe noch eine Verabredung mit Carlos.