Читать книгу „… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“ - Richard A. Huthmacher - Страница 10
JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN – QUIDQUID LATET APPAREBIT
ОглавлениеDurch Deine Liebe neu beseelt
fühl ich des eignen Wesens Weiten
Durch Deine Liebe neu belebt
werd ich zu unbekannten Ufern schreiten Durch Deine Liebe
neu erfüllt mit Hoffnung welcher Angst
bereits die Flügel lähmte Durch Dei-
ne Liebe meiner Seele bleiche Son-
ne ihr dürftig Labsal dennoch einzig
ewig Wonne
Ihre Augen strahlten geradezu. Groß. Blau. Ihr Gesicht schien milde zu lächeln. Wollte sie im Sterben denen vergeben, die ihr so viel Leid angetan hatten? Mit offenen Augen lag sie auf dem Sterbebett, in den gefalteten Händen einen grotesk anmutenden Lorbeerkranz. Aus Plastik. Der lässt sich wiederverwenden. Man muss sparen in den Palliativstationen und Hospizen, die nur durch Spenden finanziell überleben. Denn unheilbar Kranke und Sterbende sind nicht viel wert in unserer Gesellschaft. Jedenfalls so wenig, dass man ihnen häufig kein Blut mehr transfundiert. Viel zu teuer. Stattdessen erhalten sie Morphin-Präparate. Viel billiger. Die nehmen ihnen zwar nicht die Luftnot, letztendlich ersticken die Sterbenden. Aber beim Ersticken empfinden sie – so jedenfalls wird behauptet – keine Schmerzen. Denn sie werden ja mit hochwirksamen Schmerzmitteln behandelt. Kann man das als Euthanasie bezeichnen: εὐθανασία; eu gut; thánatos: der Tod – ein guter Tod?
Reinhard betrachtete ihr Gesicht, das nur noch aus Haut bestand, welche den knöchernen Schädel überspannte, und musste unweigerlich an einen Schrumpfkopf denken. An den eingeschrumpften Kopf eines getöteten Menschen. In der Tat: getötet hatte man seine Frau. Ohne dass irgendjemand außer ihm aufgeschrien hätte.
Ähnlich bizarre Gedanken wie der Vergleich mit einem Schrumpfkopf kamen Reinhard fortwährend in den Sinn. So dachte er an Hölderlin und dessen über alles geliebte Susette. Welche er, Hölderlin, vom Totenbett gerissen, in seinen Armen gehalten, in unsäglicher Verzweiflung umher geschleppt, durchs Totenzimmer geschleift hatte. Bis man ihn gewaltsam entfernte. Im Nachhinein wusste Reinhard nicht mehr, ob auch er seine Maria in schierer Verzweiflung aus dem Bett gezerrt und in den Armen gewiegt hatte; jedenfalls konnte er sich deutlich an ihren ausgezehrten Körper erinnern, an ihre Arme, die nur noch knöcherne Röhren, an ihre Rippen, die so spitz waren, dass er sich daran geradezu hätte stechen können.
Ihm fiel ein, dass man Maria eine parenterale Ernährung verweigert hatte. Um ihren Leidensweg zu verkürzen. Angeblich. Hatte man sie schlichtweg verhungern lassen? Denn parenterale Ernährung ist teuer. Und muss man vorhandene Ressourcen nicht vornehmlich denen zugutekommen lassen, die sich, im Gegensatz zu unheilbar Kranken und Sterbenden, noch an der Gesellschaft „verdient“ machen können?
In diesem Moment schämte sich Reinhard geradezu, dass er zu den Mitbegründern der Hospizbewegung in Deutschland gehörte, die sich in den Achtziger–Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte. Maßgeblich beeinflusst, getragen von den wunderbaren Gedanken einer Elisabeth Kübler-Ross, die in ihrem eigenen Sterben so alleine war wie ein verjagter räudiger Hund.
Er wollte sich indes nicht wie Hölderlin in den Irrsinn flüchten. Seine Feinde würden sich vor Freude auf die Schenkel schlagen. Zumal sie ohnehin versuchten, ihm eine psychische Erkrankung anzudichten. Um ihn, den kritischen Arzt, den unliebsamen Querdenker, den Renegaten, der immer wieder seinen Finger in die Wunden des Medizinbetriebs legte, aus dem Verkehr zu ziehen. Mundtot zu machen. Hinter Psychiatrie-Mauern verschwinden zu lassen. Für immer und ewig.
Gleichwohl schrie er auf ob der Verbrechen, die an seiner Frau und ihm begangen wurden. Indes: Zu groß war die Feigheit derer, die davon wussten, jedoch nichts taten – „Freunde“ ebenso wie Amnesty international („in Deutschland können Sie doch die Gerichte bemühen, wir leben schließlich in einem Rechtsstaat“), Human Rights Watch (die sich nicht einmal die Mühe machten, ihm zu antworten) geradeso wie investigative Journalisten oder Künstler und Schriftsteller. Von Wecker bis Walser, von Wallraff bis Grass oder Jelinek.
Seine Presseerklärungen waren Legion, interessiert hatten sie (fast) niemand. Einmal wollte das Schweizer Fernsehen ein Interview mit ihm senden. Kurz vor dessen Ausstrahlung wurde der zuständige Ressortleiter ohne Angabe von Gründen gefeuert. Das Geld der Anzeigen-Auftraggeber war zu wichtig, der politische Einfluss „von oben“ zu groß, sein „Vergehen“ (Krebskranken für wenig Geld zu helfen) zu verwerflich, als dass sich eine helfende Hand gerührt hätte. U.a. hatte er den folgenden Aufruf verfasst – ohne jegliche Reaktion der Angesprochenen:
Öffentlicher Aufruf
Ich bin vorm. Chefarzt und Ärztlicher Direktor. Und habe u.a. neue, alternative Methoden der Krebsbehandlung entwickelt. Die erfolgreich, den Patienten schonend und zudem extrem kostengünstig sind.
Dadurch störe ich die Kreise derer, die durch die Medizin möglichst viel Geld verdienen wollen und – auch deshalb – kategorisch eine Unterordnung unter schulmedizinisches (Pseudo-)Wissen verlangen.
Aufgrund vorgenannten Sachverhalts hat man meine Frau und Mitstreiterin, eine international bekannte Philosophin – psychisch zeitlebens völlig gesund und niemals zuvor in irgendeinem Kontakt mit dem Psychiatrie-Apparat –, zwangsweise psychiatrisiert. Ohne Grund, ohne Diagnose, ohne rechtliche Grundlage. Mit Polizeigewalt aus unserem Haus verschleppt. In einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung zwangsbehandelt. Ende letzten Jahres ist meine über alles geliebte Frau gestorben. Man kann natürlich auch sagen, man hat sie ermordet.
Nun will man auch mich psychiatrisieren. Mit denselben Methoden wie in (kommunistischen oder faschistischen) Diktaturen üblich. Deshalb brauche ich dringend den Schutz einer informierten Öffentlichkeit.
Darum meine Bitte: Informieren Sie die Medien (Internet, Presse, Verlage, Fernsehen, Rundfunk). Versuchen Sie, den Kontakt zu kritischen Journalisten und sonstigen nicht absolut systemgläubigen „Personen des öffentlichen Lebens“ (Musiker, Schauspieler, Künstler allgemein etc.) herzustellen. Berichten Sie über die Vorgänge, wenn Sie als „Medienmacher“ die Möglichkeit dazu haben.
Dadurch, dass Sie verhindern, dass neue, bahnbrechende Behandlungsmethoden unterdrückt werden, retten Sie vielleicht irgendwann Ihr eigenes Leben oder das eines geliebten Angehörigen.
Nähere Informationen und Kontakt:
Dr. med. R.A. H…
Arzt, Facharzt, Chefarzt und Ärztlicher Direktor i. R.
...
Reinhard hatte das System von Herrschaft und Unterwerfung, das sie ihn Demokratie zu nennen gelehrt hatten, in Frage gestellt, indem er sich dessen Gestaltungs- und Ordnungsprinzipen nicht mehr kritiklos unterwarf; dadurch war er zum Ausgestoßenen, sozusagen vogelfrei geworden. Und konnte nur hoffen, dass man ihn nicht zugrunde richten würde. Denn Renegaten, Abtrünnige werden seit jeher aufs schwerste bestraft. Weil sie grundsätzlich in Frage stellen: bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, den Irrsinn vorhandener Ordnungsstrukturen, die Vergewaltigung des Denkens, Fühlens und Seins. Weil sie – wie Fromm – ein richtiges Leben im falschen nicht für möglich halten und sehen und kundtun, wie die Menschen an diesem ihrem falschen Leben zerbrechen. Seelisch. Physisch. Existentiell.
Worin bestand nun sein Verstoß gegen die „geltende Ordnung“? Schlichtweg darin, dass er heilen konnte, wo die Schulmedizin versagt. Dann heilen konnte, wenn die Schulmedizin hilflos war. Wenn sie Schwerstkranken mehr schadete als nützte. Beispielweise bei Krebserkrankungen. Aber nicht nur dort. Was er natürlich an Hand von Patienten-Akten beweisen konnte. Und weshalb „man“ (will heißen: die instrumentalisierte Staatsgewalt, der Erfüllungsgehilfe entsprechender Interessengruppen wie der Pharmaindustrie) bei ihm regelmäßig Hausdurchsuchungen machte, um Unterlagen zu beschlagnahmen und seiner Forschungsergebnisse habhaft zu werden. Die er zwischenzeitlich natürlich im Ausland und sonst wo in Sicherheit gebracht hatte. Hausdurchsuchungen, Überfälle, Bedrohungen und Ähnliches mehr. Wohlgemerkt auch des Staatsapparats. Wider jedes – formale – Gesetz natürlich.
Auch wollte man ihn für verrückt erklären. Per Ferndiagnose, denn niemals hatte ihn ein Psychiater, einer dieser Schandflecke der medizinischen Zunft, auch nur zu Gesicht bekommen. Ver-rückt war er tatsächlich, indes nicht im Sinne von psychiatrisch krank. Vielmehr hatte er sich selbst aus der gängigen Ordnung ge-rückt, war damit in der Tat tatsächlich ver-rückt. Weil er nicht mehr das Profit-Spiel der Pharma-Industrie spielte. Sondern mit alternativen, will heißen nicht-schulmedizinischen Methoden seine Patienten heilte. Für einen verschwindend kleinen Bruchteil der Kosten, welche die Schulmedizin verursacht. So dass er sich des Verbrechens schuldig machte, das überaus profitable Geschäft des medizinisch-industriellen Komplexes zu stören.
Jedenfalls war dieser Versuch, ihn zu psychiatrisieren, um ihn unter Bruch sämtlicher formaler Gesetze wegzusperren, eine elegante Art, sich seiner zu entledigen. Ihn umzubringen hätte möglicherweise zu viel Aufsehen erregt. Einen Kennedy, eine Marylin Monroe, eine Lady Dy, auch einen Johannes Paul I. kann man nicht einfach wegsperren, die muss man eliminieren. Bei einem kleinen Arzt verhält es sich umgekehrt.
Trotz alledem würde Reinhard niemals freiwillig aufgeben. Bis er den Tod seiner Frau „gerächt“, will heißen, die Täter benannt und in der Öffentlichkeit bloßgestellt hatte: als eitel, dumm – im Sinne von ignorant, also nicht-wissend, nicht erkennend, kritiklos bejahend, ohne je zu hinterfragen; auch im landläufigen Sinne „gebildete“ Menschen können durchaus ignorant sein! –, als egoistisch, machthungrig und skrupellos. Bis er ihnen die ehrenwerte Maske vom weniger ehrenwerten Gesicht gerissen und sie als Protagonisten einer Spezies bloßgestellt hatte, wie diese in vielen gesellschaftlich führenden Positionen und nicht minder selten im Gesundheitswesen anzutreffen ist.
Ihm fielen die Gedichtzeilen des „Trotz alledem“-Gedichts von Freiligrath ein, geschrieben nach der gescheiterten Revolution von 1848:
„…Denn ob der Reichstag sich blamiert
Professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel regiert
Mit Huf und Horn und alledem –
Trotz alledem und alledem,
Trotz Dummheit, List und alledem,
Wir wissen doch: die Menschlichkeit
Behält den Sieg trotz alledem!“
Und ihm fielen Dr. Großkotz, Prof. Neunmalklug und Frau Prof. Tausendschön ein, die in unheilig dreifaltiger Einigkeit seine Frau nicht nur auf dem Gewissen, sondern, im wahrsten Sinne des Wortes tatkräftig, Hand an sie gelegt hatten.
Die Stille im Totenzimmer der Palliativstation war unerträglich, schnürte ihm die Kehle zu, hinderte ihn zu schreien. Zu schreien, bis er außer Atem war. Zu schreien, bis sein Gesicht anschwoll, seine Augen rot unterliefen, sein Kopf zu platzen drohte. Hinderte ihn, sein Elend, seine Verzweiflung, seine nicht in Worte zu fassende Not aus sich heraus zu brüllen.
Stattdessen schrie er stumm. Wie Edvard Munch. Der seine eigene Seelenpein in vier nahezu identischen expressionistischen Meisterwerken zum Ausdruck brachte. Und von denen er, Reinhard, vor vielen Jahren eines, soweit er sich erinnern konnte dasjenige, welches Munch 1893 malte und das heute in der Norwegischen Nationalgalerie in Oslo hängt, zum Titelbild seiner Dissertation gewählt hatte.
Schloss sich hier ein Kreis, konnte man den Bogen spannen von dem engagierten jungen Arzt, der sich bereits vor Jahrzehnten mit den nach wie vor tabuisierten Themen von Sterben und Tod beschäftigte, zu dem desillusionierten, gleichwohl weiterhin kämpferischen Chefarzt im vorzeitig-unfreiwilligen Ruhestand, den man zum Teufel gejagt hatte, weil er das Spiel von Profit, Betrug und Lüge nicht mehr mitspielen wollte?
Kälte drang durch das geöffnete Fenster. Der Dezember-Frost sollte das Kühlhaus ersetzen. Schließlich wollte man den Angehörigen „eine schöne Leich“ präsentieren: Hatte man die Tote zu Lebzeiten mit Füßen getreten, bis aufs Blut gequält, so sollte wenigstens jetzt der Mantel des schönen Scheins über sie gebreitet werden. Welche Verlogenheit, welch Heuchelei.
Natürlich durfte in diesem Szenario der Heuchelei der Pastor nicht fehlen. Jedenfalls nicht in einem religionsgebundenen Krankenhaus der erzkatholischen Stadt München. Wo die Uhren langsamer ticken, bisweilen Dekaden der Gegenwart hinterher.
Angewidert verließ Reinhard das Zimmer, als seine Schwiegermutter, diese alte, heuchlerische Betschwester, auf die Knie fiel, um mit dem Geistlichen zusammen um Vergebung für die Sünden der Toten zu beten. Vergebung für die Sünden der Toten? Wer hatte hier gesündigt? Seine verstorbenen Frau gewiss nicht. Allenfalls diejenigen, die sie, die blitzgescheite, hochintelligente Philosophin und Theologin, mit Gewalt aus ihrem Haus ins Universitätsklinikum der Weltstadt mit Herz verschleppt, sie wochenlang in der psychiatrischen Abteilung gefangen gehalten und misshandelt, sie gegen ihren Willen und völlig überflüssig operiert und ihr bei dieser Operation eine sogenannte Krankenhausinfektion gesetzt hatten, weshalb sie in den folgenden Monaten dann mehr als dreißig mal nach-operiert wurde, bis sie elendiglich verstarb.
Reinhard musste an den mittelalterlichen Hymnus vom Jüngsten Gericht denken, Ursprung des Requiem, Grundlage zahlloser literarischer Verarbeitungen und musikalischer Vertonungen:
„Dies irae dies illa Tag der Rache, Tag der Sünden,
Solvet saeclum in favilla: Wird das Weltall sich entzünden,
Teste David cum Sibylla. wie Sibyll und David künden.
Quantus tremor est futurus, Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Quando iudex est venturus, Wenn der Richter kommt, mit Fragen Cuncta stricte discussurus! Streng zu prüfen alle Klagen!
Liber scriptus proferetur, Und ein Buch wird aufgeschlagen,
In quo totum continetur, Treu darin ist eingetragen
Unde mundus iudicetur. Jede Schuld aus Erdentagen.
Iudex ergo cum sedebit, Sitzt der Richter dann zu richten,
Quidquid latet apparebit: Wird sich das Verborgne lichten:
Nil inultum remanebit. Nichts kann vor der Strafe flüchten.“
„Verstarb“ ist eine euphemistische Formulierung; man ließ seine Frau schlichtweg verrecken. Auch, indem man ihr nach einiger Zeit die kostenintensive Behandlung der Schäden, die man selbst verursacht hatte, verweigerte. Denn selbstverständlich unterliegen Krankenhäuser, unterliegt auch das sog. Gesundheits-, besser, genauer: Krankheits(verwaltungs)-Wesen der Kosten-Nutzen-Relation, die in unserer gesamten Gesellschaft gilt: „Es ist doch besser, wenn Sie sterben“, hatte ihr ein junger, nassforscher Oberarzt gesagt, „ihr Leben hat doch keinen Wert mehr“.
Wert hat offensichtliche nur, was sich in Mark und Pfennig, in Euro und Cent belegen, rechnen lässt.
So stand Reinhard nun am Totenbett seiner über alles geliebten Frau. Und ihm fiel das Brechtsche Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein: „In Zeiten [„und diese Zeiten sind seit Anbeginn unserer Zivilisation und Kultur“, dachte Reinhard], wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“, kann Kunst niemals l’art pour l’art sein. So dachte er. Vielmehr muss sie, die Kunst, Hoffnungen und Wünsche, Sehnsüchte und Ängste ausdrücken, muss sie mit der Kettensäge die Verzweiflung des Geistes, mit dem Pinselstrich die Narben der Seele zum Ausdruck bringen. Wie also könnte der Künstler sein, der nie wirklich Zweifel und Verzweiflung gespürt hat? Wie kann Kunst entstehen ohne Leid? Wie viel Leid indes kann der Künstler, kann der Mensch schlechthin ertragen?
Fragen über Fragen.