Читать книгу „… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“ - Richard A. Huthmacher - Страница 15

DAS DRAMA GEHT ZU ENDE

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Als sich der Sarg, hellbraun, an bemalte Pappe erinnernd, sicherlich nicht gerade eichen-stabil, indes massiv genug, das Häufchen Mensch zu tragen, das Maria zu Ende ihres Lebens gewesen, als sich der Sarg mit dem eher ärmlich und erbärmlich als üppig wirkenden Rosenbouquet langsam ins Grab senkte, bedächtig geradezu, als ob es jetzt noch etwas zu bedenken gäbe, erinnerte sich Reinhard unvermittelt an die Ereignisse der letzten Wochen, die sich, ähnlich einem Film, vor seinem inneren Auge abspulten:

Tapfer, mit dem Mute der Verzeiflung, mit all ihrer Kraft hatten Maria sich dem Wahnsinn, den man schulmedizinische Behandlung nennt, verweigert. Gleichwohl widerfuhr auch ihr, letztendlich, das geradezu typische Schicksal Sterbenskranker, wurde ihr, gnadenlos, aufgezwungen, was man nur allzu gerne einer unwissenden Masse als menschlichen Umgang mit Todkranken weiszumachen versucht.

Ein Männerchor sang, unmelodisch, brummend, sang einen Choral, den Reinhard nicht kannte. Alles schien ihm unwirklich, surreal, als träumte er, einen schlimmen Traum zwar, aus dem er jedoch bald erwachen würde. Und dann wäre alles wie früher.

Aber nichts war jemals wieder wie zuvor.

Der Pfarrer brabbelte seine Standard-Grabesrede. Zwar hatte Reinhard ihm eindringlich geschildert, was geschehen, hatte ihn um ein paar aufrichtige Worte gebeten; dem geistlichen Herrn indes, bayerisch-katholisch und obrigkeitsunterwürfig, war der Verstand so vernebelt und das Gefühl so verwässert, dass Reinhard ihm seine Feigheit nicht einmal für übel nahm.

Zuvor, in der Friedhofskapelle, hatte der Pfarrer die Verstorbene gesegnet. „Welch´ heuchlerisch bigotter Brauch“, dachte Reinhard, „die Lebenden tritt man mit Füßen, die Toten werden gesegnet – „De mortuis nihil nisi bene“ erschien ihm geradezu paradigmatisch für das Zeitalter des schönen Scheins.

Früher, zu Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit, hatte sich Reinhard viel mit Sterben und Tod, mit den existentiellen Fragen des Seins beschäftigt; nicht von ungefähr war er zunächst als Medizinpsychologe und -soziologe tätig gewesen, hatte sich dann der Psychiatrie zugewandt, weil er – irrtümlich, wie sich herausstellen sollte – glaubte, sich dort, an der Schwelle zur Philosophie, mit den Grenzgebieten von Geist und Seele, von normal und ver-rückt, schlechterdings mit dem, was den Menschen und das Menschsein ausmacht, beschäftigen zu können.

Die Religions- und Geschichtsphilosophie Jaspers´, dessen Betrachtung der Psychiatrie als Philosophie, aber auch dessen persönliche Integrität, die zum Bruch mit dem sich den Nazis andienenden Heidegger führte, hatten ihn beeindruckt.

Reinhard, Nachgeborener, Spross eines in die ruhmreichsten zwölf Jahre deutscher Geschichte Verstrickten, wollte, wie sein Vordenker Jaspers, nicht Einstellungen und Überzeugungen dem schnöden Erfolg opfern.

Insofern ehrte es Reinhard geradezu, dass auch gegen ihn ein Publikationsverbot verhängt wurde – wie von den Nazis gegen Jaspers. De facto verhängt wurde. Ohne dieses Verbot formaliter je auszusprechen.

Auch insofern unterscheidet sich die Jetzt-Zeit von unserer so ruhmreichen Vergangenheit. Wenn auch die Lebenswirklichkeiten, erlaubt sich der Erzähler anzumerken, einander nicht selten ähnlich sind.

Namentlich durch Maria, promovierte Philosophin, wurde Reinhard dann auch mit dem philosophischen Werk von Kant und Spinoza bekannt; mit Nietzsche und Kierkegaard hatte er sich zuvor schon beschäftigt. Diese Philosophen jedenfalls, die auch auf Jaspers starken Einfluss ausgeübt hatten, beeinflussten Reinhard außerordentlich, und in solchem Kontext begann er seine psychiatrische Ausbildung, nicht ahnend, welch barbarische Schlächter in dieser Disziplin überwiegend zu Gange sind. Die nichts wussten, nicht einmal erahnten von den psychosozialen Zusammenhängen, die nicht nur das Leben jedes Menschen tiefgreifend beeinflussen, sondern auch sein Sterben maßgeblich bestimmen.

Über diese soziale Bedingtheit von Sterben und Tod hatte Reinhard, nicht ahnend, dass solch akademischen Wahrheiten viele Jahre später seine höchstpersönliche Wirklichkeit werden sollten, vieles geschrieben; er erinnerte sich am offenen Grab Marias noch an fast jedes Wort.

Plötzlich schüttelte ihn ein heftiges Schluchzen, schnürte seinen Hals, würgte seine Kehle; derart heftig, dass er zu ersticken glaubte. Tränen liefen über seine Wangen, salzig, fast klebrig, wie er schmeckten konnte. Er wollte schreien, brüllen, aus Leibeskräften, aber kein Laut entrang sich. Unter ihm schwankte der Boden, Geräusche drangen an sein Ohr wie in Watte gehüllt. Nur schemenhaft erkannte er die Umgebung, Farben verschwammen zu einem dunklen Grau, ähnlich dem des Himmels an einem regengepeitschten Novembertag.

Sein Atem ging heftig, er atmete geradezu panisch, rang nach Luft, als würde er ertrinken. Die Leere in seinem Kopf wurde zunehmend größer, sein Herz raste, der Puls in seinen Ohren hämmerte. Merkwürdig weich wurden seine Beine, die Knie wollten ihm nicht mehr gehorchen. Dann sah er nur noch schwarz.

Als er kurze Zeit später aus seiner Ohnmacht erwachte, in die er sich hyperventiliert hatte, wusste er eine ganze Weile nicht, ob das, was er zeitrafferartig, in klaren szenischen Bildern gesehen hatte, Fiktion war oder Realität.

Nur langsam dämmerte ihm: Das kaleidoskopartige Geschehen, das sich in unvorstellbarer Verdichtung vor seinem inneren Auge abgespult hatte wie ein rasender Film, gab wieder, was geschehen war seit Marias unvermittelter Entlassung aus der Psychiatrie:

Reinhard brachte Maria – ein Bild des Jammers mit den grünlichen, stinkenden Verbanden, die ihre abgemagerten Beine umschlangen und die vor der Entlassung zu wechseln man sich nicht die Mühe gemacht hatte, da man Maria nicht schnell genug loswerden konnte, weil vertuschen wollte, dass die stümperhaften Psychiater mit ihren rudimentären Medizin-Kenntnissen ihr beim Wechseln der Verbände eine schwere nosokomiale Infektion gesetzt hatten –, Reinhard brachte Maria in eine Klinik, die auf Verbrennungen spezialisiert ist, weil er dort besondere Fachkenntnisse in der Behandlung großflächig infizierter Wunden vermutete.

Nur widerwillig nahm man Maria auf; das Triumvirat (genauer: Trium-vir-mulier-at) Prof. Neumalklug, Dr. Großkotz und Frau Prof. Tausendschön hatte sie schon angekündigt und zweifelsohne in schillernden Farben nur das Beste über sie berichtet.

Auch die „Spezialisten“ bekamen die Infektion nicht unter Kontrolle; um ein Abfaulen der Beine zu verhindern resp. so lange wie möglich hinauszuzögern, mussten mehrmals wöchentlich die Verbände, die mit der Haut darunter verklebt waren und immer wieder neu verklebten, gewechselt werden, so dass man Maria jedes Mal häutete wie ein Indianer sein Opfer beim Skalpieren.

Die Schmerzen Marias bei dieser Prozedur waren – verständlicherweise – so groß, dass die Verbandswechsel in Narkose vorgenommen wurden.

Zwar bot Reinhard wiederholt an, vielmehr bedrängte er die Kollegen geradezu, ihm, anstelle der Narkose, jeweils eine Hypnose Marias zu gestatten. Die Kollegen Schulmediziner indes hatten mit solch Firlefanz nichts am Hut, verbaten sich den Unsinn und verpassten Maria in zwei Monaten über dreißig Narkosen.

Welch kluger Kopf Maria doch war, dass sie, trotz solch massiver Eingriffe, bis zu ihrem Tod nichts von ihrer intellektuellen Brillanz verlor, obwohl ein solches Procedere wahrscheinlich das Gehirn eines Elefanten zu zerstören vermag.

Im Übrigen erlaubte man Reinhard dann in der Palliativstation, Hypnosen durchzuführen. Mit dem Resultat, dass nicht einmal die Gabe eines Schmerzmittels, geschweige denn eine Narkose bei den Verbandswechseln erforderlich war.

Infolge der fürchterlichen Erlebnisse und auch, weil Reinhard Maria in der Klinik nicht behandeln durfte, erlitt diese schließlich ein Rezidiv ihrer Krebserkrankung. Mag dies verwundern?

Irgendwann jedenfalls war Marias Lebenswille gebrochen, waren ihre körpereigenen Abwehrkräfte erschöpft, fing sie an, sich zu verbrauchen wie eine erlöschende Kerze.

Als nun die Krebserkrankung wieder aufbrach, fühlte man sich auch in der Unfall- und Verbrennungsklinik nicht mehr zuständig für Maria. Weil ihre Prognose zunehmend infaust wurde, wollte man sie loswerden – in Zeiten pauschalierter Vergütung auch wegen der immensen Kosten, die sie verursachte.

Der Krankenkasse war dies Wasser auf ihre Mühle, denn die Tagessätze einer Palliativstation, auf die Maria abgeschoben werden sollte, sind ganz erheblich niedriger als die einer Spezialklinik.

Folglich reduzierte man die Versorgung Marias auf das absolute Minimum bzw. das, was verantwortungslose Ärzte für eine Minimalversorgung halten.

Weder kümmerte man sich darum, dass Maria aß und trank, noch gab man ihr, wenigstens, Infusionen zur Flüssigkeitszufuhr oder, gar, eine parenterale Ernährung, damit sie nicht verhungere. An (teure) Bluttransfusionen, damit Maria nicht ersticke, war erst recht nicht zu denken.

„Lassen Sie doch zu, dass Sie sterben“, sagte der nassforsche Oberarzt, „sie werden ohnehin nie mehr laufen können, das ist doch kein Leben.“

Damit sich nur ja kein Widerstand rege, wurde Maria klammheimlich – ohne dass man die Angehörigen zuvor informiert hätte – in die sechzig Kilometer entfernte Palliativstation einer religionsgebundenen Klinik in München verbracht.

Dort starb sie kurze Zeit später.

„Nicht schießen, nicht schießen“ waren die letzten Worte, die Reinhard von ihr hörte. „Nicht schießen, nicht schießen.“

„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“

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