Читать книгу „So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“ - Richard A. Huthmacher - Страница 25
EXKURS: SOZIALPOLITISCHE VERHÄLTNISSE AN DER ZEITENWENDE VOM MITTELALTER ZUR NEUZEIT
ОглавлениеMein lieber R.!
Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund möchte ich wie folgt anmerken: Am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit (also im 15./16. Jhd.) entstand das moderne (kapitalistische) Welt- (Wirtschafts- und Gesellschafts-) System; es formierte sich – gegen den Widerstand egalitärer Bewegungen, die sich im 14. Jahrhundert überall in Europa ausbreiteten und im Deutschen Bauernkrieg von 1524/25 ihren Höhepunkt fanden – aus dem im Niedergang begriffenen Feudalismus wie aus dessen Relikten und wurde – bis hin zum Neoliberalismus unserer Zeit – zum erfolgreichsten Wirtschafts- und Gesellschaftssys- tem der Geschichte überhaupt (wobei erfolgreich in keiner Weise gerecht, sozial verträglich oder menschenwürdig bedeutet, war und ist dieses System doch untrennbar verbunden mit unzähligen Kriegen, mit Völkermord, mit der Entwurzelung und Vertreibung von Millionen und Abermillionen von Menschen, mit einer tiefen und schier unüberbrückbaren Spaltung in Arm und Reich – heutzutage nicht weniger himmelschreiend als zu Zeiten des mittelalterlichen Feudalismus´ –, nicht zuletzt mit der totalen und globalen Zerstörung unseres Planeten).
Dieses kapitalistische System, das nach und nach und peu à peu den Feudalismus ablöste, fußt auf der uneingeschränkten Akkumulation von Geldmitteln, die in den Handelshäusern und Banken (resp. Äquivalenten zu dem, was wir heute als Bank bezeichnen) und namentlich in Venedig und Genua, in Augsburg (mit den Fuggern), später in Amsterdam (mit der ersten Gründung einer Aktiengesellschaft 1602) ihren Anfang nahm.
Auch gilt festzuhalten, dass die Renaissance durchaus mit einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungskreise verbunden war und wie kaum eine andere durch apokalyptische Endzeiterwartungen geprägt wurde; umherziehende Prediger verkündeten das Ende der Welt, die Angst vor der Hölle erfasste die Menschen geradezu endemisch. „Die Inquisition weitet sich im 16. Jahrhundert massiv aus, Hexenverfolgungen, die im Mittelalter eine eher geringe Rolle spielten, erreichen ihre Höhepunkte in der Zeit von 1550 bis 1700, die Folter sowie extrem brutale Hinrichtungsarten werden systematisch und im großen Maßstab angewendet, vor allem, um gegen dissidente Bewegungen vorzugehen.
Bereits seit dem 14. Jhd. steckte das Feudalsystem in einer schweren Krise; diese war in erheblichem Maße auf das Ende der mittelalterlichen Warmzeit, auf massive Kälteeinbrüche und damit verbundene Ernteausfälle und Hungersnöte zurückzuführen. „Ganze Landstriche waren ... entvölkert; die Feudalherren hatten nach wie vor Land, aber kaum noch Menschen, um dieses zu bearbeiten.“
Zudem erstarkten im 14. Jhd. (von Bauern und Handwerkern getragene) soziale Bewegungen, die sich gegen Ausbeutung und Gewalt zur Wehr setzten; die Ursprünge dieser gesellschaftlichen Strömung reichten zurück bis zu den sog. „Armutsbewegungen“ des (12. und) 13. Jhd., die sich auf Franz von Assisi beriefen. In dieser Krise des Feudalismus´ im 14. Jhd. gab es eine Reihe von Aufständen, in denen Bauern und Handwerker und ebenso religiös wie säkular motivierte Sektierer gegen die kirchliche und weltliche Obrigkeit aufbegehrten. Als Bundschuh-Bewegung (so genannt nach dem traditionellen, mit einem langen Riemen gebundenen Schuhwerk der einfachen Landbevölkerung) bezeichnet man die Bauernaufstände um 1500 (1493-1517) in Südwestdeutschland (unter Führung von Joß Fritz); sie gilt gemeinhin als Vorläuferbewegung der Bauernkriege von 1524-1526.
„Ungefähr fünfzig Jahre nach der Unterdrückung der hussitischen Bewegung zeigten sich die ersten Symptome des aufkeimenden revolutionären Geistes unter den deutschen Bauern. Im Bistum Würzburg, einem durch die Hussitenkriege, ´durch schlechte Regierung, durch vielfältige Steuern, Abgaben, Fehde, Feindschaft, Krieg, Brand, Mord, Gefängnis und dergleichen´ schon früher verarmten und fortwährend von Bischöfen, Pfaffen und Adel schamlos ausgeplünderten Lande entstand 1476 die erste Bauernverschwörung. Ein junger Hirte und Musikant, Hans Böheim von Niklashausen, auch Pauker und Pfeiferhänslein genannt, trat plötzlich im Taubergrund als Prophet auf … Mehrere Monate predigte Pfeiferhänslein vor den Massen … ´Und nun´, schloß er seine Predigt, ´gehet heim …; … ihr Männer [jedoch], kommet wieder her nach Niklashausen auf St. Margarethentag ... Kommt aber nicht mit dem Pilgerstab, sondern angetan mit Wehr und Waffen … Am bestimmten Tage kamen an 34.000 bewaffnete Bauern … Der Bischof brachte sie durch Versprechungen wieder zum Abzug; aber kaum hatten sie angefangen sich zu zerstreuen, so wurden sie von des Bischofs Reitern überfallen … Zwei wurden enthauptet, Pfeiferhänslein selbst aber wurde verbrannt …
Nach diesem ersten Versuch blieb Deutschland wieder längere Zeit ruhig. Erst mit Ende der neunziger Jahre begannen neue Aufstände und Verschwörungen der Bauern. Wir übergehen den holländischen Bauernaufstand von 1491 und 92, … den gleichzeitigen Aufstand der Bauern der Abtei Kempten in Oberschwaben und den friesischen Aufstand unter Syaard Aylva um 1497… Wir gehen gleich über zu den beiden großen Verschwörungen, die den Bauernkrieg vorbereiteten: dem Bundschuh und dem Armen Konrad.
Dieselbe Teurung, die in den Niederlanden den Aufstand der Bauern hervorgerufen hatte, brachte 1493 im Elsaß einen geheimen Bund von Bauern und Plebejern zustande, bei dem sich auch Leute von der bloß bürgerlichen Opposition beteiligten und mit dem sogar ein Teil des niederen Adels mehr oder weniger sympathisierte … Die Bundesfahne, die im Moment der Erhebung entfaltet werden sollte, enthielt einen Bauernschuh mit langen Bind-riemen, den sogenannten Bundschuh, der von nun an den Bauernverschwörungen der nächsten 20 Jahre Symbol und Namen gab … [Die Verschwörung wurde verraten], viele der Verschwornen wurden verhaftet und gefoltert, und teils gevierteilt oder enthauptet, teils an Händen und Fingern verstümmelt und des Landes verwiesen …
Aber mit dieser ersten Sprengung war der Bundschuh keineswegs vernichtet. Im Gegenteil … Die Zähigkeit und Ausdauer, mit der die oberdeutschen Bauern von 1493 an dreißig Jahre lang konspirierten, mit der sie alle aus ihrer ländlich-zerstreuten Lebensweise hervorgehenden Hindernisse einer größeren, zentralisierten Verbindung überwanden und nach unzähligen Sprengungen, Niederlagen, Hinrichtungen der Führer immer von neuem wieder konspirierten, bis endlich die Gelegenheit zum Aufstand in Masse kam – diese Hartnäckigkeit ist wirklich bewundernswert …
… Kaiser Maximilian … erließ die blutdürstigsten Strafverordnungen gegen das unerhörte Unternehmen der Bauern. Hier und dort kam es zu Zusammenrottungen und bewaffnetem Widerstand; doch hielten sich die vereinzelten Bauernhaufen nicht lange. Einige der Verschwornen wurden hingerichtet, manche flohen … Nach dieser neuen Niederlage trat wieder eine längere scheinbare Stille in den Klassenkämpfen ein. Aber unterderhand wurde fortgearbeitet. In Schwaben bildete sich, offenbar in Verbindung mit den zersprengten Mitgliedern des Bundschuhs, schon in den ersten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts der Arme Konrad …
Gegen Herbst 1513 sollte losgeschlagen werden … [Der Plan wurde verraten, die Strafe der Herrschenden war schrecklich.] Man begreift, daß nach einer Reihe so entscheidender Niederlagen und nach diesen massenhaften Grausamkeiten des Adels die Bauern in Deutschland eine längere Zeit ruhig waren. Und doch hörten weder die Verschwörungen noch die Lokalaufstände ganz auf …“
Die Herrschenden, Adel wie Klerus, reagierten auf diese und all die anderen Aufstände (so beispielsweise in Ungarn oder in Tirol) aufs Schärfste, u.a. mit dem ersten deutsche Strafgesetzbuch, der Constitutia Criminalis Carolina: Als Hinrichtungsarten werden Verbrennen, Enthaupten, Vierteilen, Rädern, Hängen, Ertränken, Pfählen, lebendig Begraben genannt.
Aus den sozialen Kämpfen zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich nach und nach das kapitalistische System, das wir heute kennen; zunächst gab es noch viele Elemente des Feudalismus´ und absoluter Willkürgewalt („L'état c'est moi“, so bekanntlich der Sonnenkönig, Ludwig XIV.), dann folgten die sog. bürgerlichen Revolutionen (beispielsweise die französische von 1789 oder auch die amerikanische von 1776) eben jener Bürger, die durch zunehmende Kapitalakkumulation reich und mächtig geworden waren; sie sind als Emanzipationsbewegung gegenüber den noch dominierenden feudalen Strukturen und Funktionsträgern, sprich gegenüber Adel und Klerus zu betrachten; schließlich entstand aus dem bürgerlich-kapitalistischen System das der Kartelle und Konzerne im Neoliberalismus der heutigen Zeit. (So, Lieber, die gesellschaftliche Entwicklung. Nach meinem Dafürhalten. Solltest Du – als Soziologe – dies anders sehen, lass mich´s bitte wissen.)
Zu Luthers Zeit jedenfalls konkurrierten die sich entwickelnden Territorialstaaten (vom Rittergut bis zum Fürstenreich) mit der weltlichen und kirchlichen Zentralgewalt, sprich: mit Papst und Kaiser; sowohl die Herrschaftsgewalt als solche als auch die aus dieser resultierenden Pfründe standen zur Disposition.
Das überschüssige Kapital der großen Handels-, später auch Bankhäuser (z.B. der Fugger) wurde der herrschenden adeligen Schicht zur Verfügung gestellt; diese gewährte den Neo-und Früh-Kapitalisten Schutz und Geleit sowie die Eroberung neuer (zunehmend auch übersee- ischer) Märkte.
An die Stelle der alten Kapitalisten traten nach und nach neue. Wie in den feudalen Strukturen und Systemen zuvor ging es auch nun nicht um einzelne Personen, diese fungieren nur als Funktionsträger; es war vielmehr ein Wettbewerb der Systeme, der zu Luthers Zeit entfacht wurde (resp. partiell bereits in vollem Gange war), in dem das einfache Volk allenfalls die Statisten und Luther den Propagandisten der (noch) herrschenden alten (feudalen) Schicht gab: Mag die anfängliche Empörung gegen Klerus und Papst, gegen all die Missstände der Kirche, gegen das über tausend Jahre verkrustete System noch weit(est)gehend authentisch gewesen sein, so verstand es Luther alsbald, sich (mit Hilfe seiner zwischenzeitlich gewonnenen Popularität und Autorität) zum Sprachrohr der (innerhalb der feudalen Strukturen) aufstrebenden Schicht der Landesherren (in deren Kampf gegen Kaiser und Papst) zu machen; das cuius regio eius religio des Augsburger Religionsfriedens von 1555 emanzipierte die Fürsten des Reiches, machte sie nicht nur zu weltlichen Herren, sondern auch zu Kirchenoberen.
Insofern und insoweit war die „Reformation“ ein voller Erfolg. Für, die sie betrieben. Für die, welche von ihr profitierten. Mit Sicherheit nicht für das einfache Volk, für all die Menschen, deren Hoffnungen durch leere (luthersche) Versprechungen geweckt worden waren, die ihren Traum von einer etwas besseren, ein wenig gerechteren Welt jedoch mit Not und Tod, mit erneuter Versklavung bezahlen mussten.
Insofern hat Luther Hoffnungen geweckt, die er dann aufs schändlichste enttäuschte. Insofern war Luther ein Fürsten-Knecht. Insofern möge das Blut all derer, für deren Schand und Qual er verantwortlich ist, über ihn kommen. Insofern kann ich an Luther nichts Bewundernswertes erkennen. Im Gegenteil.
Insofern stellt sich die Frage, weshalb er, auch heute noch und namentlich auch in politisch düsteren Zeiten wie denen des 3. Reiches (hierzu später mehr), eine gesellschafts-politisch derart bedeutende Rolle spielt(e).
Insofern gilt die ebenso alte wie allgemeingültige Frage. Cui bono? Insofern wird verständlich, weshalb man Luther zum Säulen-Heiligen macht(e). Insofern gilt es, ihn von seinem Podest zu stoßen. Auf das ihn diejenigen stell(t)en, die von seiner Ideologie profitieren.