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ZUR GESELLSCHAFTLICHEN, SOZIALEN UND POLITISCHEN SITUATION ANFANG DES 16. JHD. ZUR ROLLE DER STÄDTE WÄHREND DER REFORMATION

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Liebste,

lass mich wie folgt festhalten: „´The reformation was an urban event.´ Ein Grund dafür ist das Prinzip sola scriptura: Die Lehre wird von der Predigt getragen und als gedrucktes Wort durch Flugblätter, Bibelübersetzungen und das Gemeindelied verbreitet; dies kommt dem vielfach lesefähigen Stadtbürgertum entgegen. Ein weiterer Grund liegt in der Neigung der Städte, ´sich als Corpus Christianum im Kleinen zu verstehen´ … Schon in seinem Gutachten von 1523 für die sächsische Kleinstadt Leisnig betont Luther, dass die Kirchengemeinde selbst über ihre Ordnung zu bestimmen habe. Und die Kirchengemeinde ist im Selbstverständnis des Stadtbürgertums identisch mit der Bürgergemeinde …

Zwischen 1520 und 1540 bekennen sich fast alle Reichs- und Hansestädte zur Reformation, nur Köln entzieht sich der Bewegung. Der religiöse Aufbruch verbindet sich mit der Rückkehr zu den genossenschaftlichen Verfassungstraditionen. Darin zeigt sich die Zielrichtung der reformatio.“

Insofern war die Re-formation in den Städten tatsächlich der Versuch, alte soziale Strukturen wiederherzustellen. Wohingegen das Aufbegehren der Bauern und der Landbevölkerung als Re-volution (re-volvere: um-drehen, auf den Kopf stellen), als Versuch, strukturelle Gewalt zu überwinden und gesellschaftliche Fesseln abzustreifen, zu werten ist.

Gleichwohl: Die einen wie die anderen beriefen sich auf Luther. Weil dieser (fast) allen Ständen und Gruppen (je nach Auslegung) ideologisches Rüstzeug lieferte (sich indes – letztlich – nur einer Gruppe verpflichtet fühlte: derjenigen der Fürsten; s. zuvor und hernach).

Zur gesellschaftlichen, sozialen, politischen und demographischen Situation zur Zeit der Reformation gilt wie folgt festzuhalten:

In Deutschland lebten zu dieser Zeit ca. 10 Millionen Menschen, europaweit ca. (60-)80 Millionen. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts wurde in Deutschland wieder eine Einwohnerzahl wie zu Beginn des 14. Jahrhunderts erreicht; zwischenzeitlich hatte der „Schwarze Tod“ europaweit für eine Bevölkerungsreduktion um 30-50 Prozent gesorgt. Auch im 16. Jhd. gab es noch Pestepidemien; allein in Augsburg wurden in der ersten fünf Dezennien 38.000 Pesttote (in 8 Pestjahren) gezählt.

Indes war nicht nur der Schwarze Tod für einen drastischen Rückgang der Bevölkerung verantwortlich: Seit „der großen Hungersnot der Jahre 1313-1317 … [traten] die zyklischen Wechselbeziehungen zwischen Mißernten, Hungersnöten und Seuchen immer stärker in Erscheinung …“

Die Säuglings- und Kindersterblichkeit war groß; namentlich aufgrund dieser lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei gerade einmal 25 bis 35 Jahren. „Über die Sterblichkeit von Jugendlichen und Erwachsenen aus den lutherischen Mittel- und Oberschichten lassen sich anhand der Angaben in Leichenpredigten relativ zuverlässige Aussagen gewinnen: … [So] hatten Knaben mit fünfzehn Jahren die Aussicht, im Durchschnitt 57jährig zu werden, wogegen gleichaltrige Mädchen infolge der hohen Kindersterblichkeit und der physischen Überbeanspruchung nur ein Alter von 38 Jahren erreichten.“

In Deutschland lebten zur Zeit der Reformation weniger als 20 Prozent der Menschen in Städten (ca. 3.000 an der Zahl); 94,5 Prozent dieser Städte hatten – wie Wittenberg – nicht mehr als 2.000 Einwohner. Rund 5 Prozent (beispielsweise auch Basel und Konstanz) waren mittelgroße Städte mit 2.000 – 10.000 Einwohnern, und nur 0.5 Prozent der Städte zählten mehr als 10.000 Einwohner. Die meisten deutschen Städte wurden zwischen 1150 und 1450 gegründet; bis zum 19.Jhd. (Industrialisierung!) ging die Zahl der Neugründungen (drastisch) zurück.

Durch die Urbanisierung im Spätmittelalter veränderten sich die Wirtschafts- und Sozialstrukturen tiefgreifend; Handel und Gewerbe nahmen an Umfang und Bedeutung zu, mit ihnen gewann das (städtische) Bürgertum an Gewicht und wurde zum Movens wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen.

Unter der Landbevölkerung waren zur Zeit der Reformation nur sehr wenige Bauern freie Bauern (d.h. persönlich frei und Eigentümer ihrer Höfe). Die Mehrzahl war feudaler Grundherrschaft unterworfen; lehensfähig (also potentielle Feudalherren) waren neben dem Adel die Kirche (mitsamt Klöstern) sowie seit dem 13. Jahrhundert auch das Patriziat, also die Herrschaftsschicht der Städte. Lehensgegenstand waren Grund und Boden nebst Erträgen, die Abgaben und Steuern der Unfreien sowie sämtliche Herrschafts- und Besitzrechte über diese und das von ihnen verwaltete Gut (einschließlich Polizeirechten und Gerichtsbarkeit).

Während den Grundherren das Recht am Boden (dominium directum) zustand, erhielten die unfreien Bauern nur ein wirtschaftliches Nutzungsrecht (dominium utile) und waren zu Abgaben (zum Zehnten) und zu Frondiensten verpflichtet; tatsächlich dürfte ihnen allenfalls die Hälfte der Ertrage verblieben sein.

Es gab indes auch selbstverwaltete Dörfer und Dorfgemeinden (die beispielsweise in der Schweizer Eidgenossenschaft – zusammen mit einigen Städten – als genossenschaftlicher Territorialbund ein Staatengebilde formten, das indes nach dem Schwäbischen Krieg 1499 de facto aus dem deutschen Reichsverband ausschied).

Wie immer dann, wenn Macht gegen Ohnmacht und Reichtum gegen Armut steht, waren die Methoden der Lehnsherren, ihre Lehen zu begründen oder zu erweitern, nicht gerade zimperlich:

Fälschungen in Art der Konstantinischen Schenkung (Falsifikat, das auf einer um 800 n. Chr. datierenden Urkunde basiert, wonach Konstantin I. im Jahre 315 Papst Silvester und all seinen Nachfolgern Rom, sämtliche Provinzen Italiens und die gesamte Westhälfte des Römischen Reiches übertragen habe) waren nicht die Ausnahme, vielmehr ein durchaus gängiges Mittel zum Erwerb von Besitztümern: Wollten Bischöfe und Äbte ihren Grundbesitz mehren, ließen sie oft eine Fälschung erstellen, die dann im Archiv „gefunden“ wurde und das angeblich rechtmäßige Eigentum an Ländereien bewies. Mönche wurden im Fälscher-Handwerk regelrecht ausgebildet; sie durchzogen dann das Land – von Kloster zu Kloster –, um dem erlernten „Handwerk“ nachzugehen.

Seit dem 14. Jhd. war das „Bauernlegen“ (zwangsweise Einziehung von Bauernhöfen) Usus; die Bauern wurden mit Gewalt zu Leibeigenen gemacht, das Gutsuntertanentum wurde erblich und den Entrechteten und Geknechteten erzählten ihre Oberen, dieser Zustand bestehe seit je und sei Gottes Wille – insbesondere das danieder gehende Rittertum wollte derart seine Pfründe sichern. Nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes von 1525 persistierte und florierte diese Art des Sklaventums; erst Napoleon sorgte, auch in Deutschland, für das Verschwinden feudalistischer Leibeigenschaft.

Insofern kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Luther durch seine Rolle im Bauernkrieg einen erheblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Sklaverei und Leibeigenschaft und zu deren Fortdauer während der nächsten dreihundert Jahre geleistet hat!

Jedenfalls gilt festzuhalten: Die „Bauern wurden in ihrer sozialen Stellung zusehends zu leibeigenen oder untertänigen, an den Boden gebundenen Fronarbeitern herabgedrückt“; beispielsweise und nur pars pro toto wurde sämtliches Hab und Gut (sofern denn solches vorhanden) eingezogen, wenn ein leibeigener Bauer ohne Einverständnis seines Grundherrn heiratete.

Aus wirtschaftlicher Not bzw. als Versuch, einen Ausweg aus dieser zu finden, weiteten sich gewerbliche Tätigkeit (Heimarbeit) und Zunftwesen auch auf dem Lande aus (welcher Umstand im Gegensatz zu den Interessen der Städte stand); oft verkauften die Bauern ihre Söhne auch als (Söldner-)Soldaten.

Der Feudalherrschaft des Adels standen die Städte gegenüber; diese hatten seit dem Hochmittelalter eine politische und rechtliche Sonderstellung erlangt, weshalb sie Adel und Klerus (beide, beispielsweise in Form der Fürst-Erzbischöfe, oft miteinander in Personalunion) ein Dorn im Auge waren.

Da Luther in Wittenberg (und nicht in einer Freien resp. Reichs-Stadt) lebte, vertrat er die Interessen seines Territorialherren Friedrich. Nach dem alt- wie wohlbekannten und immer wieder neuen Motto: Wes´ Brot ich es, des´ Lied ich sing. Hätte Luther – so meine These – in Basel oder Zürich gewirkt, hätte er ein ideologisches Konzept vertreten, das die Interessen seiner (hypothetischen) dortigen Herren bedient hätte: Die religiös-inhaltlichen Gegensätze der verschiedenen reformatorischen Richtungen waren bisweilen marginal, die politisch-ideologisch-gesellschaftlichen Differenzen und „Contradictiones“ indes, die man daraus konstruierte, waren immens.

Ergo: Die Religion war das klägliche Feigenblatt, hinter dem knallharte machtpolitische Ansprüche versteckt wurden.

Fazit: Durch die Reformation wollten die Reichsfürsten – jedenfalls die, welche nicht zudem (Erz-)Bischöfe und dadurch zugleich und ohnehin schon religiöses Oberhaupt waren – auch die kirchliche Oberhoheit erringen sowie eine weitgehende Emanzipation mit Kaiser und König erreichen. Die Freien resp. Reichs-Städte verfolgten ihrerseits das Ziel, die Einflussmöglichkeiten des Kaisers/Königs zu verringern und die Begehrlichkeiten der zunehmend erstarkenden Landesfürsten abzuwehren. Und Kaiser und Kirche resp. der Papst wollten, das alles beim Alten und die Macht weiterhin bei ihnen blieb.

„Jede soziale Schicht brachte ihre eigene Reformation hervor. Der hohe Adel schloss sich samt … Untertanen Martin Luther an, das Bürgertum in den Städten vorrangig Zwingli und Calvin, die humanistischen Bildungsbürger Philipp Melanchthon, Bergknappen und Bauern Thomas Müntzer, die einfachen Handwerker Balthasar Hubmaier und den Täufern, die Ritter, also der niedere Adel, Franz von Sickingen. Es entstand sogar, immer noch wenig bekannt, eine Reformation der Frauen.

Drei grundsätzliche Strömungen lassen sich unterscheiden: die (lutherisch und ´philippinisch´ geprägte) Reformation landesherrlicher Territorien; die (zwinglianisch und calvinistisch dominierte) Reformation der Schweizer und oberdeutschen Städte; und die radikale Form, auch ´linker Flügel der Reformation´ genannt in den beiden grundlegenden Varianten der sozial-politischen Revolution eines Müntzer oder des Rückzugs aus der Welt wie beim Gros der Täufer.

Martin Luther, der Vorkämpfer, ist einer der Großen, gewiss – und dennoch nicht ´der´ Reformator, sondern einer von zahlreichen Reformatoren, ebenso wie es viele Reformationen oder reformatorische Strömungen gab und nicht die eine Reformation. In Wellen breitete sie sich aus, zuerst die Rebellion unter Luther, die soziale Revolution von Müntzer bis Münster [Täuferreich von Münster], dann die städtische Reformation bei Zwingli und die Restauration unter den Fürsten bei Melanchthon, schließlich die Reglementierung des bürgerlichen Lebens bei Calvin. Die weltweite Ausbreitung gelang dann durch die Mission und durch die Verfolgten, die die neue Lehre in andere Länder trugen.“

Während es im feudalen Landrecht ein ständisch gegliedertes Recht gab (Adel und Klerus konnten nur von ihresgleichen vor Gericht gezogen werden), galten nach Stadtrecht alle Bewohner als gleich und frei. Es gab jeweils ein Stadtrecht, das gleichermaßen für alle galt („Legalitätsprinzip“); von ihrer Rechtsgebungsbefugnis machten die Städte auch regen Gebrauch.

Indes: Trotz ihrer (rechtlichen, formalen und realen) Autonomie drohte den Freien und Reichsstädten ständig, von einem Territorialstaat unterworfen zu werden (so wurde beispielsweise 1486 die Reichsstadt Regensburg vom Herzog von Bayern annektiert).

Deshalb mussten die (Freien und Reichs-)Städte nach außen wehrhaft und im Inneren (ideologisch) gefestigt sein, um gegen die Macht der Landesfürsten bestehen zu können – insofern spielte die Religion als verbindendes Glied eine nicht zu unterschätzendes Rolle. Zumal auch innerstädtische Interessenkonflikte, beispielsweise die zwischen Bürgertum und (Handwerker-)Zünften, nicht selten beträchtlich waren: Allein zwischen 1509 und 1514 kam es deshalb in fast zwanzig Städten zu schweren Unruhen.

Die Territorialherren ihrerseits erzielten zunehmend Einnahmen aus fortschreitender Kommerzialisierung und Industrialisierung (Handelsmonopole und Berg[werks]regale); durch Abtretung letzterer verschafften sie sich Kredite bei den großen Handelshäusern, namentlich bei den Fuggern, um damit ihre eigene, vom Kaiser unabhängige Reichs- und Kirchenpolitik zu betreiben und ggf. auch gegen die Freien und Reichsstädte Kriege zu führen.

Dieser „frühneuzeitlichen Staat“ bezeichnete sich nunmehr selbst – und zum ersten Mal in einem offiziellen Reichsdokument 1486 (Landfriedensordnung des Reichstags von Frankfurt) – als „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“: Einerseits wurde die imperiale Reichsidee zu Beginn des 16. Jhd. neu belebt: „Imperiale Vorstellungen und Ansprüche, die seit dem hohen Mittelalter für das Oberhaupt des Reichs zur Verfügung standen, wurden auf einmal, im Abstand von mehr als 200 Jahren, wiedererweckt.“

Andrerseits spielte der Nationalisierungsgedanke, wie er in der Begrifflichkeit „deutscher Nation“ zum Ausdruck kommt, als Abgrenzung gegenüber dem Papsttum und somit in der Reformation eine wichtige Rolle.

Fünf Adelsfamilien beherrschten das Deutsche Reich; es waren dies die habsburgische Großdynastie, die Wittelsbacher (Bayern und Kurpfalz), die Welfen (Niedersachsen), die Hohenzollern (schwäbische Stammgebiete, Mark Brandenburg, die beiden Erzbistümer Mainz und Magdeburg, somit zwei der sieben Kurfürstentümer des Reichs) und die Wettiner.

Stammland letzterer war Sachsen. „Der wirtschaftliche Reichtum, vor allem durch den Silberbergbau, ermöglichte den Wettinern eine relativ starke politische Einflußnahme und Unabhängigkeit im Reich. So wäre auch der Schutz vor Kaiser und Papst, den der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise Martin Luther gewährte, ohne dieses wirtschaftliche, materielle Fundament kaum möglich gewesen.“

In der Person Kaiser Karls V. herrschten die Habsburger unmittelbar über Spanien, Sardinien, Sizilien und Süditalien (Königreich Neapel), über die heutigen Benelux-Staaten, über Teile Nordfrankreichs, über ihr Stammland Österreich, über große Teile Südwestdeutschlands einschl. des Elsass´, nicht zuletzt über die spanischen Kolonien. Mittelbar herrschte Karl als römischer Kaiser und König (und damit als Reichsoberhaupt) über Deutschland sowie Ober- und Mittelitalien:

„Noch nie hatte ein deutscher Kaiser so weite Gebiete regiert wie dieser Habsburger. Man konnte meinen, in der deutschen Kaisergeschichte sei plötzlich ein neues Zeitalter angebrochen.“

Gleichwohl: Um 1517 überhaupt gewählt zu werden, musste Karl eine Reihe von Rechten an die Fürsten abgeben: „Juristisch gesehen war Karl V. nicht mächtiger, sondern schwächer als alle früheren deutschen Kaiser.“

Der Papst hatte Luthers Landesherrn, Friedrich den Weisen, Kurfürst von Sachsen, als Kandidaten zur Königswahl (und Kaiserkrönung) vorgeschlagen; dieser lehnte dankend ab.

In dieser Gemengelage, in welcher Papst, Kaiser und Fürsten, aber auch die Städte wie beschrieben zuvor die tragenden Rollen spielten, waren Konflikte vorprogrammiert. Unvermeidbar.

Alle Beteiligten an diesem Spiel um Einfluss und Macht versuchten, sich so gut wie möglich zu positionieren. Dazu bedienten sie sich, in heutiger Diktion, ihrer think tanks. Leiter des wichtigsten Think Tank (desjenigen, der die Reformation im Sinne der Landesfürsten betrieb) war Luther, insofern und insoweit mehr homo politicus quam religionis.

Die Städte hatten andere Vordenker, namentlich Zwingli und Calvin (s. zuvor). Und die Städte hatten andere Interessen. Als die Landesherren. Und Luther als deren Herold. Sie, die Städte, spielten eine wichtige Rolle bei der Um- und Durchsetzung der Reformation. Auch wenn erst die jüngere Forschung diese ihre Bedeutung erkannte:

So wurde die Reformation ab 1520 auch in den Städten (namentlich in denen Süd-, Südwest- und Mitteldeutschlands) zu einer Massenbewegung; mit einer Verzögerung von (reichlich) einem Jahrzehnt folgten die norddeutschen Städte.

In den Städten, die selbst über ihre Religionszugehörigkeit entscheiden konnten, war es meist der soziale und politische Druck „von unten“, der die Reformation beförderte; oft gaben die Stadt-Oberen diesem nach, um Unruhen zu vermeiden und ihre eigene Herrschaft nicht zu gefährden.

„Nicht zu vergessen ist, daß die Reformation in den Städten ihren ursprünglichen Impuls von Luther bekommen hatte. Seit 1524 jedoch kam es zu einem Ringen zwischen lutherischem und zwinglianischem Einfluß. Hier ging es nicht nur um das Abendmahlverständnis. Es ging um mehr … Auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 meldete sich auch die Gruppe zu Wort, die sich zwischen Luther und Zwingli stellte: die oberdeutschen Städte. Sie reichten ihr ´Confessio Tetrapolitana´ ein.

Nach Luthers Tod gerieten die deutschen Städte des Westens mehr und mehr unter den Einfluß Calvins. Nürnberg bildete eine Ausnahme. Die Nürnberger sind nie dem Schmalkaldischen Bund beigetreten.“

Vermittler der Reformation waren Prädikanten ([Hilfs-]Prediger) und Theologen, Stadtschreiber und Schulmeister, Ratsherren und Bürgermeister. („Faber nennt seine lutherischen Mitprädikanten: ´Mammonsknechte, grobe Simonisten [Simonie: Kauf/Verkauf von – geistlichen – Ämtern], … Bier-Amseln, Esel, gottlose Schelmen, Sodomiten …´ ´Jetzt darf Mancher wohl eine ganze Nacht sitzen und saufen bis am Morgen; dann tritt er auf die Kanzel und predigt und ist voll – nicht des heiligen Geistes, wohl aber des süßen Weines und plaudert daher, was ihm einfällt. Mancher ist so voll, wenn er taufen soll, daß er das Kindlein nicht halten kann und allerlei Aegerniß anrichtet´ … Die sogenannte lutherische Geistlichkeit ist also durch Luther´s Evangelium um kein Haar besser geworden, sondern böser und ärger in allen Stücken. Wir wollen dabei nicht in Abrede stellen, dass auch die katholische Kirche schlechte Priester habe, ja daß gerade damals das Verderben in der Kirche hinsichtlich der Disciplin groß war, aber das war eben zu jener Zeit, wo eine Reformation in Haupt und Gliedern notwendig war, also zur Zeit des Verderbens; Luther aber und die Prädikanten rühmten sich, diese Reformation durchgesetzt zu haben, in Haupt und Gliedern, sie behaupten die Gräuel des Pabstthums, sein Unwesen, seinen Wuchergeist, seine Aergernisse entfernt zu haben; allein die Sitten wurden schlechter, statt besser, aus der Reformation wurde eine Deformation.“)

An den Namen der Vermittler lässt sich erkennen, dass viele zwischen Luther und Zwingli hin und her wanderten; in diesem Zusammenhang zu nennen ist beispielsweise Martin Bucer, der Reformator Straßburgs. Etliche dieser Pendler, beispielsweise Andreas Osiander („Niemals, Martinus, werde ich dem zustimmen, was Du über die Juden gesagt und geschrieben hast“) sind indes mehr und eher Humanisten als Lutheraner; dies verband sie mit Zwingli, nicht mit Luther.

Martin Luther selbst „… steckte mit seiner Zwei-Reiche-Lehre … den Rahmen für Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und andere religiöse Minderheiten ab. Und so fordert Luther neben der Verfolgung und teilweisen Hinrichtung der Juden die Hinrichtung von Andersgläubigen, von so genannten ´Wucherern´, von Prostituierten, von als Hexen verleumdeten Frauen, von Predigern ohne amtskirchlichen Auftrag, und er droht Bürgern den Tod an, die diese nicht denunzieren. Im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre erklärt Luther auch, dass der Christ dem Staat als Henker dienen kann. Und genau so ist es im Dritten Reich vielfach gewesen. Das evangelische Personal in den KZs bzw. den Vernichtungslagern hat sich z. B. damit gerechtfertigt, sich den Opfern gegenüber nicht bösartig verhalten zu haben. Und das führt schließlich zu der Frage: Ist ein evangelischer Henker vielleicht höflicher und zuvorkommender mit den Opfern als ein Henker, der keiner der beiden Großkirchen angehört? Wie weit darf ein evangelischer Judenverfolger gehen? Ist er im Unterschied zu nichtkirchlichen Antisemiten nur ´frei von Hassgefühlen und Racheinstinkten´, wie es der Theologe und Sektenbeauftragte Walter Künneth 1934 in seinem Gutachten über die ´Ausschaltung der Juden´ formuliert? Und was hat das Opfer davon, wenn es ohne statt mit Hass verfolgt und ermordet wird?“

Insofern war die Reformation nichts anderes als ein gigantischer Kampf der Systeme an der Schwelle zu einer neuen Zeit, als Auseinandersetzung um Macht und Herrschaft, verbrämt als religiöser Richtungsstreit, als alter Wein in neuen Schläuchen. Insofern leben wir, seit Tausenden von Jahren, in einem System von Tarnen und Täuschen. Luther war ein Meister ersteren wie letzteren. Insofern ein treuer Diener seiner Herren. Deren Nachfolger uns immer noch Luthers Lehren als Religion verkaufen. Nicht als Herrschaftsideologie. Was sie tatsächlich waren. Und sind.

Würde meine Frau noch leben, erlaubte ich mir, wie folgt anzumerken und zu ergänzen: 500 Jahre später hat sich an diesem System des Tarnens und Täuschens nichts geändert. Auch wenn die Protagonisten des Gesellschafts-Spiels: „Wie besch… ich das Volk“ heutzutage ein Virologe ohne rechtmäßigen Doktor- und Professorentitel und namens Drosten, ein Viehdoktor namens Wieler und ein Bankkaufmann namens Spahn sind. Die sich anmaßen, fach-“kompetent“ über Gesundheit resp. Krankheit zu entscheiden – es möge das Volk, hoffentlich in Bälde, über ihren Geisteszustand entscheiden und darüber, ob sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis oder in der Klapse verbringen werden.

„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“

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