Читать книгу „So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“ - Richard A. Huthmacher - Страница 26
CUI BONO? VON DER REFORMATION BIS ZU DEN WITTENBERGER UNRUHEN: LUTHER BEFÖRDERT DIE ANLIEGEN SEINER OBEREN
ОглавлениеLiebe M.!
In den zuvor beschriebenen gesellschaftlichen und (macht-)politischen Bezügen lebte Luther. In der Tat. Wobei die sozialen Strömungen und Gegenströmungen, die (fast) europaweit aufflackernden militärischen Konflikte, die „Bauern“-Kriege seit dem 14. Jhd. und der „Deutsche“ (wiewohl keineswegs auf Deutschland beschränkte) Bauernkrieg von 1524 (der regional bis in die Dreißiger-Jahre des 16. Jhd. dauerte), wobei diese gesellschaftlichen Verwerfungen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit realiter Teil einer früh-proletarischen Revolution waren (wie Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg dies zutreffend feststellt).
Solch soziale Auseinandersetzungen, die in der Reformation und im (Deutschen) Bauernkrieg gipfelten, waren der Ausdruck stark divergierender gesellschaftlicher Entwicklungen und wurden auf den unterschiedlichsten (realen wie ideologischen) Schlachtfeldern ausgetragen; insofern scheint es berechtigt, von einer „frühneuzeitlichen Revolution“ zu sprechen, welche die späteren großen Revolutionen der Neuzeit (wie die französische oder russische) antizipierte. (Dass diese „großen Revolutionen“ letztlich gar keine wirklichen Umstürze, sondern – im Interesse des Kapitals und der herrschenden bourgeoisen Schicht inszenierte und – ebenso wohl bedachte wie trefflich gelungene Täuschungen mit einem immensen Blutzoll waren, sei hier nur am Rande erwähnt.)
Die Akteure des benannten Gesellschafts-Spiels (mit ernstem Hintergrund und fatalen Folgen, jedenfalls für die unterlegenen „Player“) waren Adel und Klerus, Landes- und Feudalherren, letztlich auch Papst und Kaiser, waren Kirche und Großkapital (man denke an die Medici und an die Fugger, Welser und Rehlinger: „Marktwirtschaft, Kapitalismus, Globalisierung, alles, was sich heute durchgesetzt hat, entstand in ersten Ansätzen im Europa des Mittelalters. Handelsdynastien wie die Fugger waren europaweit aktiv – auch mit Beste- chungsgeldern für Kaiser und Fürsten“), Akteure dieses Spiels um Herrschaft und Macht, um Pfründe und Lehen, um Reichtum und Armut, um all die Versatzstücke des langsam aufblühenden Kapitalismus´ und seiner Globalisierung, d.h. der Wirtschaftsform, die im Neoliberalismus der Jetzt-Zeit ihren (vorläufigen?) Höhepunkt gefunden hat, Akteure dieses „Gesellschaftsspiels“, das im Laufe der Jahrhunderte, Millionen und Abermillionen von Menschenleben gekostet hat und bei dem die Frontlinien immer wieder verschoben und neu festgelegt, bei dem Bündnisse geschlossen und gebrochen wurden, bei dem das Großkapital (zu Luthers Zeiten beispielsweise die Fugger, im ersten Weltkrieg exempli gratia die Krupps) beide Seiten des Konflikts bedienten, Akteure dieses weltweiten und (anscheinend oder doch nur scheinbar?) immerwährenden „Spektakulums“ waren, seinerzeit, auch die Bauern. Als unterdrückte Schicht. Und Luther. Der – vordergründig, bei nicht näherem Hinsehen – gegen diese Unterdrückung Stellung bezog. Mit seinen 95 Thesen.
Der realiter jedoch die Interessen der Fürsten vertrat. Gegen das päpstliche Finanzgebaren. Gegen den Ablasshandel, welcher die Kassen der Kirche füllte und den Bau des Petersdoms finanzierte.
Der, Luther, mit eben diesen Thesen die gravamina nationis germanicae, die Beschwerden der deutschen Fürsten gegen den Papst und die römische Kurie unterstützte, und zwar gegen das Konkordat (von 1448) zwischen Papst (Nikolaus V.) und Kaiser (Friedrich III.), das gegen den Willen der Reichsstände zustande gekommen war; insofern stellen die Gravamina auch einen Protest gegen den Kaiser und dessen Willkür dar, sind sie ein Statement für eine Verschiebung der Macht zugunsten der Fürsten.
„Und Summa, Sünde hebt Obrigkeit und Gehorsam nicht auf, aber die Strafe hebt sie auf, das ist, wenn das Reich und die Kurfürsten einträchtiglich den Kaiser absetzten, daß er nimmer Kaiser wäre“, so Luther (s. zuvor). Im Sinne einer Emanzipation der Fürsten gegenüber dem Kaiser. Im Sinne der Gravamina.
Und in diese Sinne (gegen papsttreue [Kirchen-]Fürsten und namentlich gegen Papst und Kurie) sind die lutherschen Thesen, namentlich die Thesen 20 bis 95 zu verstehen: Luther vertrat die Interessen seiner weltlichen Herren gegen die seiner kirchlichen Oberen. Und nicht die Belange der einfachen Leute (d.h. der Bauern, Handwerker und Bürger, ggf. auch der kleinen, zunehmend verarmenden Adeligen) gegen die Obrigkeit. Insofern war es, von Anfang an, ein Missverständnis der benachteiligten Schichten, Luther als den Sachwalter ihrer Interessen zu betrachten.
Summa summarum konnte Luther mit seinen 95 Thesen an die (Miss-)Stimmung – auch vieler Mächtiger, nicht nur des „gemeinen“ Volkes – gegen Papst und Kirche anknüpfen; auch ohne die Protektion seines Landesfürsten (Friedrich von Sachsen) wäre Luthers Risiko kalkulierbar gewesen. Die Reformbedürftigkeit der Kirche und ihrer Verfasstheit war seit langem ein offenes Geheimnis; Luthers Wagnis, den vorhandenen Reformstau anzusprechen, war somit nicht allzu groß (und umso geringer, wenn man unterstellt, ihm sei von Seite seines Landesherrn signalisiert worden, man werde seine schützende Hand über ihn halten: Auch Friedrich der Weise hatte kein Interesse daran, dass die Gelder aus dem Ablasshandel nicht im Lande blieben, sondern nach Rom flossen).
Es ist gleichwohl das Verdienst Luthers, dass durch seine theologische Grundsatzkritik das allgemeine Unbehagen an der Kirche und deren Missständen systematisch strukturiert, formuliert und propagiert wurde: Bereits Ende 1520 waren 82 seiner Schriften oder Schriftensammlungen in insgesamt mehr als 600 Auflagen erschienen; bei einer durchschnittlichen Auflagenzahl von 1000 Exemplaren hatte „man“ noch vor seinem Auftritt auf dem Wormser Reichstag (1521) weit mehr als eine halbe Million Luther´scher Schriften unter das Volk gebracht. Jeder, der damals lesen konnte (und Unzählige mehr, denen die Invektiven gegen Papst und Kirche vorgelesen wurden), dürfte die Schriften Luthers somit bereits wenige Jahre nach dem Zeitpunkt (Oktober 1517) gekannt haben, den man heutzutage mit dem Beginn der Reformation gleichsetzt.
Wobei zu fragen bleibt, wer den Propaganda-Feldzug bezahlt hat – sicherlich nicht Luther, der als Mönch nie und nimmer über die finanziellen Mittel verfügte, die horrenden Kosten für ein solches Großprojekt aufzubringen! Heutzutage – quod est annotandum – wäre dies sicherlich eine Angelegenheit von George Soros und eine Aufgabe für seine Open Society Foundations. Ober bist Du anderer Meinung, Liebste?
Jedenfalls kamen Luthers (vordergründig) theologische Überlegungen und Ausführungen nur deshalb zum Tragen, weil sich gesellschaftliche, politische und auch wirtschaftliche Interessen sowohl der herrschenden Schicht als auch des „gemeinen Volkes“ mit der neuen evangelischen Lehre und deren Ablehnung des Papsttums und des weltlichen Herrschaftsanspruchs der Kirche deckten; deshalb nahmen breite Bevölkerungsschichten auch (wiewohl zu Unrecht) an, Luther vertrete ihre Interessen.
Indes: Nein, und nochmals nein. Luther war am gemeinen Volke nicht interessiert. Er vertrat die Interessen der Fürsten gegen die der Kleriker. Denn das Hemd war ihm näher als der Rock. Und der Papst in Rom war ebenso weit weg wie es später die Zaren in Moskau waren. Deshalb legte er sich mit seinen weltlichen Oberen ins Bett. Nicht mit den kirchlichen. Gleichwohl: Hure bleibt Hure.
Die Macht des Kaisers und namentlich die des Papstes war – salopp formuliert – im Sturzflug begriffen; nach Karl V. wurde nie mehr ein Kaiser durch einen Papst gekrönt, nicht zuletzt als Folge der Reformation und ihrer Neuordnung der (seinerzeit aufs engste miteinander verbundenen) kirchlichen und weltlichen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen.
Und Luther, seinerseits, legte nach: In der zweiten Hälfte des Jahres 1520, also nach der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine und noch vor der eigentlichen, weitestgehend wirkungslos gebliebenen, im Übrigen bis zum heutigen Tage nicht aufgehobenen Bannbulle Decet Romanum Pontificem, erscheinen drei seiner berühmtesten Schriften: An den christlichen Adel deutscher Nation, De captivitate Babylonica ecclesiae (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche) und Von der Freiheit eines Christenmenschen.
In ihnen wird die Kirche „als ein dicht gefügtes, nahezu perfektes Herrschaftssystem“ dargestellt, der Papst erscheint als der von der Bibel verheißene Antichrist schlechthin.
Die politisch brisanteste Schrift (der zuvor genannten) war sicherlich An den christlichen Adel deutscher Nation; innerhalb nur weniger Tage waren die 4.000 Exemplare der ersten Auflage vergriffen.
Weil – derart das Narrativ – die korrupte Geistlichkeit zu überfälligen Reformen (namentlich Erziehung und Bildung sowie die sozialen Probleme der Zeit betreffend) nicht imstande sei, müssten sich, so Luther, kirchliche Laien, zuvorderst der Adel und die Fürsten, den anstehenden Aufgaben stellen: Der Papst – und nun lässt Luther die Katze aus dem Sack – solle seiner weltlichen Macht entbunden, ein nationales Kirchenwesen (ohne Mönchtum und ohne Zölibat der Priester) solle errichtet werden; alle Gläubigen seien Priester und gleich dem Papst imstande und berechtigt, die Heilige Schrift auszulegen. Sola scriptura – die Bibel und die Bibel allein repräsentiere die Autorität des Glaubens.
Die 30 Thesen Von der Freyheith eines Christenmenschen (De libertate christiana) verfasste Luther als Reaktion auf die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan – diese dichotomisch-kryptische Formulierung (These 1 des Traktats) spiegelt Luthers Freiheitsbegriff. Und lässt jede Deutung offen. Bewusst, behaupte ich. In doloser Absicht. Behaupte ich. Zur Verführung der Masse. Behaupte ich. Sofern und soweit diese den eigenen Zielen (im Widerstand gegen die alte päpstliche und bei der Etablierung einer neuen Autorität, derjenigen der Fürsten) dienlich ist.
Und wenn Luthers widersprüchliche Formulierung – deren Antagonismus sich dadurch auflöse, dass die Freiheit die religiöse und geistige Unabhängigkeit, die Un-Freiheit eine (freiwillige) Unterordnung unter weltliche Macht und Obrigkeit bedeute und bezeichne –, wenn dieser lutherische Freiheitsbegriff, jedenfalls der Teil, der nicht zur Unterwerfung aufruft, den Bauern als politische Kampfparole diente, wenn sich die Unterdrückten und Geknechteten den vermeintlich (von Obrigkeits-Willkür) emanzipierenden Teil der lutherischen Formulierung in ihrem Aufbegehren zu eigen machten, kann man´s ihnen verdenken? Wohl kaum.
Auf dem Reichstag zu Worms wurde Luther bekanntlich exkommuniziert. Geltendem (Reichs-)Recht zufolge hätte die päpstliche Exkommunikation Luthers auch die kaiserliche Reichsacht bedingt. Indes: Die Kirchenfürsten widersetzten sich: „Die Rom- und Kirchenkritik Luthers war für viele Reichsstände von politischem Interesse und Nutzen, verschiedene Reichsstände waren der Theologie und Kirchenkritik Luthers aufgeschlossen (so das Kurfürstentum Sachsen oder die Reichsstadt Nürnberg) und hatten sie bereits in ihren Territorien gefördert. Eine bedeutende Öffentlichkeit stand nun schon in Deutschland hinter Luther und seiner Kirchenkritik. Die Entscheidung, wie mit dem kirchlichen Urteil über Luther verfahren werde, war überdies eine Frage politischer Macht im Verhältnis von Kaiser und Reichsständen.“
Mit anderen Worten: Die Fürsten probten den Aufstand. Gegen das System. Will meinen: Gegen Papst und Kirche. Und gegen die weltliche zentrale Macht. Des Kaisers. Der jung, schwach und Herrscher eines (völlig überdehnten) Reiches war, in dem bekanntlich (durch die überseeischen Kolonien) die Sonne nie unterging.
Als Luther vor dem Reichstag den Widerruf seiner Lehren verweigerte (wohl mit den Worten: „Und solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun“; „hier stehe ich und kann nicht anders“ dürfte eine Legendenbildung sein), als Luther sich also weigerte, vor dem Kaiser seine Häresie zu widerrufen, stellten sich die Reichsstände (d.h. diejenigen, die Sitz und Stimme im Reichstag hatten, will meinen: namentlich Fürsten, Grafen, Vertreter der Ritterorden, auch Vertreter der Freien und der Reichs-Städte) vor Luther und wagten die Konfrontation mit dem Kaiser.
Im Reiche jedenfalls gärte es. Und der neue Papst Hadrian VI. (dem nicht einmal zwei Jahre Regentschaft vergönnt waren und der, in guter päpstlicher Tradition, wohl vergiftet wurde) kam nicht umhin, eine Reform der Kirche zu propagieren und zu initiieren. Hadrians Tod 1523 hatte das schnelle Ende kirchlicher Reformpolitik zur Folge; weder der neue Papst (Clemens VII.) noch der Kaiser hatten Interesse an weiteren Reformen. Im Übrigen wurde auch Papst Clemens vergiftet, es sei denn, er selbst hätte die Pilze gesammelt, mit denen er vom Dies- ins Jenseits befördert wurde.
Zwei Päpste nacheinander vergiftet; ob hier wohl – nach heutiger Nomenklatur geo-strategisch wie politisch-ideologisch – divergierende Interessen im Spiel waren? In dem Spiel, in dem Luther anfangs nur eine Statisten-Rolle zugedacht war, die sich indes verselbständigte und im Reformator einen ebenso willigen wie brillanten Funktionsträger fand?
Jedenfalls spaltete das Wormser Edikt das Reich in drei Lager: die Verteidiger des Papsttums und der alten Ordnung, die Befürworter einer lutherisch-evangelischen Reformation resp. Revolution sowie ein drittes Lager, das „in seiner Hoffnung auf Erhaltung der Einheit in einer von Mißbräuchen gereinigten Kirche sich gegenüber Luther und seinen Anhängern eklektisch verhielt und weithin im Zeichen eines erasmischen Humanismus stand“.
Gleichwohl konnten selbst die Befürworter der alten kirchlich-klerikalen Ordnung nicht umhin, mehr oder weniger laut nach Reformen zu rufen – zu groß war der Druck der Basis, zu stark und mächtig die soziale Bewegung des „gemeinen Mannes“, welche das gesamte tradierte Gesellschaftssystem hinwegzufegen drohte: Nur durch (wohlkontrollierte) Nachgiebigkeit von Seiten der Herrschenden konnte etwas Druck aus dem gesellschaftspolitischen Kessel entweichen, ließ sich vermeiden, dass die Lunte an das Pulverfass sozialer Unterdrückung, will meinen kirchlicher wie weltlicher Willkür-Herrschaft gelegt wurde.
Auch in diesem Zusammenhang war Luther für seine Oberen von unschätzbarem Nutzen: „Luther kommt am 6. März 1522 nach Wittenberg und bringt mit seinen ´Fastenpredigten´ die reformatorische Bewegung, die er ins Radikale abgleiten sah, wieder zurück auf seine gemäßigte Linie.“ Als alle Beschwichtigung nichts mehr half, als sich Bauern, Handwerker, auch kleine Adlige und dergleichen einfache Leute mehr in einem Akt der Verzweiflung, den man heute den Deutschen Bauernkrieg nennt, erhoben, erst als die Fronten solcherart geklärt waren, hörte Luther auf, Kreide zu fressen, und bellte, heulte, geiferte (wie zuvor beschrieben): „Drum soll hier zerschmeissen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann.“ „Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein.“
Anfangs standen die „Granden“ des Renaissance-Humanismus´ der Reformation und Luthers Ideen nahe; bald jedoch kehrten sie ihr, der Reformation, dem, was aus dieser wurde resp. bereits geworden war, wieder den Rücken; genannt seien in diesem Zusammenhang Willibald Pirckheimer (Nürnberg), Mutianus Rufus (Gotha) und insbesondere Erasmus von Rotterdam.