Читать книгу „So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“ - Richard A. Huthmacher - Страница 29
CUI BONO? VON DEN WITTENBERGER UNRUHEN BIS ZUM BAUERNKRIEG. 2. ZWINGLI, LUTHER UND DIE ANABAPTISTEN. ODER: DER KAMPF UM DIE „FULL SPECTRUM DOMINANCE“
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Luther schlug (angeblich) 95 Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg. Zwingli indes änderte mit einem Wurstessen den Lauf der Geschichte.
Das Zürcher Wurstessen – nach dem Drucker Froschauer, der später die Zürcher Bibel (philologisch exakte, heute bei den Reformierten in der Schweiz gebräuchliche Bibelübersetzung) herausbrachte und bei dem „das Event“ veranstaltet wurde, auch Froschauer Wurstessen genannt –, dieses Zürcher Wurstessen fand am ersten Sonntag der Fastenzeit im Jahre 1522 statt, also exactement an jenem Sonntag Invocavit (auch Invocabit), an dem Luther längst die Seiten gewechselt (wenn er denn je auf Seiten des „gemeinen“ Volkes gestanden) und nur noch im Sinn hatte, (mit seinen Invocavit-Predigten) jedes Aufbegehren gegen die weltliche Obrigkeit möglichst schon im Keim zu ersticken.
Zwingli verstieß mit dem von ihm inszenierten Wurstessen und Fastenbrechen demonstrativ gegen die Obrigkeit; für die Reformation in der Schweiz spielte dieser Akt „zivilen Ungehorsams“ eine ähnlich bedeutende Rolle wie (der Anschlag von) Luthers 95 Thesen im Jahr 1517. Ein Jahr nach dem legendären Wurstessen – und nach der 1. Zürcher Disputation, anlässlich derer Zwingli, dem Ketzerei vorgeworfen wurde, seine Thesen erfolgreich gegen die klerikale Obrigkeit zu verteidigen wusste – wurden die kirchlichen Fastengebote aufgehoben; eine ähnliche (symbolische) Bedeutung für die Reformation in der Schweiz hatte nur noch das Zürcher Nachtmahl, das – nach dem Verständnis sowie im Geiste von Erasmus – 1525 gefeiert wurde und zum Bruch der zwinglischen mit der lutherischen Bewegung führte.
Wiewohl es nach Vieler Meinung nur Spitzfindigkeiten waren, „ob nun Christus beim Abendmahl in der Gemeinde persönlich anwesend ist, wie Luther glaubte, oder das Abendmahl eine rein symbolische Bekenntnishandlung ist, wie Zwingli dachte“.
„Doch an jenen Glaubensfragen scheiterte schließlich Philipps [i.e.: Landgraf Philipps von Hessen] Plan einer Anti-Papst-Allianz von den Schweizer Alpen quer durch Deutschland bis zur Ostsee. Bei einem viertägigen Religionsgespräch im Oktober 1529 in Marburg beharrten sowohl Luther als auch Zwingli auf ihren Positionen, die Reformation war nun gespalten.“
Anders als Luther ging Zwingli (ähnlich Thomas Münzer) seinen Weg – den des Aufbegehrens, des Widerstands und der offenen Revolte – konsequent zu Ende: In der Schlacht bei Kappel (1531) wurde Zwingli festgenommen, getötet und gevierteilt (oder andersherum in der Reihenfolge, manche Chronisten sprechen auch schlicht davon, man habe ihn in Stücke gehauen), anschließend wurde der Leichnam verbrannt; der Tod des einen, sprich: Zwinglis, gibt dem andern, dice: Luther, Recht. „Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ (Matthäus 26,52), erlaubte sich der Wittenberger, sinnigerweise und voll des ihm eigenen Mitgefühls, anzumerken.
Derart schändlich endet das Leben Zwinglis, das so hoffnungsfroh begann; nie hielt er die menschliche Vernunft für eine „Hure“ (wie Luther dies tat: „Ebenso verderbt wie die menschliche Natur sei der Menschen Verstand; deshalb könne die Vernunft ´keine gerechten Urteile … fällen´. Damit gibt es … bei Luther … keine vernünftige Begründung … für … Norm und Gesetz … [Diese] können reinste Willkür, purer Despotismus sein. Sie brauchen keine innere Begründung in der Vernunft des Menschen … So entmündigt Luther … [diesen, den Mensch], indem er sein edelstes Organ, die Vernunft, verketzert und die Philosophie zur ´Hure´ herabwürdigt. Damit desavouiert er am Ende aber auch seine eigene Lehre … Denn eine vernünftige Begründung … [ebenso] seiner Lehre … [wie] seiner Verdikte gegen andere [Lehren] kann es … nicht … geben, da … die Vernunft … keine Rolle spielen darf. Ist sie doch … bei allem … Erkennen heillos fehl am Platz“).
[Anmerkung des Herausgebers: Geschieht solches nicht gleichermaßen anno Domini 2020, wenn ein Erkältungs-Virus zur Pestilenz erklärt wird und ein Test, der einschlägigen Viren aufspüren soll, gleichermaßen Papayas, Kamele, Ziegenböcke, Tee oder Wasser, kurzum: alles, was (oder auch nicht) kreucht und fleucht, schlichtweg alle RNA-Nukleinsäure-Partikel nachweist, die nicht bis drei auf einen Baum flüchten können? Hat menschliche Vernunft, mithin, ein halbes Jahrtausend gebraucht, um hinter lutherische Irrationalität zurückzufallen?]
Im Gegensatz zu Luther bewunderte Zwingli die Humanisten Erasmus von Rotterdam und Pico della Mirandola („Viele nennen ihn nur Pico. Er hat vor mehr als 500 Jahren das humanistische Denken geprägt. Im Vorfeld der Reformation sah Pico della Mirandola im Menschen ´ein großes Wunder´, während Theologen wie Luther von der Erbsünde sprachen …“).
Und Zwingli glaubte an die Kraft des freien Willens. Im Gegensatz zu Luther, der ausführt: „Der freie Wille ist nichts als ein Pferd, das vom Satan geritten wird ...“ Und mit gespaltener Zunge formulierte: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Wohingegen selbst die Scholastiker resp. Thomas von Aquin behauptete(n): „Totius libertatis radix est in ratione constituta“: Grundlage aller Freiheit ist die Vernunft.
Weshalb Luther wütete: Die Scholastiker sähen nicht die Sünde und übersähen, dass die Vernunft „plena ignorationis Dei et aversionis a voluntate Dei“, also voller Unkenntnis Gottes und voll der Abneigung gegen den Willen Gottes sei. Das scholastische Axiom, man könne ohne Aristoteles nicht Theologe werden, konterte er mit den Worten: „Error est, dicere: sine Aristotele non fit theologus; immo theologus non fit, nisi id fiat sine Aristotele“: Es ist ein Irrtum, zu behaupten, ohne Aristoteles werde keiner Theologe; in der Tat, Theologe wird man nicht, es sei denn ohne Aristoteles.
Philosophie, so Luther, usurpiere die Theologie und führe zu einem „chaos errorum“ und zur „cogitatio metaphysica“, also zu einem Durcheinander von Irrtümern und zu (inhaltsleeren) metaphysischen Überlegungen; Philosophie habe sich ergo nur dem Sichtbaren, Theologie habe sich dem Unsichtbaren zu widmen. Auch wenn die Philosophen „laudem et gloriam liberi arbitrii“ (das Lob und den Ruhm des freien Willens) preisen, sei es mehr als befremdlich zu glauben, Gott sei in seinen Entscheidungen unfrei gegenüber dem menschlichen Willen.
Gott habe zwei Seiten: eine rationale, geoffenbarte, freundliche und eine nicht offen zu Tage liegende, die gleichwohl sein inneres Wesen ausmache. So Luther. Und gleichermaßen habe Gott zwei Willen: einen gepredigten, somit offenbarten, einen zugewandten und gnädigen; und die „voluntas occulta et metuenda“, „imperscrutabilis et ignoscibilis“ et „non requirenda, sed cum reverentia adoranda“, also einen verborgenen Willen, der zu fürchten, der unerforschlich und nicht erkennbar ist. Dem man nicht nachgrübeln, den man vielmehr ehrfürchtig anbeten solle.
Dieser zweite sei der eigentliche Wille Gottes („voluntas maiestatis“), der frei, uneingeschränkt, ggf. willkürlich „homines deserat, induret, damnet“ (Menschen verlässt, sie verhärtet und verdammt), der „vel amat vel non amat“ (liebt oder nicht liebt), der den Tod des Sünders will („vult mortem peccatoris“), der – ohne Rücksicht auf das Tun oder Lassen des Menschen – dessen Tod und Verderben bewirkt („malum et mortem operatur“).
Mithin lässt sich (mit den Worten Stefan Zweigs – Du weißt, Lieber, ich habe einiges über Zweig geschrieben), mithin lässt sich die Vorstellung eines freien Willens, mehr noch: das Gottesbild der Humanisten, das eines Erasmus´ und das eines Zwingli, gegen die einschlägigen Vorstellungen Luthers wie folgt abgrenzen:
„Das Problem, das Erasmus zum Zentrum der Auseinandersetzung macht, ist ein ewiges jedweder Theologie: die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens. Für Luthers augustinisch strenge Prädestinationslehre bleibt der Mensch ewig der Gefangene Gottes. Kein Jota freien Willens ist ihm zuteil, jede Tat, die er tut, ist Gott längst vorbewußt und von ihm vorgezeichnet; durch keine guten Werke, durch keine bona opera, durch keine Reue kann also sein Wille sich erheben und befreien aus dieser Verstrickung vorgelebter Schuld, einzig der Gnade Gottes ist es anheimgestellt, einen Menschen auf den rechten Weg zu führen. Eine moderne Auffassung würde übersetzen: wir seien in unserem Schicksal gänzlich von der Erbmasse, von der Konstellation beherrscht, nichts also vermöge der eigene Wille, sofern Gott nicht in uns will …
Einer solchen Anschauung Luthers kann Erasmus, der Humanist, der in der irdischen Vernunft eine heilige und von Gott gegebene Macht erblickt, nicht beipflichten. Er, der unerschütterlich glaubt, daß nicht nur der einzelne Mensch, sondern die ganze Menschheit durch einen redlichen und geschulten Willen sich zu immer höherer Sittlichkeit zu entfalten vermöge, muß einem solchen starren und fast mohammedanischen Fatalismus im tiefsten widerstreben …“
In seiner Schrift De libero arbitrio (Vom freien Willen, 1524, u.a. auf Drängen des Papstes entstanden) verwarf Erasmus Luthers Rechtfertigungslehre („sola gratia“: „aus Gnade allein“) und vertrat, wiewohl hie und da kritische reflektiert, die alten Positionen der Kirche: Indem der Mensch sich für das Gute und gut zu handeln entscheide, so Erasmus, entscheide er auch über Gottes Gnade.
„Es war nicht Zwingli allein, der die Zürcher Reformation geprägt hat:
Huldrych Zwingli, Leo Jud, Theodor Bibliander [„Sein freier Geist kostete ihn am Ende den Job: In Zürich war man reformiert, doch von der Prädestinationslehre Johannes Calvins hielt Theodor Bibliander nichts. Nach einer Auseinandersetzung … über die Frage, ob vorherbestimmt sei, wer von Gott erwählt sei und wer nicht, zog sich der Alttestamentler und Lehrstuhlnachfolger Ulrich Zwinglis aus der Universität zurück“] und andere Zürcher ... waren glühende Verehrer des Humanistenfürsten. Sie wurden als Schüler Erasmus´ nach Zürich berufen, ausdrücklich mit dem Auftrag, dessen Reform in Zürich zu verwirklichen. Und das bedeutete: mehr Unabhängigkeit – vom Papst in Rom, vom Bischof in Konstanz und von der Grossmacht Frankreich. Weiter wollte man das verhasste Söldnerwesen abschaffen. Die jungen Männer sollten nicht mehr für fremde Mächte in den Krieg ziehen, sondern ausgebildet werden, damit sie sich für die Gemeinschaft nützlich machen konnten. Man versprach sich von den erasmischen Reformen mehr Eigenständigkeit, mehr Bildung, mehr Fortschritt, mehr Wohlstand.“
In Deutschland stellten sich die Reichsfürsten an die Spitze der reformatorischen Bewegung, wurden dadurch zu mächtigen Gegenspielern nicht nur des Papstes, sondern auch des Kaisers. (Die Macht des Kaisers und namentlich die des Papstes war – salopp formuliert – im Sturzflug begriffen; nach Karl V. wurde nie mehr ein Kaiser durch einen Papst gekrönt, nicht zuletzt als Folge der Reformation und ihrer Neuordnung der – seinerzeit aufs engste miteinander verbundenen – kirchlichen und weltlichen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen. Zudem wurde die Macht des Kaisers durch die Türken vor Wien und durch Franz I., König von Frankreich und Erzfeind Karls V., bedroht: „Da Franz I. 300.000 Gulden Bestechungssumme anbot, musste Karl V. mit Hilfe der Fugger eine weit höhere Summe aufbieten, um die Wahl des französischen Königs auf den deutschen Königsthron zu verhindern. Die sieben Kurfürsten entschieden sich bei der Königswahl in Frankfurt am Main am 28. Juni 1519 für den Habsburger Karl V.“)
Letztendlich kämpfte jeder (der „Großkopferten“) gegen jeden. Die Religion war im Grunde egal. Insofern und insoweit sie nicht zur ideologischen Begründung, zur Rechtfertigung der je eigenen Machtinteressen diente und als Puzzle zur „full spectrum dominance“ von Bedeutung war. Full spectrum dominance zu Land, zu See und im Himmel. Sprich: in den Köpfen, in den Herzen und in den Seelen der Menschen. Welche, letztere, die Herrschenden damals genauso für ihre Machtinteressen missbrauchten wie sie die Masse auch heutzutage für ihre geostrategischen „Spiele“ benutzen. Unter dem Deckmantel des „war on terror“. Gegen „das Böse“ in der Welt. Das – selbst-verständlich – immer von der machtpolitisch zu bekämpfenden Ideologie, will meinen: vom (weltlichen wie religiösen) Glauben der je Anderen repräsentiert wird.
„Landauf, landab gründeten Theologen, die Protz, Prunk und Bigotterie des Kirchenestablishments gründlich satt hatten, revolutionäre Zellen. Und in Süd- und Mitteldeutschland erhoben sich die Bauern.
Doch als die Fürsten die Bauernaufstände niederschlugen und radikale Theologen folterten und hinrichteten, hatte die lutherische Reformation ihre zarten revolutionären Wurzeln bereits gekappt. Nicht im Bündnis mit den Beherrschten breitete sich die Reformation aus, sondern in einer Allianz mit den Herrschern. Die Kritik an Papst und römischer Kurie wurde ein wichtiges Instrument realpolitischer Machtspiele deutscher Fürsten …
Adlige wie der Kurfürst von Sachsen und der Landgraf von Hessen verstanden es trefflich, die Religion für ihre politischen Ambitionen nutzbar zu machen. Und mitunter hatte die Hinwendung deutscher Fürsten zur lutherischen Reformation schlicht finanzielle Gründe. Die Teilnahme an Kriegen, die der Kaiser führte, riss Löcher in die Kassen der Fürstentümer, auch ein standesgemäßes Leben bei Hofe kostete den einen oder anderen Taler. Erst als Lutheraner konnten die Fürsten ungeniert Bistümer und Klöster enteignen und das Kircheneigentum an sich bringen.“
Im Gegensatz zu Luther gestand Zwingli dem (Christen-)Menschen ein Widerstandsrecht gegen tyrannische Obere und Obrigkeit zu und versuchte, den christlichen Glauben mit weltlichem Handeln zu vereinen, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen: „Von Anfang an kam Zwingli von der politischen Frage her zur Glaubenserkenntnis, um dann vom Glauben aus wieder Politik zu treiben.“
M.E., Liebster, waren es nicht die unterschiedlichen Denkschulen Luthers (via moderna, neuere scholastische Richtung) bzw. Zwinglis (via antiqua sowie Humanismus), welche, wie immer wieder behauptet, die beiden Reformatoren trennten; vielmehr waren beide als Person derart unterschiedlich, dass sie nie und nimmer zusammenkommen konnten: „In sehr vielen Punkten zögerte der Wittenberger, die bestehenden Traditionen sofort zu ändern, behielt sie vielmehr bei und versuchte dies auch zu rechtfertigen [euphemistische Umschreibung für den Umstand, dass Luther die Interessen seiner Oberen bediente, insofern auch nicht das geringste Interesse hatte, dass die himmelschreiend ungerechten gesellschaftlich-sozialen Verhältnissen, dass die strukturellen Gewalt gegen die Masse des Volkes abgemildert oder gar aufgehoben wurden], während Zwingli meistens darauf drängte, sobald als möglich die bestehenden, der christlichen Lehre widersprechenden Verhältnisse zu ändern und zu einer biblischen Lehre und Praxis zurückzukehren.“
Indes: Auch Zwingli war alles andere als ein Heiliger: Er veranlasste, die (Wieder-) Täufer, auch Anabaptisten genannt (deren bekannteste heute die Mennoniten, die Amische und die Hutterer sind), aus Zürich zu vertreiben; manche der Täufer wurden gefoltert und im Limmat ertränkt. Erster Märtyrer der Wiedertäufer war Felix Manz, vormals Vertrauter Zwinglis, später mit diesem (dem er u.a. die Verschleppung des Reformationsprozesses vorwarf) im Dissens; zum endgültigen Bruch zwischen beiden kam es im Streit um Gläubigen- (Manz) vs. obligatorische Kindertaufe (Zwingli). Manz erhielt Predigtverbot, landete im Gefängnis, predigte und taufte nach seiner Entlassung weiter; Anfang 1527 wurde er zum Tod durch Ertränken verurteilt.
Das Täufertum war sicherlich der radikalste Teil der Reformation; es berief sich auf die Nachfolge Christi und die Kirche als Bruderschaft; Gewaltlosigkeit war ihr Credo, und ihr Wachstum war immens, insofern eine „Bedrohung“ für alle anderen reformatorischen Bewegungen. Die Wiedertäufer forderten weiterhin die Trennung von Kirche und Staat, mithin ein absolutes No-go für die herrschende Klasse, sowie die Gütergemeinschaft, waren insofern auch eine Art urkommunistischer Gemeinde. Die Verfolgung ihrer Gedanken dauerte über Jahrhunderte an, viele Täufer flohen nach Übersee, aber, beispielsweise, auch nach Russland: „Schon im 16. Jahrhundert wurden die sogenannten Anabaptisten verfolgt und hingerichtet – befeuert von theologischen Argumenten der Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon.“
Die anabaptistischen Urgemeinden grenzten sich durch ihre Besitz-, Eigentums-, Macht- und Herrschaftsvorstellungen von der/den ungleich größeren, stärkeren und mächtigeren Amtskirche(n) ab; sie repräsentierten sozusagen den kritischen Maßstab für das Verhältnis der Großkirche(n) zu Armut und Reichtum, zu Demut und Macht, zu brüderlicher Gemeinschaft vs. autoritärer Unterdrückung und postulierten ihrerseits ein gleichberechtigtes Zusammenleben in gegenseitiger Solidarität und ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – als Zeugnis für das (kommende) Reich Gottes.
Zu diesen (im Kern eher revolutionären als reformatorischen) Strömungen, die auf Gemeineigentum beharrten, gehörten die Taboriten in Nachfolge von Johannes Hus. Zu den Vertretern der urchristliche Gütergemeinschaften gehörte auch Hans Böhm, der Pauker von Niklashausen: „Die Mutter Gottes von Niklashausen habe ihm verkündet, predigte er, daß fortan kein Kaiser noch Fürst, noch Papst, noch andere geistliche oder weltliche Obrigkeit mehr sein sollte; ein jeder solle des andern Bruder sein, sein Brot mit seiner Hände Arbeit gewinnen und keiner mehr haben als der andere. Alle Zinsen, Gülten, Fronden, Zoll, Steuer und andre Abgaben und Leistungen sollten für ewig ab, und Wald, Wasser und Weide überall frei sein …“
„Im Sommer 1519 empfahl Luther Thomas Müntzer als Prediger für Zwickau. Dessen Auftreten und Wirken … polarisierte zwar, gab aber der Reformbewegung einen Schub. Bereits 1521 gestaltete der Pfarrer der Marienkirche, Nikolaus Hausmann, den Gottesdienst nach Lutherischen Vorstellungen. Allerdings griffen immer mehr radikale Ideen in Zwickau um sich und fanden ihre Anhänger. Einer der Wortführer war der Tuchweber Nikolaus Storch. Er hatte ´Visionen´ und nannte sie ´Inneres Wort´ … Auch der Tuchmacher Thomas Drechsel kannte diese Eingebungen. Der dritte im Bunde der ´Propheten´ war der ehemalige Wittenberger Student Markus Stübner. Er galt als der Gelehrte neben den Tuchmachern. Diese [Zwickauer] ´Propheten´ verbreiteten, die Sakramente seien sinnlos, vor allem die Kindertaufe sofort nach der Geburt und das Priestertum überhaupt entsprächen nicht dem Willen Gottes und seien unbegründet. Vielmehr gelte es, dem urchristlichen Ideal wieder zu folgen. Jeder Mensch trage ein ´inneres Licht´ im Herzen. Die Zeit der Gottlosigkeit und Verirrung gehe jedoch zu Ende, und das Reich des Friedens, von dem die Propheten aller Zeiten gesprochen hatten, stehe bevor …
Luther … setzte sein ganzes Gewicht ein, um die Zwickauer Bewegung zur Raison zu bringen [in wessen Sinne und zu wessen Nutzen erlaube ich mir fragend anzumerken]. Immer wieder predigte er, allerdings vom Balkon des Rathauses aus [ist sicherer, erlaube ich mir, Liebster, anzumerken, als sich unter des Pöbels Masse zu begeben], und ging die Urchristen und ihre Propheten an. Nicht ohne Erfolg. Die Bewegung geriet in einen Richtungsstreit und fiel auseinander. [Zweifelsohne war Luther ein großer Spalter vor Gott dem Herrn: Divide et impera ist bekanntlich ein überaus probates Mittel zur Erhaltung der Macht.] Was aus Storch geworden ist, ist nicht bekannt. Etliche aus seinen Kreisen haben sich vermutlich den Bauernprotesten angeschlossen, die mit der Schlacht bei Frankenhausen 1525 dramatisch und tragisch endeten.“
Im Nachhinein könnte man die Verfolgung der „Zwickauer Propheten“ als den Auftakt der Hatz auf alle Anders-(als-Luther-)Denkende, auf diejenigen, die mit der neuen Lehre nicht konform gingen, bezeichnen; nach den Ereignissen des Jahres 1522 (also gerade einmal 5 Jahre nach „Proklamation“ der so genannten Reformation) lässt sich jedenfalls festhalten: „Sein [Luthers] Ansehen und seine Macht sind nicht mehr anzutasten.“
Zu denen, die unter Berufung auf die Bibel eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse und die Gütergemeinschaft aller forderten, gehörte auch der Kreis um Felix Manz, Konrad Grebel und Wilhelm Reublin, letzterer ebenfalls führende Gestalt der Schweizer Täuferbewegung und der erste eidgenössische Priester, der öffentlich den Zölibat brach.
In Tirol versuchte Michael Gaismair, jedoch ohne Erfolg, eine neue Eigentumsordnung zu etablieren.
Mehr Erfolg war Jakob Hutter beschieden: Seine Bruderhöfe, 1533 in Tirol als agrarische Wohnsiedlungen mit eigenen Schulen gegründet, dann aufgrund ihrer Verfolgung nach Mähren, später nach Ungarn, schließlich (im 19. Jhd.) auch in die USA verlagert, resp. die daraus entstandene Bewegung der Hutterer (die nach Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde seit ihren Anfängen in Gütergemeinschaft leben und heute weltweit knapp 50.000 Angehörige zählen) existiert bis heute.
Mit Ausnahme der Täufer (zu denen die Hutterer und die Mennoniten zählen) hat neben der lutherischen und neben der calvinistischen Bekenntnisform keine einzige der religiös-ideologisch gesellschaftlich-politischen Bewegungen, welche die Reformation hervorbrachte, überlebt – zu schwer lastete das Gewicht von Luther (und Calvin) resp. das ihrer, letzterer, Hintermänner und Drahtzieher auf jedem Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung, zu tödlich – im wahrsten Sinne des Wortes – war das Verdikt „staatsfeindlicher Umtriebe“: Calvin trägt – jedenfalls politisch, mit größter Wahrscheinlichkeit aber sehr konkret und praktisch – die Verantwortung für die Hinrichtung von 38 „Hexen“, die als Andersgläubige zwischen 1542 und 1546 in Genf exekutiert wurden. Wobei Calvin auch persönliche Animositäten auf diesem Wege zu lösen wusste.
Die Gütergemeinschaft, so Luther, sei keineswegs als verbindlich aus der Bibel abzuleiten, vielmehr höchst freiwillig: „Direkt hat das Evangelium mit der Sozialordnung nichts zu tun. Es ´nimmt sich weltlicher Sachen gar nichts an´, sondern ist der Schlüssel zum Himmelreich und der Weg zur Seligkeit … Und scharf argumentiert Luther von daher gegen die Berufung der Bauern auf das Evangelium. Wenn die Bauern unter Hinweis auf die christliche Freiheit die Leibeigenschaft aufgehoben haben wollen, so heißt das für Luther[,] die christliche Freiheit ´ganz fleischlich´ machen … Die christliche Freiheit … ist unabhängig davon, ob ich frei oder leibeigen … bin.“
So also sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben wie sie sind resp. so, wie die Oberen sie – nach ihrem Gutdünken und zu ihrem höchst eigenen Wohle – gestalten; der einfache Mann finde Trost und Zuflucht im Glauben. Und sei gegenüber der Obrigkeit willfährig, auch dermaleinst im Himmel. Welch menschenverachtende Herrschafts-Ideologie, als Religion getarnt: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“, so bekanntlich Marx.
Ergo: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Und wenn man den Lauf der Geschichte in den letzten 500 Jahren verstehen will, muss man sich mit jenen Ereignissen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinandersetzen, die man heute „die Reformation“ nennt.
Wie alle geschichtlichen Vorkommnisse kam diese nicht von ungefähr, spiegelt vielmehr die gesellschaftlich-politischen wie ideengeschichtliche Verwerfungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wieder und zeigt zum andern, wie einzelne Personen, trotz aller Vorbestimmtheit durch konkrete (Macht- und Herrschafts-)Strukturen, dem historischen Verlauf ihren prägenden Stempel aufzudrücken vermögen.
Auch hier gab es nicht die Guten und die Bösen, die Protagonisten der Reformation lassen sich nicht (nur) als schwarz oder weiß rubrizieren; zudem tat – über die Jahrhunderte hinweg – die (ideengeschichtlich und gesellschaftlich-politisch eben so gewollte wie gleichermaßen bewusst gestaltete) Rezeption der jeweiligen Vorkämpfer und Leitfiguren ein Übriges, um deren Wahrnehmung zu verwischen, zu verzerren oder ins Gegenteil zu verkehren.
Ganz gewiss jedoch lässt sich behaupten, dass Luther (s. zuvor und hernach) alles andere als ein Freund der Menschen, allenfalls ein Getreuer der Herrschenden, jedenfalls ein selbst abgrundtief Verzweifelter war, der diese seine Verzweiflung durch seinen (institutionalisierten) Glauben an andere weitergab und letztlich ein zutiefst pessimistisches Bild des Menschen, dem er nicht einmal einen freien Willen zugestand, vermittelte.
Die in höchstem Maße fatalistische Sicht Luthers, die den Menschen nicht nur zum Spielball Gottes (sola gratia!), sondern auch zum willenlosen Objekt seiner Oberen degradiert, war (und ist) weltweit der Steigbügelhalter repressiver Herrschafts-Ideologien und in der Praxis bestens zur Fundierung kapitalistischer (heutzutage neoliberaler) Herrschaftsstrukturen geeignet.