Читать книгу Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte - Richard Loewe - Страница 10
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ОглавлениеAuch wenn der Ausnahmezustand vieles änderte, lief das Leben in den folgenden Tagen in erstaunlich ruhigen, geradezu banalen Bahnen. Die örtliche Börse spielte erwartungsgemäß verrückt und wurde drei Minuten nach ihrer Öffnung für unbestimmte Zeit geschlossen. Einige Radiosender nahmen den Betrieb auf, andere verschwanden aus dem Äther. Zeitungen erschienen es erst einmal keine, weil es angeblich an Nachschub von Papier zum Drucken mangelte. Insgesamt gab es erstaunlich wenig Informationen dazu, was eigentlich genau geschehen war. Fast alles beruhte auf Hörensagen und Spekulation, und Max und seine Freunde fiel es schwer, die Geschichten, die sie bei Knolle und auf der Straße hörten, ernst zu nehmen.
Die Polizei war allgegenwärtig, auch Soldaten der Bundeswehr lümmelten an der einen oder anderen Straßenecke zur Verstärkung herum, aber wenn man sie ausfragte, wussten sie nicht mehr als alle anderen. Wen man fragte, jeder hatte seine eigene Theorie dazu, wie die Außerirdischen mit dem ominösen Namen ›Okosch Illut‹ aussahen, warum sie die Erde angegriffen hatten, was sie planten, und von wo sie herkamen. Einmal waren sie fleischfressende Monster, dann wieder Roboterwesen wie die Borg aus ›Star Trek‹. Alle möglichen Gerüchte machten die Runde und niemand wusste etwas Bestimmtes. Tobi versuchte ein zweites Mal, den alten Laptop mit dem Internet zu verbinden, aber diesmal vergeblich. Jemand bei ›Alice‹ hatte den ADSL-Anschluss deaktiviert und die Leitung war tot.
Spärliche Neuigkeiten tröpfelten über das Fernsehen herein. Fast täglich tauchte auf dem Bildschirm Struckes Gesicht auf, der stets allen Mut zusprach und erklärte, dass sie jetzt in die Zukunft blicken mussten. Auch Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses erschienen ab und dann. Sie waren ausnahmslos unbekannte Hinterbänkler, die vielleicht irgendwann einmal über Listen in den Bundestag oder Bundesrat geraten waren. Keiner konnte mit ihren Namen etwas anfangen, und es gingen Gerüchte um, einige von ihnen seien nie gewählt worden. Bis auf die zahlreichen Versicherungen des neuen Kanzlers, dass der Frieden eingekehrt sei und sie alles täten, mit anderen Ländern in Kontakt zu treten, gab es tagelang kaum Konkretes, und nach ein paar weiteren nichtssagenden Ansprachen nahm das Interesse der Bevölkerung an der Übergangsregierung deutlich ab. Niemand wusste, was mit Amerika oder Asien geschehen war, ja nicht einmal aus Frankreich und Großbritannien gab es zuverlässige Berichte. Tobi beunruhigte besonders, dass aus Süddeutschland keine Nachrichten zu bekommen waren. Die offiziellen Durchsagen im Fernsehen erwähnten diese Bundesländer mit keinem Wort. Es war, als seien sie vom Erdboden verschluckt worden, als habe es sie nie gegeben.
Ein Bundeswehrsoldat aus Sachsen, der bei Knolle zu einem extravagant saftigen Preis eine der letzten Schachteln Marlboro erstand, behauptete, seine Kollegen haben die Grenze zu Bayern hermetisch abgeriegelt. Alles südlich von Fulda sei Sperrzone, und Kameraden, die zur Sicherung eingesetzt werden, berichteten von grauenvollen Zuständen. Es gäbe dort weder Wasser noch Strom, Seuchen seien ausgebrochen, und jeder musste ABC-Schutzkleidung tragen. Knolle und einige Stammkunden hätten gerne mehr erfahren, aber der Junge war bloß zur Durchreise da. Sein Transporter wartete vor der Tür mit laufenden Motoren und er machte sich eilig wieder auf den Weg. Die Freunde des Ladenbesitzers zweifelten den Bericht an, der Bursche habe doch nur aufschneiden wollen, um zu zeigen, wie wichtig seine Arbeit sei. Max, der die Unterhaltung nur nebenbei mitbekam, kam das Ganze erschreckend plausibel vor. Als er später Tobi davon erzählte, nickte dieser langsam und flüsterte in düsterem Tonfall: »Sie haben den Süden genuket. Meine Eltern und mein Bruder sind tot.«
»Das weißt du doch nicht«, versuchte ihn Max zu beruhigen, obwohl die Schlüssigkeit dieser Interpretation nicht von der Hand zu weisen war. Er gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Die haben halt mehr Technik da, also haben sie auch mehr technische Probleme. Sicher hören wir alle bald von ihnen.«
So richtig glaubte er daran selbst nicht. Die Fakten sprachen dagegen. Aus Sicht der Behörden würde es Sinn machen, die Wahrheit zu verschweigen, wenn im Süden etwas Schreckliches passiert war. Schließlich durfte man ja keine Panik haben. Dank Tobis überlegter Aktion, bevor das Internet komplett abgeschaltet worden war, und dank seiner Fachkenntnisse wussten sie außerdem mehr als die meisten anderen. Die Außerirdischen verwendeten kinetische Geschosse, die aus dem Orbit abgefeuert wurden. Wie kleine Meteore konnten diese ganze Landstriche verwüsten. Da schien der Einsatz von Atomwaffen keinen Sinn zu machen. Ihre Herstellung war im Vergleich zu Orbitalwaffen, die sich die Erdschwerkraft zunutze machten, aufwendig und kompliziert. All das ließ eigentlich nur einen, ziemlich beunruhigenden Schluss zu: Ihre eigenen Leute hatten die Atombomben eingesetzt.
Hatte es nicht im Kalten Krieg aufseiten der NATO Pläne gegeben, Süddeutschland als Pufferzone zu verwenden, um einen Vormarsch der Roten Armee auf Frankreich zu stoppen? Allzu naheliegend erschien es den beiden Freunden, dass irgendein General in Ermangelung besserer Ideen auf dieses alte Konzept zurückgegriffen und ein Dutzend atomar bestückter Marschflugkörper losgeschickt hatte.
Als Max seiner Freundin von dieser Theorie und auch von Tobis kurzem Besuch auf dem Forum im Internet berichtete, hielt sie ihn erstaunlicherweise nicht für verrückt, im Gegenteil, sie pflichtete ihm bei – vor allem wohl, weil Tobi der gleichen Meinung war, auf dessen Urteilsvermögen sie viel gab. Und sie kannte sich in der Geschichte des Kalten Krieges bestens aus. Sie erklärte ihm, dass die Russen von den Plänen stets gewusst und eine perfide Gegenstrategie entwickelt hatten. Im Ernstfall sollten tschechische Panzertruppen koste es, was es wolle, durch die atomar verseuchten Gebiete fahren und den Vormarsch nach Paris sichern. Dabei hatten sie in Kauf genommen, dass ihre Verbündeten kurze Zeit später an radioaktiver Verstrahlung zugrunde gehen würden. Die NATO hätte als Gegenmaßnahme vermutlich sogar noch einmal Atomwaffen eingesetzt, denn sonst hatten sie damals nicht viel. Was für ein Wahnsinn! Da würde es sie nicht im Geringsten wundern, erklärte Nina, falls jemand während der Invasion den roten Knopf gedrückt hatte.
Die Theorie bestätigte sich, als Tobi in den folgenden Tagen deutlich zunehmende Strahlenwerte maß. Er wohnte längst wieder in seiner eigenen Wohnung, wo er ein paar Bücher mit den passenden Referenzwerten besaß. Dadurch konnte er seinen Freunden jetzt bestätigen, dass die Strahlenbelastung über das Niveau gestiegen war, das bei der Tschernobylkatastrophe geherrscht hatte. Die Grenzwerte lagen eindeutig höher, als gesund war, und er riet davon ab, frische Lebensmittel zu essen. Das fiel ihnen nicht besonders schwer, denn weder bei Knolle noch im nächsten Supermarkt gab es Obst und Gemüse. Leider war auch das Leitungswasser verstrahlt und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als es zu trinken. Nina flippte fast aus, sie schrie und weinte, obwohl ihr Tobi hoch und heilig versprach, dass die erhöhten Werte sie nicht gleich umbringen würden. Klar stiege das Krebsrisiko, aber akut strahlenkrank könnten sie nicht werden. Verständlicherweise beruhigten sie diese Versicherungen ganz und gar nicht. Sie bestand darauf, abgepacktes Wasser zu bekommen, dabei wusste sie selbst, dass kaum mehr welches aufzutreiben war. Ihre Furcht zollte auch bei Max Tribut, er verfiel in eine düstere Stimmung, die sich in seinem Musikgeschmack widerspiegelte – wobei Tobi ihn lobte, dass er endlich mal was Gutes auflegte.[Fußnote 13]
Nachts herrschte Ausgangssperre und der Strom wurde abgeschaltet. Max und Nina kuschelten sich dann in ihr gemütliches Bett, das aus zwei großen, einfachen Matratzen bestand, und wunderten sich darüber, wie unglaublich dunkel die Straßen waren, wenn die Laternen nicht leuchteten. Blaulichter und Suchscheinwerfer von Polizeiautos und Militärfahrzeugen streiften über die Hauswände und huschten die Schlafzimmerwand entlang. Gelegentlich bellten Hunde, die sie anscheinend einsetzten, um nach möglichen Plünderern zu suchen. Wer in dieser gespenstischen Stimmung einen Schritt vor die Tür wagte, war sowieso nicht ganz dicht, fand Max. Außerdem wurde jeder festgenommen, der die Ausgangssperre missachtete, und überhaupt schien das Selbstbewusstsein der Polizei von Tag zu Tag zu steigen. Selbst tagsüber kommandierten sie die Menschen herum, schrieben einem vor, welche Straßen man als einfacher Fußgänger entlanglaufen durfte und welche nicht, und erkundigten sich andauernd, wohin man wollte, als ginge sie das etwas an. Der Ausnahmezustand wurde den Freunden immer unheimlicher, zumal im Fernsehen nur drei verschiedene Arten von Sendungen gezeigt wurden: Kanzler Strucke hielt fast täglich eine Ansprache, in der er zu Ruhe und Besonnenheit aufrief und stets betonte, wie prima alles lief. Wenn das nicht schon merkwürdig genug gewesen wäre, folgten seinen Reden jedes Mal lange amtliche Durchsagen, die sich an Bundeswehr, Polizei und andere Behörden richteten und immer kryptischer und reicher an Einzelheiten wurden. Es gab Mitteilungen wie: »Herr Gerd Kasulke vom Stadtbauamt Jena soll sich bitte bei Dienststelle 14 melden, Herr Kasulke vom Stadtbauamt Jena bitte bei Dienststelle 14.« Andere Nachrichten ähnelten Kaufhausdurchsagen sogar noch mehr, als würde der Ladendetektiv gerufen: »Der Einsatzleiter AG7 bitte 2315, der Einsatzleiter AG7 bitte 2315.«
Nicht nur Max sträubten sich bei diesen Durchsagen die Nackenhaare, und doch hörten die Freunde zumindest nebenbei alle von ihnen mit. Mit seinem analytischen Gespür besaß Tobi ein Talent, aus solchen verschlüsselten Botschaften hilfreiche Informationen zu ziehen, und außerdem wusste ja keiner im Voraus, ob nicht irgendwann eine verständliche Nachricht folgen würde. Und damit waren sie nicht alleine. Ganz Berlin saß nachmittags vor dem Fernseher und erfreute sich am heiteren Rätselraten. Nur die Empfänger der Mitteilungen hielten sich bedeckt. »Das sind halt dienstliche Anweisungen, weil unsere Funkgeräte immer noch nicht funktionieren«, erklärte ein Polizist Max vor der Haustür. Als er weiter nachbohrte, wurde der Beamte argwöhnisch, als plane der Student mit den Rastalocken einen terroristischen Anschlag. Was ironischerweise zumindest aus Sicht der Polizei genau den Tatsachen entsprach.