Читать книгу Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte - Richard Loewe - Страница 8
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ОглавлениеDie drei Freunde lümmelten auf den Polstern zwischen der Yuccapalme und teilten sich zwei Tüten Chips, saure Gurken und Bier. Im Hintergrund lief Dub-Musik.[Fußnote 10] Max trommelte auf der Bongo herum und lauschte dabei Tobis fantastisch klingenden und im Großen und Ganzen eher unverständlichen Ausführungen.
»Du willst also sagen, dass wir von Außerirdischen angegriffen worden sind?«, fragte der Rastamann ungläubig nach, um sicherzugehen, dass er sich nicht verhört hatte. Er kannte den zaghaften Physiker schon seit einer Ewigkeit und hatte ihn selbst oft genug über schwarze Löcher, Zeitreisen und Warp-Antriebe ausgefragt, um zu wissen, wann er es ernst meinte. Und diesmal schien er, so schwer das zu glauben war, tatsächlich nicht zu scherzen.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Tobi gereizt. Mal wieder hatte er das Gefühl, gegen eine Wand anzureden. Vielleicht vergeudete er seine Zeit. Sollte er seine Schätzungen nicht lieber einem General der Bundeswehr oder der Regierung vortragen? »Ich meine, dass diese Streifen am Himmel keine Raketen, sondern sogenannte kinetische Geschosse waren. Die Einschlagorte liegen mindestens acht Kilometer Luftlinie entfernt, im Westen kurz vor Berlin. Dafür spricht alles.«
»Okay, aber du gibst zu, dass eigentlich nur Außerirdische solche Dinger verschießen können?«
Tobi schüttelte den Kopf. Er wusste selbst, wie unglaublich die Behauptungen klangen. Er glaubte jedoch auch, Meteoriten von Raketen unterscheiden zu können, und seine Überschlagsrechnungen hatten die Vermutung bestätigt. »Kinetische Waffen werden nicht geschossen, das sind einfach bloß große Gesteinsbrocken. Deshalb gab es keinen Blitz, wie bei einer atomaren Explosion.«
Max blieb skeptisch, er nahm an, dass sein Freund angesichts der undurchschaubaren Umstände vielleicht ein bisschen die Nerven verloren hatte. Dafür sprach in seinen Augen auch die Tatsache, dass er jeden Zug von seinem Joint ablehnte, obwohl Marihuana nachweislich beruhigend wirkte. Nina hingegen schien dem Physiker eher Glauben zu schenken. »Könnten das nicht natürliche Meteoriten gewesen sein?«, mutmaßte sie. »Vielleicht haben die Behörden das Internet gekappt, um die Wahrheit zu verbergen. Damit keine Panik aufkommt. Ihr wisst doch, wie so was läuft.«
»Dann hätten sie das Fernsehen weiterlaufen lassen und eine Komödie nach der anderen aus den sechziger Jahren gebracht«, wandte Max ein.
»Stimmt auch wieder«, pflichtete sie ihrem Freund mit grüblerischer Mine bei.
Tobi schüttelte ebenfalls den Kopf. »Die Wahrscheinlichkeit, dass drei Meteoriten auf exakt parallelen Bahnen gleichzeitig im gleichen Gebiet einschlagen, ist vernachlässigbar klein.«
»Dann also Außerirdische«, wiederholte Max störrisch die ursprüngliche Annahme. Er glaubte zwar eher daran, dass Tobi sich ausnahmsweise geirrt hatte, aber man musste sich den Kopf stets für alle Möglichkeiten offen halten.
»Wohl kaum«, erwiderte der Doktorand trocken. »Ich tippe vorerst darauf, dass irgendeine Nation eine Geheimwaffe entwickelt hat, die sie jetzt einsetzt. Russland oder China oder so.« Er verzog unglücklich das Gesicht, was er immer tat, wenn er etwas nicht verstand. »Besonders plausibel kommt mir die Erklärung allerdings auch nicht vor.«
»Ich sage, dass du dich verrechnet hast«, meinte Max, nahm einen Schluck Bier, und fügte hinzu: »Aber falls du richtig liegst, dann sind es Außerirdische.«
Er legte passende Musik auf, die eher Ninas Geschmack entsprach,[Fußnote 11] und Tobi machte sich daran, seinen Laptop mit dem DSL-Anschluss von Max zu verbinden. Normalerweise musste man das Gerät nur in den Router stecken, doch dieser hatte seinen Geist aufgegeben und ließ sich nicht mehr starten. Max fand aber in einem alten Umzugskarton noch ein Verbindungsgerät der Telekom, das er eigentlich bei der Kündigung seines Vertrages hätte zurückgeben müssen. Sie schlossen die Maschine an das DSL-Modem an, dessen Netzindikator faszinierenderweise auf Grün stand, und erstaunlicherweise fuhr es klaglos hoch. Nach einer halben Ewigkeit zeigte es ein Verbindungssignal an.
»Das Netz ist überhaupt nicht zusammengebrochen«, murmelte Tobi erstaunt. Er klinkte den Ethernetstecker in den Laptop, der daraufhin anzeigte, dass mit der Verbindung etwas nicht stimmte.
»Geht doch nicht, oder?«, meinte Max, um auch einmal was zu sagen. Bis hierher konnte er seinem Freund folgen.
»Die Namensserver haben ihren Geist aufgegeben«, erklärte ihm dieser und kramte in seinem Rucksack herum. Schließlich holte er einen programmierbaren Taschenrechner hervor. Er besaß ihn noch aus seinen Zeiten als Elektrotechniker. Seine Kollegen belächelten ihn dafür, solche Hilfsmittel waren in den Kreisen theoretischer Physiker verpönt, selbst PC-Software wie ›Mathematika‹ und ›Matlab‹ verwandte kaum einer. Er jedoch wollte sich von dem altertümlichen Gerät nicht trennen und jetzt würde es sich als nützlich erweisen. Auf Knopfdruck zeigte es eine Liste von alternativen Adressen an, die er für solche Gelegenheiten einprogrammiert hatte. Er änderte die Einstellungen auf dem Laptop und prüfte mit Kommandozeilenprogrammen, ob die Verbindung lief. Erst nach einer Reihe von Versuchen fand er einen offenen Server in Leipzig, der noch zu funktionieren schien. Er startete den Browser, wählte eine beliebige Seite und eine ›404 – Page not found‹ Meldung begrüßte ihn. Er probierte einige weitere gängigen URLs durch und jedes Mal erschien derselbe Fehler.
»Das Internet ist ausgefallen?«, erkundigte sich Max enttäuscht. Selbst wenn das Fernsehen bald wieder anlief, vertraute er Nachrichten aus Blogs unter den gegebenen Umständen mehr, als den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder gar privaten Fernsehsendern.
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Das Internet funktioniert bestens, sogar unsere Verbindung zu ›Alice‹ ist ungestört. Das Problem sind die Server, die Dokumente selbst scheinen verschwunden zu sein. Merkwürdig.«
Wenn keine ›404‹ Meldung kam, luden die Seiten schier endlos, ohne irgendetwas anzuzeigen, oder dem DNS-Server gelang es nicht, die URL in eine zugehörige Internetadresse umzuwandeln. An manchen Adressen erschienen Standardseiten, die nichts als leere Verzeichnisse oder die Version der Betriebssoftware anzeigten. Wieder andere gaben kryptische Fehlermeldungen wie ›Broken Pipe‹ von sich. Schließlich tippte Tobi auf gut Glück die URL eines deutschen Forums für die X-te Variante der nimmerendenden ›Call of Duty‹ Spieleserie ein, die er auswendig kannte. Zu seinem Erstaunen baute sich die Seite auf, wenn auch mit unglaublicher Langsamkeit. »Bingo!«, rief er und sie studierten aufgeregt die Forumsbeiträge.
Hunderte waren in den letzten Stunden gepostet worden und überschwemmten die Rubriken. Die älteren von ihnen handelten von Netzwerkproblemen, doch die Forumssoftware sortierte sie nach der Zeit und zeigte die neuesten zuerst an – und was die beiden Freunde da lasen, gab gewiss keinen Anlass zur Freude. Nachricht auf Nachricht überflogen sie, und zusammengesetzt ergab sich ein Bild des Schreckens. Spieler aus Hessen und Sachsen schrieben, ein Atomkrieg sei ausgebrochen. Sie berichteten von Atompilzen und radioaktivem Fallout, und die Schilderungen wirkten ziemlich glaubhaft. Andere behaupteten steif und fest, dass von den USA nichts mehr übrig sei, und gaben dafür alle möglichen Indizien an. Ein findiger Junge hatte Netzwerkadressen gescannt und auf diese Weise herausgefunden, dass kein einziger Server, der in den Vereinigten Staaten stand, funktionstüchtig war. Auch für große Teile Asiens und Russlands kam diese Methode, die andere Forumsteilnehmer begeistert kopiert hatten, zu demselben Ergebnis. Die übrigen Beiträge bestanden aus Spekulation. Vom Atomkrieg über die Alien-Theorie, einen plötzlichen Polsprung, den Ausbruch einer tödlichen Seuche bis hin zu einem Meteoriteneinschlag war so ziemlich jede Meinung zu finden, die man sich vorstellen konnte, und die Mitglieder des Spieleforums tappten ebenso im Dunkeln wie Max und seine Freunde oder die Polizisten auf den Berliner Straßen. Doch in Tobi stieg beim Durchblättern der Nachrichten ein grauenvoller Verdacht hoch, der ihn nicht mehr losließ. Unter den Namen der Forumsteilnehmer standen zusätzliche, freiwillige Informationen, zu denen auch der Heimatort zählte. Abgesehen von offensichtlichen Scherzen wie ›Afghanistan‹ und ›Jamaika‹ stammten die Spieler aus allen möglichen Teilen Deutschlands. Nur waren keine einzigen aus Baden-Württemberg oder Bayern darunter.
»Das könnte ein Zufall sein«, versuchte Max ihn zu beruhigen. Tobis Familie wohnte in einem kleinen Ort zwischen Stuttgart und Tübingen, dessen Namen Max jedes Mal sofort vergaß, wenn er ihn gehört hatte. Der Physiker schüttelte den Kopf und stellte mit zitternder Stimme fest: »Solche Zufälle gibt es nicht.«
»Dann ist das Internet dort eben stärker betroffen.«
»Und was ist mit den Berichten über radioaktiven Fallout?«, wandte sein Freund ein. »Hessen grenzt an Baden-Württemberg und Sachsen an Bayern, oder was meint der Herr Geografiestudent? Auch bloß Zufall?«
»Hey, habt ihr was rausgefunden?«, unterbrach sie Nina, die sich bei den kleinsten Anzeichen von Computer-Diskussionen stets zurückzog und stattdessen in der Küche am Fensterbrett bei einer Tasse Kaffee gelesen hatte.
»Nichts!«, erklärten die beiden gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen. Tobi klappte hastig den Laptop zu und in einer stillschweigenden Übereinkunft berichteten sie, dass die Forumsteilnehmer auch keine Ahnung hatten. Die Gerüchte über radioaktive Strahlung und Atombomben ließen sie aus. Es gab keinen Grund, sie unnötig zu beunruhigen, dachte sich Max, obwohl sie die Lage, wenn er ehrlich sein sollte, gut zu verkraften schien.
»Ihr habt ein paar von den ›kinetischen Geschossen‹ verpasst. Müssen aber weit entfernt eingeschlagen sein«, meinte sie gut gelaunt und schlürfte an ihrer großen Tasse Milchkaffee. Sie trug einen übergroßen Wollpullover, den sie sich ungefragt von Max ausgeliehen hatte, denn durch das zerbrochene Fenster im Schlafzimmer drang kalte Frühlingsluft. »Wir könnten uns die Sache vom Dach aus ansehen.«
Gesagt, getan statteten sich die Freunde mit Pullovern und Jacken aus, Nina füllte den restlichen Kaffee in eine Thermoskanne, und sie bewaffneten sich mit drei Klappstühlen aus Holz, die normalerweise in der Küche ihren Dienst verrichteten. Offiziell verbat die Hausverwaltung, auf das Hausdach zu steigen, inoffiziell hingegen hatte Max das Vorhängeschloss an der Luke schon vor Jahren entfernt. Oft genossen sie im Sommer den Ausblick bei einem ausgedehnten Frühstück. Der größte Teil des Daches war schräg und mit roten Ziegeln abgedeckt, doch gab es einen flachen Abschnitt, auf den mühelos ein paar Stühle und sogar ein kleines Tischchen platz fanden. Zu dieser Zeit, im kalten Berliner Frühling, war das Wetter allerdings weniger einladend. Eine für diese Jahreszeit typisch graue Wolkendecke überzog den Himmel, die dem langen Winter in der Stadt jenen charakteristischen tristen ›Charme‹ verlieh, der Neuankömmlinge bisweilen fast in den Selbstmord trieb, ein eisiger Wind pfiff durch die Schornsteine und die Luft roch nach Holzkohle, obwohl die Zahl der Kohleöfen in den letzten Jahren drastisch abgenommen hatte. Max holte aus der Wohnung zusätzliche Decken, und sie machten es sich in ihren Liegestühlen bequem. Erst einmal stellten sie allerdings nichts Besonderes fest. Die Sonne war beinahe untergegangen, in den genüberliegenden Häusern brannten bereits die Lichter, und abgesehen von einem gewissen Mangel an Autolärm und den Klängen entfernter Polizeisirenen wirkte der Abend wie jeder andere.
»Bist du dir sicher, dass du kinetische Geschosse gesehen hast?«, fragte Tobi. »Selbst wenn sie weit weg einschlagen, müssten sie lange Feuerschweife hinter sich lassen, die erst langsam wieder verschwinden. Vielleicht hast du ja normale Sternschnuppen beobachtet.«
»Nein, nein!«, beharrte Nina. »Sie waren aus dem Küchenfenster ganz deutlich erkennbar.«
»Du hast das Fenster doch nicht zugemacht?«, erkundigte sich Max. Aber natürlich hatte sie das getan. Also durfte er wieder über die kleine Holzleiter auf den Dachboden steigen, und von dort über die Treppe in seine Wohnung, um sie zu öffnen, damit sie beim nächsten ›Angriff‹, oder was immer da vor sich ging, nicht in tausend Scherben zerbrachen. Von einem Studentenjob als Wohnungsanstreicher hatte er eine Menge Plastikfolie übrig, aber er war sich nicht sicher, ob sie für alle Fenster reichen würde, und war wenig scharf darauf, die kommenden Wochen über in einer feuchten Wohnung zu verbringen. Falls er noch so lange zu leben hatte, denn wenn tatsächlich wider Erwarten ein Krieg ausgebrochen war, mochte die Hauptstadt womöglich nicht der sicherste Ort zum Überleben sein. Er fragte sich, ob sie sich nicht lieber wie viele Berliner am Tag zuvor hätten aus dem Staub machen sollen. In einer Kiste fand er einen ziemlich guten Feldstecher, den er sich vor Jahren einmal für geologische Exkursionen als Gebrauchtware angeschafft hatte, bevor er zu der Erkenntnis gelangt war, dass ein Geografiestudium nicht in erster Linie darin bestand, auf Staatskosten fremde Länder zu besuchen – jedenfalls nicht, solange man noch studierte.
Als er zurückkam, drehte sich Nina von seinem Kraut gerade einen fetten, sehr traditionell gebauten Joint, der selbstverständlich willkommen war. »Und, hat sich was getan?«, erkundigte er sich.
»Nüscht«, antwortete Tobi, der als Einziger von ihnen berlinern konnte, wenn er wollte. Paradoxerweise lebten und arbeiteten die Eltern des gebürtigen Berliners bei Stuttgart. Sein Vater war Arzt oder Biologe, so ganz verstanden hatte Max nie, was er eigentlich machte, und hatte dort eine Professur angenommen. Ninas Eltern wohnten in Brandenburg, kamen ursprünglich jedoch aus Leipzig. Sie konnte im Zweifelsfall den sächsischen Dialekt nachahmen, wozu sie sich freiwillig allerdings kaum hinreißen ließ. Max selbst stammte aus Nordrhein-Westfalen, wo der Rest der Familie in einem Kaff auf dem Land lebte – nicht, dass er mit ihnen viel Kontakt hatte, seitdem er sich mit seinem Vater und seinem Bruder zerstritten hatte.
»Vielleicht sind die Angriffe schon vorbei«, meinte Nina enttäuscht. »Hat jemand Feuer?«
Max reichte ihr sein Zippo-Imitat mit dem Wappen der Volksbefreiungsarmee und dachte sich, dass es ihnen womöglich das Leben retten konnte, wenn aus unerfindlichen Gründen tatsächlich die Chinesen über Europa hergefallen waren. Allerdings zählte diese Theorie zu den dämlichsten, weil ein solcher Angriff nicht den geringsten Sinn machte. Da käme wohl eher der klassische durchgedrehte russische General infrage, der ein Atom-U-Boot in seine Gewalt gebracht hatte. Die Geschichte kannte man ja aus Funk und Fernsehen, und hatten nicht schon seit Jahren einige weise Köpfe gewarnt, dass die Gefahr eines Atomkrieges seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gestiegen und nicht gesunken war?
Mit einem Mal rissen ihn zwei Dutzend Feuerstreifen aus den Gedanken, die durch die Wolkendecke brachen und nach wenigen Sekunden wieder verschwanden. »Wow!«, murmelte er und er erhob sich von seinem Stuhl. Auch Tobi und Nina hielt es nicht auf ihren Sitzen. Ein dumpfes Grollen, das an den Donner eines sehr fernen Gewitters erinnerte, bestätigte ihnen, dass es sich nicht um einfache Meteoriten handeln konnte. Es sei denn, die Häufigkeit dieser Himmelsphänomene hätte sich von einem Tag auf den anderen verhundertfacht.
»Das ist krass«, kommentierte Nina das ungewohnte Spektakel. »Wo schlagen die ein?«
»Wir sehen nach Südwesten, Richtung Potsdamer Platz, aber die müssen weit entfernt runtergekommen sein.«
»Vielleicht sogar in Bayern oder weiß Gott wo«, meinte Tobi, der natürlich wie immer seine Oberlehrereinstellung zur Schau stellen musste. »Ohne den Einschlag als Referenzpunkt lässt sich die Entfernung nur schwer schätzen. Die Lautstärke der Explosion selbst hängt ja von sehr vielen Faktoren ab, dem Material des Geschosses und des Bodens, seiner Masse und Oberfläche. Ich glaube, dass sie kleine Körper verwenden, sonst gäbe es schreckliche Erdbeben.«
»Vielleicht wäre es besser, in den Keller zu gehen«, mutmaßte Nina, machte aber keine Anstalten, sich zu verziehen.
»Das dürfte sehr hitzebeständiges Material sein«, grübelte Tobi weiter. »Zum Beispiel Tungsten. Faszinierend.«
»Danke, Mr. Spock«, witzelte Max und klopfte ihm mit gespielter Anerkennung auf die Schulter. Zusammen hatten sie fast alle Folgen von Star Trek gesehen, bis er bei einer der späteren Next Generation Staffeln den Eindruck bekommen hatte, die ursprüngliche Idee der universalen Völkerverständigung sei einer Art Militärdiktatur gewichen. Seitdem konnte er die Uniformen und das ständige ›Jawohl, Sir‹ nicht mehr ertragen. Stattdessen waren sie auf Farscape umgestiegen. Wieder schimmerte ein gutes Dutzend der ›Sternschnuppen‹ durch die grauen Wolken und schlugen mit einem dumpfen Grollen irgendwo in der Ferne ein. Max kam die Titelmelodie einer alten japanischen Comicserie aus den 80er Jahren in den Kopf, die er selbst nie gesehen hatte.[Fußnote 12]
Als nach geraumer Zeit keine weiteren Streifen mehr am Himmel erschienen und er gerade vorschlagen wollte, wieder in die Wohnung zurückzusteigen, um die Vorzüge einer Zentralheizung zu genießen, solange sie noch funktionierte, fiel ihm plötzlich ein eigenartiger, dumpfer Brummton auf. »Leck mich fett!«, entfuhr es ihm unwillkürlich, als er als Erster den Schatten eines gewaltigen Raumschiffes bemerkte, der sich hinter ihnen über die Hausdächer schob. Langsam glitt das Schiff über ihre Köpfe hinweg, bis es beinahe den ganzen Himmel bedeckte. Mehr, als die Umrisse, konnte man nicht erkennen, das gigantische Landungsboot schien vollkommen schwarz gestrichen zu sein und gab neben einem tiefen, bedrohlichen Brummen nur ein kaum wahrnehmbares bläuliches Schimmern ab. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber Max hatte das Gefühl, eine unsichtbare Energie lade seine Nackenhaare auf und verwirbele die Luft über ihnen wie das Flirren von Hitze über der Wüste, doch ohne Wärme zu erzeugen.
»So was haben die Chinesen nicht«, flüsterte Tobi fast schon mit Ehrfurcht in der Stimme. Niemand in der Nachbarschaft schien das gigantische Gefährt zu bemerken, jedenfalls warf kaum jemand aus den umliegenden Häusern einen Blick ins Freie. Die meisten Nachbarn waren damit beschäftigt, ihre Fenster zu reparieren, und manche von ihnen gingen auch einem ganz gewöhnlichen Tagesablauf nach. Familien saßen beim gemeinsamen Abendessen am Tisch, andere lasen ein Buch oder starrten auf das Testbild im Fernseher. Der gewaltige Schatten hielt in einigen Hunderten Metern Entfernung Luftlinie an, genau ließ es sich mangels Referenzpunkten nicht schätzen, und hing regungslos am Himmel.
»Potsdamer Platz oder Reichstag«, flüsterte Tobi.
»Ich glaub’s nicht«, keuchte Max. Ein besserer Kommentar fiel ihm nicht ein. Er hatte doch nicht etwa zu viel von seinem Kraut geraucht? Aber nein, sein Freund war ja nüchtern und sah das Spektakel auch. Mit einem Mal stiegen Raketen auf und zerplatzten wie Feuerwerkskörper in der Luft in tausend Funken, lange bevor sie das Raumschiff erreichten.
»Boden-Luft Abwehr«, mutmaßte Tobi.
Die Explosionen hallten über die Häuser, waren aber nicht lauter als an Sylvester. Erst jetzt sahen die übrigen Anwohner aus ihren Fenstern.
»Sie greifen den Reichstag an«, stellte Nina schockiert fest. »Wir sollten vielleicht besser aus Berlin verschwinden.«
Max schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät, die Straßen sind dicht und die Polizei steht an jeder Ecke. Außerdem macht das Raumschiff, oder was auch immer das ist, bis jetzt ja gar nichts.«
»Fantastisch, oder?«, rief Tobi voller Freude. »Wir sind nicht alleine im Universum! Das ist so verdammt cool! Wahrscheinlich greifen sie uns gar nicht an, sondern wollen Kontakt herstellen!«
»So wie bei ›Mars Attacks‹?«, witzelte Max und der Physikstudent schob sich verärgert die Brille zurecht.
»Du hast wohl recht, sieht leider eher nach einem Angriff aus. Aber das Ganze macht keinen Sinn. Wozu sollten Außerirdische die Erde überfallen? Bewohnte Planeten für Ressourcen auszubeuten, wäre schlichtweg ineffektiv. Da sind sich alle einig! Den Schätzungen zufolge muss es weit mehr unbewohnte als bewohnte Systeme geben, und dort gibt es genauso viele Rohstoffe, warum sollten sie da über Welten herfallen, auf denen andere intelligente Spezies wohnen? Das macht keinen Sinn!«
»Vielleicht solltest du einen Funkspruch absetzen und ihnen das erklären«, merkte Max an, dem die Tragweite der Ereignisse noch nicht so richtig bewusst wurde. Eine letzte Explosion verpuffte, ohne das Gebilde am Himmel in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Da schossen plötzlich mit lauten Knallgeräuschen, die sich in etwa anhörten, als schlüge jemand mit einem gewaltigen Vorschlaghammer auf eine Metallplatte, weiße Leuchtkugeln aus dem Raumschiff. In dichtem Formationsflug zogen sie mit unglaublicher Geschwindigkeit über der Stadt Kreise, als suchten sie etwas.
»Wo bleibt denn die Luftwaffe?«, wunderte sich Nina. Von Flugzeugen gab es am Himmel keine Spur. Die Kugeln schossen auf den Boden zu und verschwanden jeweils mit einem lauten Donnerschlag, dem ein hoher Kreischton folgte, der wie das hundertfach verstärkte Geräusch einer Flex klang, mit der jemand eine Metallplatte bearbeitete. Die drei Freunde pressten sich die Hände auf die Ohren.
Plötzlich verstummte der Lärm, der Schatten über Mitte beschleunigte ruckartig, die Wolken verschluckten ihn, und zurück blieb eine unheimliche Stille.
»Außerirdische«, murmelte Max, als sie wieder vom Dach stiegen. »Wer hätte das gedacht.«
»Ich hab’s gleich vermutet«, erwiderte Tobi, der wie immer das letzte Wort haben musste.