Читать книгу Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte - Richard Loewe - Страница 12
***
ОглавлениеEs gab Engpässe in der Lebensmittelproduktion. Zur Verpflegung wurden von Polizei und Militär Essensmarken ausgeteilt, die man in jedem Supermarkt einlösen konnte. Längst gab es einen regen Schwarzmarkt, keiner wollte mehr den Euro haben, denn schließlich wussten die Menschen nicht einmal, ob es der Rest von Europa überhaupt noch existierte. Die Übergangsregierung reagierte darauf in der dritten Woche nach der Invasion mit drastischen Maßnahmen, die selbst ihren Befürwortern etwas zu drakonisch erschienen. Jegliche Art von Tauschhandel, ob privat oder kommerziell, wurde streng verboten und die Preise für alles, was nicht essbar und trinkbar war, legte ab sofort eine neue Behörde fest, die angeblich dem Wirtschaftsministerium unterstand. Knolle und andere kleine Ladenbesitzer zwang man, akribisch Buch zu führen. Sämtliche Bestände und jede Transaktion war genauestens zu protokollieren. Eigens dafür abgestellte Wirtschaftsprüfer, die stets in Begleitung von mehreren Polizisten auftauchten, durchforsteten die Unterlagen nach falschen Angaben, prüften die Belege und zählten stichprobenweise die Lager durch. Einer von ihnen stand sogar einen ganzen Tag hinter Knolle und notierte sich seine Handgriffe. Den Ladenbesitzern blieb nichts weiter übrig, als mitzuspielen, denn wer nicht mitmachte, wurde festgenommen und sein Geschäft entweder geschlossen oder von jemand anderem weitergeführt.
Rationierte Lebensmittel konnte man nur über Essensmarken erstehen, vieles andere wurde bald knapp. Haushaltswaren wie Batterien und einfacher Klingeldraht ließen sich fast gar nicht mehr auftreiben. Hingegen schien es wieder andere Artikel wie zum Beispiel Windeln, Klopapier, Duschbad und Seife, eine scheußlich riechende Sorte kölnisch Wasser, Desinfektionsmittel und Gummihandschuhe plötzlich im Überfluss zu geben, als sei die ganze Produktion des Landes auf Hygieneartikel umgestellt worden. Bettwäsche und Kleidung wurden knapp, waren aber aufzutreiben, wenn man nicht allzu wählerisch war. Bestimmte Warenklassen wie zum Beispiel Goretex-Jacken verschwanden quasi über Nacht und tauchten nie wieder auf. Billige Jeans, unschöne graue Blazer vom Typ ›Stasi‹, T-Shirts mit allen möglichen albernen Aufschriften, und bunte Synthetic-Pullover gab es hingegen in Hülle und Fülle. Ein paar teure Edelmarken gingen den ›Weg des Dodo‹, weil die Geschäfte nicht viele Exemplare von ihnen auf Lager hielten. Hässliche, dunkelbraune Decken überschwemmten den Markt. Sie kosteten pro Stück genau zehn Euro und stammten vermutlich aus Armeebeständen oder vom Zivilschutz. Keiner wollte sie haben und alle witzelten, dass man sie prima im nächsten Winter zum Heizen verwenden könne.
Elektroartikel wie Radios und Fernseher gab es weiterhin, doch wurden sie nahezu unerschwinglich. Die Preise für Laptops und PCs schossen ebenfalls in die Höhe, was allerdings außer Tobi keinen interessierte. Die meisten von ihnen funktionierten nicht, und die wenigen, die sich starten ließen, waren ohne Internet-Anbindung für Normalverbraucher ziemlich nutzlos. Bis auf das Betriebssystem und die vorinstallierte Software war nichts dafür zu kriegen. Mobiltelefone hingegen wurden zwar teurer, verkauften sich aber trotzdem hervorragend, weil in der dritten Woche sowohl Festnetz und Mobilnetz mit einem Mal ihre Dienste – wenn auch eingeschränkt – wieder aufnahmen. Es ließen sich nur Ortsgespräche führen, selbst nach Brandenburg konnte man von Berlin aus nicht telefonieren, doch das reichte den meisten Menschen.
Sogenannte Luxusartikel schrieben die Behörden mit Verweis auf den Ausnahmezustand erst einmal gar nicht aus, und dem entsprechend schwer waren sie zu aufzutreiben. Das traf die Raucher, zu denen Nina gehörte, besonders hart. Schon in den ersten Tagen nach der Invasion hatten schlaue Füchse und Geschäftemacher Tabak gehortet, und es kam kein Nachschub. Bald prügelten sich die Menschen in den Läden um eine letzte Zigarette, und Max war heilfroh, rechtzeitig auf Marihuana umgestiegen zu sein – zwar würde sein Vorrat ebenfalls in Kürze zur Neige gehen, aber dank zahlreicher alternativer Vertriebswege war die Versorgung seiner Meinung nach gesichert. Jedenfalls hoffte er das. Außerdem ließ sich das pflegeleichte Unkraut durchaus auch auf dem Balkon oder Dach eines Hauses ziehen. Andere ›Luxuswaren‹ wie Kaffee und Schokolade musste man unter der Hand kaufen. Dabei war natürlich Tauschhandel angesagt, was sich als viel unkomplizierter herausstellte, als die meisten Bewohner der Stadt je gedacht hätten. Es faszinierte Max, wie irgendjemand immer irgendjemand kannte, der irgendetwas brauchte, was irgendjemand anderer zuhause herumliegen hatte. Man konnte im Grunde genommen alles bekommen, was das Herz begehrte, niemand kümmerte sich um die strengen Verbote und einer half dem anderen. So sehr sich die Übergangsregierung auch bemühte, den Tauschhandel einzudämmen, blieben die neuen Regulierungen praktisch wirkungslos. Man arrangierte sich mit den Umständen, die Menschen passten sich schnell an die etwas geringere Auswahl in den Supermärkten an, und bald ging das Leben fast wieder seinen gewohnten Lauf.
Wie viele Berliner studierten Max und Tobi voller Neugier alles, was sie über ihre außerirdischen Besatzer herausfanden, hielten jedoch nichts von den ›Okosch-Parties‹, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen und den Klubs gehörige Mehreinnahmen bescherten – sofern sie Geld akzeptierten, denn damit konnte man ja in erster Linie nur Seife und braune Decken kaufen. Stattdessen trafen sie sich oft in ihrem ›Hauptquartier‹, Max’ Wohnung, und notierten sich alles, was sich über ihre Besatzer in Erfahrung bringen ließ in kleinen Heftchen und Ordnern, die Max zusätzlich mit Illustrationen von zweifelhafter Qualität vollkritzelte. Meistens war Nina auch mit dabei. Sie waren sich einig, dass die Regierung Strucke die Verfassung brach – wobei nur sie davon wirklich eine Ahnung hatte – und dass sie etwas gegen die Besatzung tun sollten.
Besonders Tobi schien die Sache ernst zu nehmen. Selbst sechs Wochen nach der Invasion hatte er noch kein Wort von seiner Familie aus dem Süden gehört. Polizei und Regierung blockten jede Anfrage ab, wichen den Fragen aus und wiederholten immer wieder gebetsmühlenartig, dass sie dabei wären, die Infrastruktur herzustellen und bis dahin keine verbindliche Auskunft aus anderen Regionen des Landes möglich sei. Die Gerüchteküche überschlug sich, aber niemand konnte die Spreu vom Weizen trennen. Die Stadt durfte nämlich nur verlassen, wer eine Sondergenehmigung der Übergangsregierung hatte. Diese bekamen lediglich ausgesuchte Kraftfahrer, die angeblich zu ihrer eigenen Sicherheit stets in Begleitung von Polizei und Bundeswehr unterwegs waren. Wenn man nicht zu Fuß gehen wollte, gab es sonst keine Möglichkeit, von einer Stadt zur nächsten zu kommen. Züge und Busse fuhren ausschließlich für den Lieferverkehr, und jeden Privatwagen ohne Sondergenehmigung schickten die Soldaten an den Sperrposen lange vor der Autobahnauffahrt wieder zurück. Dem Hörensagen zufolge gab es sogar den einen oder anderen, der zu Fuß mit Zelt und Rucksack aufgebrochen war, um Verwandte zu besuchen. Tausende Gerüchte rankten sich um solche Versuche, aber man konnte ihnen nicht allzu viel Vertrauen schenken. Weder Max noch seine Freunde kannten persönlich jemanden, der zurückgekehrt war, um davon zu berichten, was etwa in Dresden oder Leipzig vor sich ging.
Sechs Wochen nach der Invasion tauchten die ersten Drohnen auf, was Tobi in helle Aufregung versetzte. So bezeichneten sie die runden, sputnikähnlichen Fluggeräte, die sie bereits auf dem Video mit dem Okosch gesehen hatten. Sie kamen in unterschiedlichen Größen, von schätzungsweise kopfgroß bis hin zu den Ausmaßen eines Gymnastikballes, und schwebten in Höhen zwischen zwei bis zehn Metern durch die Straßen. Ihre Farbe war meist silbergrau bis metallisch und bei der Fortbewegung gaben sie ein dunkles, recht leises Brummen von sich, das wie im Innern eines Busses klang, wenn der Fahrer in den tiefsten Gang schaltet und langsam losfuhr. Dazu kam gelegentlich ein auffälliges rhythmisches Ticken. Die Kugeln waren auf allen Seiten glatt, besaßen jedoch scheinbar willkürlich angeordnete Antennen, deren Zweck sich durch rein äußerliche Betrachtung nicht erschließen ließ. Nachts gaben sie ein kaum merkliches, bläuliches Schimmern von sich, das Tobi besonders faszinierte, weil es, wie er behauptete, möglicherweise Rückschlüsse auf die Antriebstechnik zuließe, falls er eine Spektralanalyse in die Hände bekäme. Wozu die Geräte dienten, wusste niemand genau, doch der Physikstudent war fest entschlossen, mehr über sie herauszufinden. Damit hatte er sich keine leichte Aufgabe gestellt, denn die Drohnen tauchten insgesamt nur selten und stets ohne Vorwarnung auf.
Zur gleichen Zeit verfolgte Max seinen eigenen Widerstandsplan, wenn auch nicht unbedingt mit heroischer Hartnäckigkeit. Um ehrlich zu sein, hätte man den Plan innerhalb eines Nachmittags erledigen können, und er trödelte mächtig damit herum. Als er sich endlich aufraffte, kam ihm die Idee ein wenig lächerlich vor, aber von diesem Gedanken wollte er sich nicht abhalten lassen. Entschlossen ging er also endlich, nach sechs Wochen, ans Werk. Am Abend desselben Tages betrachtete er mit Genugtuung die Früchte seiner Arbeit und lehnte sich zufrieden zurück. Hie und da war ein bärtiger Bürgerrechtler festgenommen oder ein kritischer Radiosender geschlossen worden, doch im Großen und Ganzen hatte sich der Widerstand in Grenzen gehalten. Die meisten Einwohner der Stadt hatten andere Sorgen und ihre Besatzer versteckten sich auf geschickte Weise hinter der Übergangsregierung und ihres stets verständnisvollen und besorgten Kanzlers. Jetzt aber würde der Kampf gegen die ›Arschköpfe‹ beginnen.
Tobi war der Erste, der am nächsten Morgen seine ›Kommandoaktion‹ bemerkte. Leider nicht auf die Weise, die er sich ausgemalt hatte.
»Hey, Max, schon gesehen?«, begrüßte er ihn und warf einen Zettel auf den Tisch, ohne den Stapel zu bemerken, der bereits darauf lag.
»Oh ja«, erwiderte der Rasta mit einem geheimnisvollen Lächeln, das allerdings erstarb, als sein Freund fortfuhr: »Bescheuert, oder?«
Der Physiker nahm das Flugblatt zur Hand und las belustigt daraus vor: »Lasst euch nicht unterkriegen, von den Arschköpfen, die uns Bier und Hanf wegnehmen wollen, uns unterjochen und knechten! Der Kampf geht weiter! Der Wiederstand beginnt heute und endet nie mals! Hasta à victoria sempre!«
Tobi kicherte. »Also ich bin ja Legastheniker, aber diese Typen können ja wohl so was von gar nicht schreiben! Widerstand mit ›i-e‹, und hast du gelesen, wie sie sich nennen? ›Gruppe 69‹? Was soll das denn heißen?«
Zugegebenermaßen: In der Retrospektive kam Max der Inhalt des Flugblattes selbst ein bisschen dilettantisch vor. Den Spruch mit dem Bier und Hanf hätte er vielleicht weglassen sollen, und auch andere Aspekte seiner Formulierung erschienen ihm im Nachhinein weit weniger wortgewandt als am Vortag, an dem er sich mächtig die Birne zugedröhnt hatte. Aber wenigstens hatte er etwas getan, wohingegen Tobi noch immer über seinen Rechnungen saß, als ließen sich die Außerirdischen alleine durch ein bisschen theoretische Physik besiegen.
»Ich fand den Namen lustig«, gab er kleinlaut zu. Erst da bemerkte sein Freund das riesengroße Poster über dem Fernseher, das in großen, schwarzen Buchstaben dasselbe Logo wie auf den Flugblättern zeigte: die Worte ›Gruppe 69‹ über einem klassischen roten RAF-Stern, und darunter zwei Kalschnikov, die in der 69er-Stellung übereinander lagen. Er räusperte sich verlegen. »Oh, ich wusste nicht, dass du sie geschrieben hast.«
»Vielleicht hätte ich dich erst um deine Meinung bitten sollen ...«
»Du hättest zumindest die Rechtschreibprüfung einschalten können«, erwiderte Tobi zögerlich.
»Das ist auf Schreibmaschine getippt und hochkopiert. Nur dein Computer funktioniert, hast du das schon vergessen?«
»Ach ja«, murmelte der Physiker, legte den Kopf schief, betrachtete das Logo von allen Seiten, und stellte dann beschwichtigend fest: »Um ehrlich zu sein, cool sieht es aus, auch wenn der Name keinen Sinn macht.«
»Ich glaube, ich habe mir dabei gedacht, dass es die Okosch verwirren könnte.«
»Wäre möglich«, murmelte Tobi nachdenklich und studierte zum zweiten Mal den Inhalt. »Bei mir funktioniert’s jedenfalls.«
Als Max Nina gegenüber zwei Tage später eingestand, der Urheber jenes zweifelhaften Pamphlets zu sein, war ihre Reaktion weniger wohlwollend, aber nicht so schlimm, wie er sich nach Tobis ernüchternder Kritik ausgemalt hatte.
»Das hast was?«, rief sie. »Du hast diese Flugblätter geschrieben? Bist du wahnsinnig?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Jemand muss doch was tun, und ich habe schon viele Flyer gestaltet.«
Die blonde Politikstudentin schüttelte ungläubig den Kopf, als verstünde sie nicht, weshalb sie diesen Trottel überhaupt kannte. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie gefährlich das ist?«
Er verstand nicht. »Ein paar Flugblätter im Copyshop herstellen? Gut, ich habe sie in einer Tüte auf dem Rad transportiert und wäre beinahe –«
»Blödkopf!«, unterbrach sie ihn. »Ich meine nicht die Herstellung der Blätter, sondern die Polizei. Mensch Max, es herrscht Ausnahmezustand! Sie können dich ohne Vorwarnung und Begründung festnehmen! Leute sind verschwunden und niemand weiß, wo sie hingebracht werden! Wusstest du das nicht?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das sind ja bloß Gerüchte! Wegen einem Flugblatt machen die doch keinen Finger krumm! Und außerdem: Woher sollen die denn wissen, dass ich das geschrieben habe? Falls du’s nicht bemerkt hast, es steht ›Gruppe 69‹ drunter.«
Sie legte die Stirn in Falten. »Was bedeutet der Name eigentlich?«
Ihrem Gesichtsausdruck zufolge hatte sie von der Antwort schon eine konkrete Vorstellung. Scheinbar zu seinem Glück rettete Max die Klingel der Wohnungstüre. Die Ablenkung war ihm willkommen. »Ah, das wird der Nachbar mit dem Dichtungsring für die Dusche sein!«, rief er und verschwand hastig im Flur. Als er die Tür öffnete, stand vor ihm allerdings ein etwa fünfzig Jahre alter Mann mit Schnauzer und grau meliertem Haar. Ihn begleiteten zwei Streifenbeamte, von denen einer in Westernmanier seine Dienstwaffe zur Hälfte gezogen hatte.
»Herr Bräuner? Maximilian Bräuner?«, begrüßte ihn der Schnauzbärtige unheilvoll.
Max widerstand dem Impuls, sich als jemand anderes auszugeben und fluchte innerlich, dass er selbst und nicht Nina an die Tür gegangen war. Der Kripobeamte warf einen neugierigen Blick durch den Türspalt. Stünde sie nur ein bisschen weiter offen, dann müsste ihm im nächsten Augenblick ein DIN A 3 Poster mit der Aufschrift ›Gruppe 69‹ ins Auge springen. Max trat schnell dazwischen und antwortete mit unglaublich schlecht gespielter Ruhe und einem Tonfall, der ihm selbst verdächtig vorkam: »Ja, äh, was gibt’s denn?«
»Wir wollten sie bitten, mit uns aufs Revier mitzukommen. Für eine Routinebefragung.«
Da schob sich glücklicherweise Nina in den Türspalt. Wenn es um ihren Freund ging, verstand sie keinen Spaß, das musste man ihr lassen. »Haben sie einen Haftbefehl? Wer sind sie überhaupt?«
Der Mann ließ sich dadurch leider nicht aus der Ruhe bringen. Er zückte eine Dienstmarke. »Hauptkommissar Tietgens, Kriminalpolizei Mitte. Nein, es liegt kein Haftbefehl vor – und wie sie wissen, brauchen wir auch keinen. Es herrscht Ausnahmezustand. Sollten wir denn einen haben? Dem Herrn Bräuner wird ja gar nichts vorgeworfen, wir wollen ihm nur ein paar Fragen stellen.«
»Und wozu?«, erkundigte sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt.
Der Kommissar lächelte und erwiderte förmlich: »Das kann ich ihnen aus ermittlungstaktischen Gründen zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht sagen.«
»Ich will einen Anwalt«, erklärte Max etwas dümmlich. Vermutlich stand ihm für eine einfache Befragung keiner zu. Ganz der waschechte Berliner sprang einer der Streifenpolizisten für den eher gelangweilt wirkenden Kriminalkommissar ein: »Ja, ja, den kriegen se och noch. Jetzt kommen se erst mal mit.«
Mit diesen Worten griff er seinen Arm und zog ihn durch den Türspalt. Max hätte sich wehren können, mit passivem Widerstand hatte er auf Demonstrationen viel Erfahrung gesammelt, aber er konnte sich in diesem Augenblick nicht entscheiden, ob das eine gute Idee wäre. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass vor ein paar Tagen in Kreuzberg ein Familienvater erschossen worden sei, als er sich bei den hinzugerufenen Polizisten etwas zu lautstark beschwert hatte, dass ihm ein Apotheker rezeptfreie Medikamente für seine Tochter nicht geben wollte.
»Lassen sie ihn los!«, kreischte Nina, und es kam zu einem kurzen Gerangel.
»Nein, nein, Nina!« Mit einem verschwörerischen Nicken in Richtung des Fernsehzimmers gab Max ihr zu verstehen, dass es unter den gegebenen Umständen angebracht sein mochte, den Polizisten zu folgen. »Sie wollen mich ja nur befragen. Ich komme bald wieder.«
»Da sehen sie mal, ihr Freund ist vernünftig«, kommentierte Tietgens, ohne den eigentlichen Grund für das zahme Verhalten zu erkennen. Es ging ihm natürlich nur darum, dass die Beamten seine Wohnung nicht näher unter die Lupe nahmen, denn wenn sie für eine Festnahme keinen Haftbefehl brauchten, würden sie wohl auch kaum auf einen Hausdurchsuchungsbefehl warten. Glücklicherweise verstand Nina den Hinweis sofort und gab sich geschlagen. »Er kommt bald zurück, ja?«
»Natürlich, Frau ...?«
»Und wohin bringen sie ihn?«, hakte sie nach, ohne auf die indirekte Frage einzugehen.
»Schutzpolizei, Abteilung Mitte II. Falls sie nachfragen, vor Kurzem hießen wir noch Kriminalpolizeidirektion Mitte, IV. Aber keine Sorge, sie bekommen ihren Freund bald wieder ...«