Читать книгу Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte - Richard Loewe - Страница 5
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ОглавлениеBerlin-Kreuzberg, 17:47 Uhr – Tag der Invasion
Die Dunkelheit war hereingebrochen und es war empfindlich kalt. Die drei Freunde trafen sich trotz des schlechten Wetters in der ›Ankerklause‹ am Landwehrkanal in Kreuzberg. Im Innern des Kneipenschiffes war es zum Brechen voll und so machten sie es sich auf dem Teil des Bootes bequem, der im Freien lag. Auf dem Schiff, das schon lange keine fernen Ufer mehr gesehen hatte, war von der Aufregung und Panik auf den Straßen nichts zu spüren. Die Gäste zwängten sich wie üblich zwischen die engen Bänke und erfreuten sich an diversen alkoholischen Getränken. Musik aus der Jukebox drang nach draußen.[Fußnote 6] Hier fühlte sich Max zu Hause.
Tobi zauberte aus seinem Rucksack, der von programmierbaren Taschenrechnern über Werkzeuge zum Knacken von Schlössern so ziemlich alles zu enthalten schien, was man sich vorstellen konnte, einen alten Laptop hervor, der selbst fast die Größe eines Koffers hatte.
»Was ist das denn für ein Teil? Aus den 90er Jahren?«, wunderte sich Nina, die inzwischen wieder von den Toten auferstanden war und an einem Milchkaffee nippte. Der Joint am frühen Nachmittag hatte sie genau wie Tobi umgehauen. Ab und dann vergaß Max einfach, dass seine fleißigen Studentenfreunde längst nicht mehr so viel vertrugen wie er.
Mit einem triumphierenden Grinsen klappte der Physiker den Koffer auf und mit einem Piepsen erwachte das Gerät aus dem Schlaf. »Das ist ein altes Panasonic Toughbook«, erklärte er, sah sich jedoch zu weiteren Ausführungen gezwungen, als er das blanke Stieren von Affen in den Blicken seiner Freunde bemerkte. »Das Teil ist praktisch unzerstörbar. Dürfte tatsächlich so etwa aus den 90ern stammen. Ist gebraucht gekauft. Neu kosten die mehr, als mein Geldbeutel erlauben würde.«
»Und wieso hast du’s mitgebracht?«, erkundigte sich Max, und bereute gleich darauf, die Frage gestellt zu haben. Tobi war für seine begeisterten und leider mitunter etwas langwierigen Technikerläuterungen wohlbekannt.
»Weil ich euch was zeigen wollte.«
Er startete auf einer Kommandozeile ein Programm, und der Bildschirm füllte sich von einem Rand zum anderen mit kryptischen Zahlenkolonnen.
»Wieso sind da Buchstaben dabei?«, wunderte sich Nina.
»Hexadezimalsystem«, erwiderte Tobi und sparte sich weitere Erklärungen dazu, um keine Zeit zu verlieren. »Das ist ein Debugger und Disassembler, er übersetzt den Maschinencode des Computers in lesbare Befehle.«
»Sieht für mich nicht besonders lesbar aus«, meinte Max, dessen Aufmerksamkeit schon zu erlahmen begann. Nina gähnte.
»Das ist ja auch der Speicherinhalt«, entgegnete der Physiker irritiert. Er drückte eine Taste, und eine nicht minder unverständliche Kolonne von Buchstaben erschien auf dem Bildschirm. »Dissassembler. Was ihr hier vor euch seht, ist so ziemlich der komplexeste Virus, der je für einen Computer geschrieben worden ist. Ich verstehe nicht einmal ein Prozent davon und kenne mich eigentlich mit solchen Sachen gut aus.«
»Und dieses Ding hat meinen PC zerstört?«, mutmaßte Max und nahm einen Schluck Bier.
»Jep. Hat glatt dein BIOS neu geflasht! Aber nicht nur das, auch meine Computer hat er geschreddert, oder vielmehr alle, bis auf diesen hier.«
»Wieso den nicht?«
Auf diese Frage hatte er nur gewartet. Freudig schob er sich die Brille zurecht und erklärte: »Die meisten neueren Maschinen besitzen einen sogenannten TPM-Chip Version 2.0 oder höher, und jedes Gerät damit hat der Virus einfach außer Kraft gesetzt. Das Toughbook war seiner Zeit voraus, es hat TPM 1.2. Das ist inzwischen vollkommen veraltet, aber es hat dem Angriff widerstanden.«
»Typisch mal wieder«, murmelte Max, »die alten Chips sind besser.«
»So kann man das nicht sagen«, erwiderte sein Freund, den solche Kommentare stets leicht verärgerten, und berichtete ihnen, was er sonst noch herausgefunden hatte. Allem Anschein nach war eine ganze Lawine von neuartigen Computerviren übers Internet gekommen und hatte nicht nur Computer, sondern auch Mobilfunknetze und Tausende von Geräten, die für die Kommunikation nötig waren, außer Gefecht gesetzt. Tobis Router, sein WLAN, ein Server für Videospiele und sein Torrent-Server waren lahmgelegt worden, und ebenso hatten gezielte Virenattacken jeden weiteren Rechner, den er ans Netz gebracht hatte, innerhalb von ein paar Sekunden bis Minuten zerstört. Nur das Toughbook war verschont geblieben, und zwar nicht, wie er betonte, weil es ›tough‹ war, sondern weil es die älteste Maschine in seiner gigantischen Sammlung war. »Praktisch alles, was nach der Jahrtausendwende hergestellt worden ist, hat seinen Geist aufgegeben!«, beendete er seine Erklärungen in triumphierendem Tonfall.
Max pfiff anerkennend durch die Zähne. »Also haben uns tatsächlich die Chinesen überfallen?«
»Wieso die Chinesen?«, wunderte sich Nina.
»Sie gelten als die Besten, was den ›Cyberkrieg‹ angeht«, bestätigte Tobi die Vermutung. »Wer auch immer diese Flut von Viren geschrieben hat, muss jedenfalls die Baupläne für diese Chips kennen, und zwar besser als wir Linux-Entwickler. Wir müssen die Funktionen oft von Hand austesten, was ewig dauert. Aber ich wüsste nicht, was den Chinesen ein solcher Angriff bringen sollte, ist ja nicht gerade unauffällig.«
»Bratwurst?«, warf Max ein. Der Kommentar war so dumm, dass ihm sogar ein paar Tischnachbarn den Vogel zeigten, die ihnen unfreiwillig zugehört hatten. Der Zusammenbruch des Internets war Tagesthema Nummer eins.
»Eine Wirtschaftsattacke«, meldete sich Nina zu Wort, die plötzlich hellhörig geworden war. »Wenn man im Voraus weiß, wann die Börse und die Medien in einem Land zusammenbrechen, kann man Milliarden verdienen.«
»Bingo!«, rief ein Typ am Nebentisch, der ihrer Unterhaltung ebenfalls gefolgt war. »Das waren die Amis!«
Wer auch immer letztlich dafür verantwortlich war, Tobi und Max waren sich einig, dass Ninas Erklärung von allen, die sie an diesem Tag bisher gehört hatten, am meisten Sinn machte. Doch wie sich bald herausstellen sollte, lag die Studentin der Politologie und Geschichtswissenschaften damit mächtig daneben. Ausgerechnet die dümmste und albernste Hypothese, an die niemand ernsthaft glaubte, sollte sich als richtig erweisen.
Als Max gerade die nächste Runde bestellen wollte, kam Tobi eine Idee. Seiner Meinung nach konnte es durchaus möglich sein, dass nicht das gesamte Internet zusammengebrochen war. Schließlich hatten die Viren ja auch nicht sämtliche Computer, sondern nur die meisten von ihnen ausgeschaltet. Wenn die zerstörerischen Programme übers Netz wanderten, würde es Sinn machen, die Infrastruktur selbst intakt zu lassen, um sie schön weiterverteilen zu können. Aufgeregt verabschiedete er sich, um die Hypothese zu Hause zu prüfen, woraufhin Max ihm vorschlug, den Versuch doch bei ihm zu unternehmen. Gesagt, getan, schwangen sie sich auf ihre Räder und machten sich auf den Rückweg nach Friedrichshain.
Es war erst kurz nach Mitternacht, aber die Straßen wirkten erstaunlich leer und verlassen. Anscheinend waren die meisten Menschen, die aus der Großstadt hatten fliehen wollen, tatsächlich abgezogen, und die übrigen Einwohner hielten sich größtenteils an die Aufforderungen der Polizei, in ihren Wohnungen zu bleiben. Fast nur Fußgänger und Radfahrer waren unterwegs, und dafür patrouillierten verdammt viele Polizeiautos. Wie früher am ersten Mai stand an jeder Ecke ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei, und alle fünf Minuten befahl ihnen ein missmutiger Polizist, nach Hause zu fahren. Entnervt erklärten die drei Freunde jedes Mal, dass sie genau das vorhatten.
Auf der Oberbaumbrücke staute sich der Verkehr unerwarteterweise, und sie kamen selbst per Rad nicht weiter, denn ein Polizeikordon sperrte die Ausfahrt ab. Max schob sein Fahrrad und bemerkte eine Vibration im Boden, die sich fast wie ein leichtes Erdbeben anfühlte. Erst als er sich zwischen den Schaulustigen hindurch einen Weg gebahnt hatte, fiel ihm die Ursache auf: Eine gewaltige Militärkolonne zog, soweit sich das im Licht der Laternen überblicken ließ, die Stralauer Allee hinunter und bog hinter der Brücke auf die Warschauer Straße ab. »Jesus Christus!«, kommentierte er den Anblick und legte den Arm um seine Freundin, als könne er sie auf diese Weise beschützen. Ein Panzer nach dem anderen rollte vor der Absperrung an ihnen vorüber. Soviel zum ›Wirtschaftskrieg‹, dachte er sich.
»Die Chinesen?«, flüsterte Nina ungläubig.
»Das sind deutsche Leopard 2«, erklärten die beiden Freunde fast gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen. Wer mochte da noch behaupten, dass Ego-Shooter nicht zur Allgemeinbildung beitrugen? Die Kolonne fuhr ohne Licht, was den unheimlichen Eindruck verstärkte, und der Lärm und Gestank war ohrenbetäubend. Die gesamte Brücke erzitterte, und Max fragte sich, ob sie für diese Art von Schwingungen überhaupt ausgelegt war. Der schier endlosen Reihe von Panzerfahrzeugen mit allerlei gefährlich wirkenden Aufbauten folgten überlange Sattelschlepper, auf deren Anhänger jeweils zwei riesige Abschussrohre montiert waren.
»Ich glaube, das sind Patriot-Flugabwehrsysteme«, flüsterte Nina beinahe ehrfürchtig. Sie hatte die Bilder früher einmal im Fernsehen gesehen.
»Habe ich mir kleiner vorgestellt.«
Schaulustige drängten sich vor den Absperrungen und viele von ihnen filmten die Kolonne mit ihren Handys. Blitzlichter erhellten ab und dann die gespenstische Szenerie. Eine unheimliche Angst kroch in Max hoch; unwillkürlich verstärkte er den Griff um Ninas Hüfte, als den raketenbestückten Sattelschleppern Dutzende von Militärlastern in Tarnfarben folgten, auf denen bewaffnete Soldaten saßen. Sie trugen Gasmasken und ABC-Schutzanzüge.
»Scheiße, das ist gruselig«, murmelte Tobi, und seine Freunde stimmten ihm mit einem wortlosen Nicken zu. ›Gruselig‹ war noch eine Untertreibung. Max war froh, als die Truppentransporte in Richtung Warschauer Straße verschwanden und vergleichsweise vertrauten Raketenwerfern Platz machten, die er irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Unheimlich drehten sich ihre turmartigen Aufsätze hin und her, als suchten sie am stockdunklen Nachthimmel nach einem unsichtbaren Ziel.[Fußnote 7] Max kam der Gedanke, dass es nicht besonders vorteilhaft sein konnte, so dicht neben einem Militärkonvoi zu stehen, falls dieser angegriffen wurde. Wahrscheinlich fuhren die Soldaten deshalb auch ohne Licht.
»Sieht verdammt nach Krieg aus«, meinte Tobi, als endlich die letzten Tanklastzüge, Mannschaftswagen, und noch ein paar Panzer an ihnen vorbeigerollt waren. Polizisten bauten die Absperrungen wieder ab. Die Schaulustigen löcherten sie mit Fragen, aber wie schon am Nachmittag war es offensichtlich, dass die Beamten nicht mehr als jeder andere wussten. Sie wirkten müde und gereizt. Floskelartig wiederholten sie dieselben Phrasen, dass die Bürger bitte nach Hause zurückkehren und abwarten sollten, dass alles in Ordnung sei – was angesichts des Militärkonvois selbst in ihren Ohren nicht sehr überzeugend klingen konnte –, und dass sie bald mehr erfahren würden.
Erst um drei Uhr nachts kamen sie in Max’ Wohnung an. Der Fernseher zeigte nach wie vor das alte Testbild mit der Nachricht ›technische Störung‹, sogar die Pausenfüllermusik hatte sich nicht geändert. Max lud Tobi ein, bei ihm zu übernachten, was nach diversen Kneipentouren schon mal vorkam. Bevor Max und Nina sich ins Schlafzimmer verdrückten und der Physiker es sich auf den Fernsehpolstern bequem machte, füllten sie tatsächlich noch die Badewanne mit Wasser, wie man das aus verstaubten Katastrophenschutzfilmen kannte, und kamen sich dabei ein wenig albern vor.
Mit einem abschätzigen Blick inspizierte Nina den Zustand der Wanne und stellte klar: »Davon trinke ich nichts!«
»Wenn du richtig Durst hast, schon«, wandte Tobi ein.
»Lieber verdurste ich ...«
Max verteidigte sich lahm: »Kinder, darin wollten wir vor Kurzem noch Bier brauen.«
»Davon hätte ich ganz sicher nichts getrunken!«, konterte sie und wischte mit den Fingern über einen grauen Schmutzrand, der den üblichen Wasserstand anzeigte.
»Ich auch nicht«, gestand Tobi ein, obwohl seine Loyalität normalerweise auf der Seite seines Freundes lag. Aber natürlich hatte Max recht. Wenn wirklich Krieg ausgebrochen war und demnächst kein Wasser mehr aus dem Hahn kam, dann war das bisschen Dreck wohl ihr kleinstes Problem.