Читать книгу Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte - Richard Loewe - Страница 7

***

Оглавление

Bis auf eine Unmenge von Bereitschaftspolizisten, die an jeder Ecke herumlungerten, waren die Straßen an diesem Vormittag fast menschenleer. Den Grund dafür erkannten sie, als ein Beamter sie von ihren Fahrrädern rief, noch bevor sie sich wirklich auf die Sattel geschwungen hatten.

»Wo wollen sie hin?«, begrüßte sie ein dicklicher Wachtmeister. Auf solche Anfragen reagierte Max traditionell eher empfindlich. Überhaupt galt er nicht unbedingt als Freund der Schutzpolizei. »Das geht sie doch nichts an!«, konterte er also und wollte losfahren. Aber der Polizist stellte sich ihm in den Weg. »Ja haben sie denn die Nachrichten nicht gehört? Bleiben sie erst mal zu Hause, bis wir wissen, was los ist! Das Chaos, das wir gestern auf den Straßen hatten, wollen wir nicht noch mal erleben.«

Ein zweiter Beamter gesellte sich dazu. Die Männern langweilten sich anscheinend. Vermutlich hoffte die eine Hälfte in ihnen darauf, bald Entwarnung zu bekommen und nach Hause fahren zu können, während die andere nach Aktionen mit Schlagstock- und Waffeneinsatz lechzte. Langeweile war Max’ Meinung zufolge einer der Hauptgründe für ausufernde Polizeigewalt bei Demonstrationen, und er hatte schon vor Jahren vorgeschlagen, die uniformierten Staatsdiener mit portablen Playstations und DVD-Spielern auszustatten, um das Problem in den Griff zu bekommen. Natürlich hatte niemand auf ihn gehört, was angesichts der Tatsache, dass er sich nur mit Tobi darüber unterhalten hatte, nicht allzu sehr verwundern mochte.

»Wir können gehen, wohin wir wollen«, stellte er trotzig fest. »Ich kenne meine Rechte!«

Die Polizisten warfen sich unschlüssige Blicke zu. Zu ihrem Leidwesen kannten auch sie die Paragrafen, und es war nun mal kein Notstand aufgerufen worden; doch dann kam einem von ihnen der rettende Einfall. »Sie dürfen natürlich gerne gehen, wohin sie möchten, aber das Rad bleibt hier!«

»Wieso?«

Der Beamte grinste hämisch. »Das Licht funktioniert nicht, genau genommen hat dieses Vehikel gar keines ...«

»Es ist helllichter Tag!«, wandte Max ein.

»... und die Bremsanlagen sind nicht funktionsgemäß«, fuhr der Polizist fort. »Sie können froh sein, dass sie dafür keine Punkte in Flensburg bekommen! Aber wenn sie’s jetzt schön langsam in ihre Wohnung zurückschieben, drücken wir mal ein Auge zu ...«

Dank seines genialen Einfallsreichtums gelang es Tobi jedoch, seinen Willen durchzusetzen. Das Rad des Physikers war, sehr zur Verärgerung der Polizisten, einwandfrei und in tadellosem Zustand, es hätte wahrscheinlich sogar eine Prüfung durch den TÜV bestanden. Vor allem aber tischte er den Schutzpolizisten eine hanebüchene Geschichte auf. Er müsse dringend in die Hardenbergstraße, um seine Schicht am Experimentalreaktor des Instituts für Optik und atomare Physik zu erfüllen. Er könne die Kollegen unmöglich im Stich lassen, die diese hochsensible und gefährliche Nuklearanlage im Keller der renommierten Forschungseinrichtung rund um die Uhr beaufsichtigen mussten. Mit Hilfe von diversen Ausweisen und Magnetkarten der Uni überzeugte er die Beamten, dass die vollkommen erlogene Geschichte der Wahrheit entsprach, und sie ließen ihn ziehen.

Max hatte es da schwerer und er sah sich gezwungen, das Vorhaben, zum Supermarkt zu radeln auf Eis zu legen, und statt dessen wieder den Spätkauf zu bemühen. Nachdem er sein Rad im Hinterhof abgestellt hatte, eskortierten ihn vier gelangweilte Bereitschaftspolizisten, wie man sie sonst vor allem bei Demonstrationen zu Gesicht bekam, ganz höchstpersönlich die fünfzig Meter zu Knolles Geschäft, wo der Ladeninhaber wie am Vortag hinter der Theke stand, als habe er sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, und ihn mit dem üblichen, leicht spöttischen Spruch begrüßte: »Was darf’s denn sein?«

Leider war die Auswahl nicht mehr allzu groß. Normalerweise stapelten sich in dem kleinen Laden neben Kisten mit Spirituosen ganze Türme billiger Konserven, doch jetzt waren die meisten von ihnen schon ausverkauft. Auch Wasser und andere Getränke waren längst aufgebraucht. Schließlich zog Max mit acht Tüten Kartoffelchips und Erdnussflips, mehreren Gläsern Spreewälder Gewürzgurken, einer Dose eingelegter Pfirsiche, einer Fassbrause, einer Flasche Berliner Weiße, und immerhin ein paar Packungen Spaghetti Mirácoli wieder ab.

»Meine Freundin ist schwanger«, erfand er aus dem Stegreif, als die Polizisten vor dem Geschäft auch noch neugierige Blicke in die Tüten warfen. »Was die da alles in sich reinstopfen ...«

Argwöhnisch sahen sie ihm hinterher, als ließe sich aus Spaghetti und eingelegten Pfirsichen eine Bombe basteln.

Tobi kam erst Stunden später am Nachmittag zurück und berichtete, wie es ihm ergangen war. An jeder Ecke war er kontrolliert worden, jedes Mal hatten ihn die Beamten nach Hause geschickt, und jedes Mal hatte er seine Geschichte wieder erzählt. Jedes Mal hatten sie ihn schließlich doch durchgelassen. Mit seinem Aussehen, der Halbglatze und der kleinen runden Brille musste man ihn einfach für einen Physiker halten, der irgendwelche wichtigen Versuche überwachen sollte, und sorgsam gestreute Andeutungen, dass seine Tätigkeit irgendetwas mit dem Ausnahmezustand zu tun haben könnte, hatten ihr übriges getan. Auf dem Rückweg allerdings hatten die Beamten darauf bestanden, dass er schnurstracks zu seiner eigenen Wohnung fuhr, die auf seinem Ausweis dummerweise vermerkt war, und so hatte der eher unsportliche Physiker sie kurzerhand abhängen müssen. Glücklicherweise waren die Polizisten ziemlich faul, an jeder Straßenecke stand ein Wagen, und so überließen die Männer von der ersten Kreuzung die Verfolgung ihren Kollegen von der nächsten, und so weiter, bis Tobi erfolgreich an seinem Ziel angelangt war.

»Unglaublich!«, rief Nina, als er die Geschichte beendet hatte. Vermutlich zurecht wies sie darauf hin, dass es vollkommen verboten war, Leute in ihrer Bewegungsfreiheit so massiv einzuschränken, solange gar kein offizieller Notstand ausgerufen worden war. Max hingegen sah die Sache lockerer. In gewisser Weise konnte er die Weißmützen verstehen. Sie wussten nicht, was los war und mussten vom Schlimmsten ausgehen. Dafür schienen sich die Beamten eigentlich ganz erträglich zu verhalten.

»Warum hast du denn nun ins Institut müssen?«, erkundigte er sich neugierig.

»Ha!«, rief Tobi triumphierend und holte aus seinem Rucksack ein kleines, kastenförmiges Geräte, mit dem über ein Spiralkabel ein langer Stab verbunden war. »Ich habe uns einen Geigerzähler besorgt!«

»Sie haben ihn dir einfach gegeben?«, wunderte sich Nina.

Die beiden Freunde warfen sich einen verschwörerischen Blick zu. Für eine Studentin der Politologie wirkte sie ab und dann doch ziemlich naiv.

»Ich habe mir die Geräte ausgeliehen«, erklärte der Nachwuchsphysiker, und ergänzte: »Das ist kein Problem.« – Was sogar der Wahrheit entsprach, obwohl Nina ihm nicht wirklich glaubte. Es war erstaunlich, wie wenig an der Uni auf Sicherheit gegeben wurde. Solange es sich nicht gerade um waffenfähiges Plutonium handelte, konnte ein Mitarbeiter des Institutes mitnehmen, was er wollte. Eine einfache Unterschrift reichte aus, und niemand kontrollierte so richtig, wann die Sachen wieder zurückgebracht wurden, falls sie nicht zufällig dringend gebraucht wurden. Und Tobi hatte in weiser Voraussicht die eines Konkurrenten aus dem Kolloquium gefälscht, der sich mit Quantenschleifengravitation beschäftigte. Er schaltete den Apparat ein, der sofort laut zu knarren begann. Seine Freunde zuckten zusammen.

»Wir sind verstrahlt!«, rief Max, dessen lebhafte Fantasie ihm mitunter Streiche spielte. Er fühlte sich schon strahlenkrank, schwach und ausgelaugt. »Deswegen sagt uns niemand, was los ist! Die Stadt ist abgeriegelt und sie lassen uns einfach krepieren!«

Sein Freund hob die Brauen mit einem leicht spöttischem Lächeln. Er justierte den Regler des empfindlichen Gerätes und das Knattern ließ nach. »War bloß zu fein eingestellt. Keine Strahlengefahr.«

Er hielt den Stab des Geigerzählers in die Luft und hantierte an dem Einstellungsknopf herum, bis ein gleichmäßiges Knack-Knack-Knack ertönte, das Max fast verdächtiger als der laute Warnton vorkam. Sein Freund las auf dem Kasten die digitale Anzeige ab und runzelte die Stirn.

»Es knackt immer noch!«, stellte Nina verängstigt fest. »Wir sind also doch verstrahlt, oder?«

Der Physiker schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, das ist nicht gefährlich. Der Wert liegt vielleicht etwas über dem üblichen Niveau, aber ich glaube das geht in Ordnung.«

»Was meinst du damit, du ›glaubst‹«, entgegnete Max mit Panik in der Stimme, wobei er sich mit beiden Händen aufgeregt durch die Dreadlocks fuhr. »Du weißt es nicht? Wie bist du eigentlich durch deine Prüfungen gekommen?«

»Ja gut, ich bin mir nicht ganz sicher«, erwiderte sein Freund gereizt. »Nur, weil ich Physik studiert habe, weiß ich auch nicht alles! Wenn überhaupt ist die Gamma-Strahlung jedenfalls nur leicht erhöht, weit unter dem Grenzwert.«

»Na toll ... was für eine hilfreiche Antwort! Die gleiche hätten wir von den Behörden bekommen.«

»Wieso weißt du eigentlich nicht, was der normale Wert ist?«, hakte Nina nach. »Lernt man so was nicht als Physiker? Und woher willst du wissen, dass die Strahlung ungefährlich ist, wenn du den gar nicht kennst?«

Mit einem lauten Seufzen schaltete Tobi das Gerät wieder ab. Normalerweise erklärte er die einen oder anderen physikalischen Fakten selbst blutigen Laien wie seinen Freunden gerne, obwohl sie ein Integralzeichen nicht von einer Quadratwurzel unterscheiden konnten. Diesmal aber war sogar er ein bisschen genervt. Schlafmangel und die Ereignisse des vergangenen Tages zehrten an ihm, und vor allem ärgerte er sich über seine eigene Dummheit. Er hätte ein Buch über Nuklearphysik oder wenigstens einen Ausdruck zur Sicherheit im Umgang mit radioaktiven Strahlungsquellen mitnehmen sollen, und es wurmte ihn selbst, dass er das übliche Niveau der Hintergrundstrahlung nicht im Kopf hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er nicht die geringste Ahnung, ob sie nun erhöht war oder nicht. Er wusste lediglich, dass sie voll und ganz im vertretbaren Rahmen lag, aber wie sollte er das seinen skeptischen Freunden beibringen, wenn er die Grenzwerte nicht kannte? »Die Strahlung ist okay«, erklärte er schließlich kraft der Autorität eines Doktoranden der theoretischen Physik. Wider Erwarten wirkte der Bluff.

»Ah, gut«, meinte Max wie aus der Pistole geschossen und machte sich sogleich daran, sich nach all der Aufregung erst einmal seinen Morgenjoint zu drehen. Auch Nina nahm ihm die apodiktische Aussage ab, und Tobi stellte im Stillen fest, dass seinen Freunden kein naturwissenschaftlicher Geist innewohnte. Ohne jede Begründung einfach so hinzunehmen, was man ihnen auftischte ... selbst die faulsten Studenten in den Tutorien ließen das nicht durchgehen. Er schaltete den Geigerzähler ab und grübelte über die Standardwerte nach.

Max hatte seine kleine Marihuana-Zigarre gerade liebevoll gedreht, da schrie seine Freundin so entsetzt auf, dass sie ihm aus der Hand fiel und auf den vollgekrümelten Holzdielen landete. Vor dem Fenster zogen drei grellweiße Streifen über den Himmel. Sie erinnerten an die Kondensstreifen von Flugzeugen und verliefen exakt parallel zueinander, waren jedoch so hell, dass man kaum mit bloßem Auge hinsehen konnte. Die Häuserkanten warfen scharfe Schatten.

»What the fuck!«, fluchte er auf Englisch, was er sich in Online-Computerspielen angewöhnt hatte, während Nina das Wort ›Atomraketen‹ kreischte.

So plötzlich sie aufgetaucht waren, verschwanden die Streifen wieder hinter den Hausdächern. Geistesgegenwärtig zählte Tobi mit. »Einundwanzig, einundzwanzig, einundzwanzig ...« Am Horizont erschienen drei riesengroße Rauchwolken, die verdächtig wie Atompilze aussahen. »... einundzwanzig, einundzwanzig, einundzwanzig, einundzwanzig ...«

Als er achtzehn Sekunden abgezählt hatte, ertönte ein dumpfes Grollen, das an den Donner eines Gewitters erinnerte, aber mindestens zehnmal lauter war. Fensterscheiben zerbarsten, Fenster und Türen erbebten, ja der ganze Boden schien wie bei einem Erdbeben zu wackeln. Der Lärm war ohrenbetäubend. Max schloss die Augen und erwartete, jeden Moment in einen radioaktiven Feuerball aufzugehen. Dann war die Druckwelle vorüber. Hunderte von Alarmsirenen und Autohupen auf der Straße gaben ein schrilles Konzert von sich, das zusätzlich an den Nerven rieb. Er hörte ein Pfeifen in den Ohren, das glücklicherweise bald wieder nachließ. Als DJ und audiophilen Plattensammler legte er auf sein Gehör einigen Wert. Eilig nahm er bestand auf. Die Fensterscheiben im Schlafzimmer waren in tausend Stücke zersplittert, die sich allesamt im Bett verteilt hatten, aber seinen Freunden schien es gut zu gehen und die Fenster im großen Zimmer waren bloß aufgesprungen und ganz geblieben. Die Druckwelle hatte seinen Joint weggepustet! Mit zitternden Händen hob er ihn vom Boden auf und zündete ihn an. Dann half er Nina auf. »Ist alles Okay?«

»Ja«, murmelte sie benommen und nahm dankbar einen Zug, als spende er puren Sauerstoff. Verschämt wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht und meinte fast zornig »Ich bin manchmal blöd, muss wegen jedem Scheiß heulen.«

»Naja«, gestand ihr Freund ein. »Atomkrieg ist ja an sich schon ein Grund ...«

»Das waren keine Atomwaffen!«, meldete sich Tobi zu Wort. Ihm war vor lauter Schreck die Brille von der Nase gefallen, aber sie war heil geblieben.

»Keine Atomraketen?«

»Ganz sicher nicht«, beruhigte ihn der Physiker und hoffte, auch diesmal wieder die nötige Autorität auszustrahlen. »Sonst wären wir jetzt nämlich alle blind!«

»Coolio«, erwiderte Max hocherfreut. Er hatte sich schon auf einen langsamen, qualvollen Strahlentod eingestellt. »Scheint heute unser Tag zu sein. Will jemand Chips und ein Bier?«

»Später«, murmelte Tobi, rückte sich die Brille zurecht und betrachtete nachdenklich den Himmel. »Sag mal hast du eigentlich auch Schreibzeug in deiner Bude?«

Max kramte in seinem Regal herum und warf ihm einen Notizblock mit der Frage hin, ob er sein Testament schreiben wolle. Der Doktorand ignorierte den Scherz und begann, das Papier mit Formeln zu füllen. Er hatte einen Verdacht, den er lieber dreimal prüfen wollte, bevor er ihn irgendjemandem präsentierte. Ohne Beweise würde die Hypothese, die er gerade aufgestellt hatte, einfach zu unplausibel klingen. Er konnte selbst kaum daran glauben und suchte nach einem Fehler.

Invasion der Außerirdischen in Berlin-Mitte

Подняться наверх