Читать книгу Das Labor des Alchemisten - Richard Rötzer - Страница 10
5. Kapitel
Оглавление»Simon, der Magier, schwang sich in die Lüfte, und voller Hoffart schraubte er sich höher und höher, bis er durch das Wirken Sankt Peters jähen Absturz erlitt. Nur ein Dämon hatte ihm zum Flug verhelfen können, denn eines Menschen Platz ist auf der Erde.«
Der Gesellpriester führte in seiner Predigt der ungeduldigen Gemeinde dies abschreckende Beispiel vor Augen, um am Weihefest des Gotteshauses die Macht des Apostelfürsten zu preisen. Zweifellos aber wollte er damit auch den bevorstehenden Hochseilakt mißbilligen, ihn als Blendwerk des Versuchers anprangern und vor den Spielleuten warnen, die er für des Teufels Gehilfen hielt. »Satan trägt viele Masken, ist allgegenwärtig, und sein Ruch dringt bis in den Tempel des Herrn vor!«
Beschwörend wie ein Menetekel stand er da, ein flammendes Bild der Züchtigung und Askese, dessen schlichter Rock zwar mehrfach geflickt war, dessen Überzeugung aber keinen Makel ertrug. Der sorgsam beschnittene Haarkranz, aus dem die Tonsur blitzte wie ein Ei im Krähennest, stand in scharfem Kontrast zu der bleichen Gesichtsfarbe. Seine stechenden Augen glühten und verbreiteten dennoch Kälte. Sein schmallippiger Mund bemäkelte die Vergnügungswut, geißelte wütend heidnisches Zauberwerk und Aberglauben und beschwor das Nahen des Antichrist.
Und kaum hatte er den Segen gesprochen, drängten alle um die Wette auf den Marktplatz hinaus, denn das sehnlich erwartete Kunststück war die größte Attraktion seit langem. Einen Tanz auf niederem Seil, in kurzer Entfernung zwischen zwei Pfosten gespannt, das hatte man schon öfter bestaunen können. Aber das hier war ungeheuerlich. Hoch über den Köpfen der Schaulustigen überspannte ein dickes Tau die Schmalseite des Marktplatzes. Die Spielleute, denen das Sakrament ohnehin verwehrt war, hatten es während der Messe schon fest verankert.
Die Honoratioren nahmen die besten Plätze an den Fenstern des Rathaussaales ein, während ämterlose Vornehme in den Erkern der Steinhäuser des Ritters Gollir hingen oder die Laubengänge der umliegenden Häuser säumten. Die Masse drängte und schob sich so dicht auf dem Platz vor dem Rathaus, daß selbst unterhalb des Seils von oben kein Fleckchen Erde zu sehen war, als habe der argwöhnende Pfaffe soeben glatt in den Wind gesprochen.
Der Fronbote versuchte wichtigtuerisch mit seinem Stab die Menge zu teilen, wie einstmals Moses das Meer, aber erst den Richtersknechten gelang es mühsam, dem murrenden Publikum einen schmalen Korridor abzutrotzen. Zwei gewitzte Hausierer, die an das Geschäft ihres Lebens geglaubt und verbotenerweise ihre Kraxen mitgebracht hatten, wurden umgehend von der Menge bekehrt und versuchten verzweifelt, ihren Kram zu retten. Nur selbstgeschlungene Backwaren aller Art fanden vor den Hauseingängen reißenden Absatz.
Endlich erscholl Musik, und das rassige Spielweib wirbelte eine feurige Tarantella, an deren Ende sie graziös nach oben wies, wo Hein Wackel fröhlich winkend auf der Laubenbrüstung stand. Schon riefen ein paar besonders Forsche: »He, ganz hinauf, aufs Seil mit dir!«
Aber Hein griff sich erst unbeirrt zwei lange Stangen, die neben ihm lehnten, schwang sich leichtfüßig auf die Trittstützen und stelzte lachend von der Hauswand weg. Nach einer kurzen, noch spärlich beklatschten Runde, kehrte er zurück. Dort wendete er die Stangen, stieg auf die höher angebrachten Fußstützen und verband mit einer Schnur das obere Ende der Stelzen fest mit den Schenkeln. So hatte er zwar die Hände frei, aber das Laufen war ein Stück schwieriger und gefährlicher geworden.
Er hakte einen Beutel am Gürtel fest, ließ sich einen Strauß wilder Rosen reichen, machte kehrt und stolzierte auf das Haus gegenüber zu. Und wie er das tat: Einem Fürsten gleich, der gönnerhaft auf sein Volk herabsieht, stand er auf seinen Stelzen, suchte sich die schönsten Damen gezielt aus und warf ihnen anmutig eine Rose zu. Und weil sich jede für die Schönste hielt, gerieten seine Stelzen in arge Bedrängnis.
Inzwischen war Leben in die Menge gekommen, und als er auf dem Rückweg in den Beutel griff und mit beiden Händen Süßigkeiten und Naschwerk unter die Leute warf, da hatte er ihre Herzen bereits erobert.
Wieder drüben angekommen, warf Benjamin ihm eine lange Stange zu, auf der eine feuerrote Gugel steckte. Hein fing sie elegant auf, schwenkte sie wie ein Narrenzepter und stakste wieder los. Es war aber nicht bloßes Spiel, denn da er selbst mit hochgereckter Stange das Seil nicht annähernd berührte, führte er den Zuschauern auf lockere Weise nochmals vor Augen, wie hoch und gewagt der folgende Seiltanz war.
Plötzlich fingen die Leute an zu lachen, und das Lachen ging in fröhliches Gekreische über. Von der Dachluke aus war das Äffchen auf das Seil gesprungen und hangelte sich dort entlang, dem Stelzengeher hinterher. Es rotierte voller Übermut um das leicht schwingende Seil, und Hein tat so, als wolle er das Tier mit der Stange verscheuchen. Aber das muntere Kerlchen krallte sich mit Zehen und Schwanz fest, hing kopfüber und versuchte nun seinerseits, die Stange zu erhaschen. Und – zack – hatte es die Gugel gepackt und mühte sich, sie über den Kopf zu ziehen, was mißlang. Schließlich wickelte es geschickt die Haube wie einen Schal um den Hals und turnte unter dem Gejohle der Menge zurück. Hein und das Äffchen applaudierten sich gegenseitig und das begeisterte Publikum beiden. Das war ein Spaß nach ihrem Geschmack.
Hein Wackel drehte sich auf seinen Stelzen, winkte nach allen Seiten und deutete eine Verbeugung an und – Himmel, was war das! – schwankte … schwankte immer mehr, fing an heftig mit den Armen zu rudern und kippelte nach vorne … neigte sich, immer weiter … und bevor er unter den Entsetzensschreien auf den Boden schlug, sprang der Schalk, der zuvor schon die Schnüre gelöst hatte, in die sicheren Arme Fridliebs und warf von dort aus grinsend Kußhände. Die Menge tobte vergnügt.
Während Hein unter allerlei Verrenkungen ins Haus tänzelte, rang Fridlieb mit gekünstelter Stimme und gespreizten Worten um Aufmerksamkeit: »Hochverräährtes Publikum …«
Er kündigte das Einmalige und Unerhörte an, die größte Schau unter der Sonne, und dankte den ehrenwerten Stadtvätern für die noble Permissei dieses spectaculum mirabile, wiewohl Hein Wackel ja auch schon zwischen den Türmen der Ewigen Stadt …
Gleich darauf erschien der König des Seiles in der Dachluke, und angefeuert und beklatscht, verbeugte er sich anmutig. Er hielt sich am Rahmen fest, warf elegant die Beine zur Seite, ging federnd in die Knie, dehnte und streckte sich und gab schließlich das Zeichen, daß er bereit sei.
Fridlieb stellte sich mit dem Rücken zur Hauswand, und Benjamin erklomm seine Schulter. Balthasar schleppte eine endlos scheinende Stange herbei und reichte sie an Benjamin weiter, der sie Stück für Stück nach oben stemmte, bis Hein, der sich weit herabbeugte, sie erreichen konnte. Er zog sie hoch bis zur Mitte, legte sie quer und verharrte dann in einem Augenblick höchster Konzentration.
Die Spielleute forderten absolute Ruhe, die Rothaarige schlug einen Wirbel auf dem Tamburin, und endlich setzte der Künstler den ersten Fuß aufs Seil … zunächst nur mit den Zehen … tastend, fühlend, dann mit der Sohle … vorsichtig prüfend, federnd … Langsam verlagerte er das Gewicht nach vorne, zog behutsam den zweiten Fuß nach … setzte ihn schließlich vor den ersten und befand sich in luftiger Höhe frei auf dem Seil.
Es war mucksmäuschenstill, und dem frechen Besserwisser, der eben noch tönte, mit einer Stange zum Äquilibrieren sei das Ganze doch keine Kunst, wurde rasch die Faust angedroht.
Hein Wackel strebte langsam und gemessen, aber sicher und Fuß vor Fuß setzend der Mitte des Seiles zu. Die Sohlen seiner ledernen Schlupfschuhe waren etwas angerauht und er fand guten Halt. Dort, wo das Seil am ehesten zu schwingen drohte, ging er in die Knie. Die Beine schienen zu zittern, schlugen nach beiden Seiten aus, doch Hein Wackel grinste. Er schien dies gar mit Absicht zu tun, hielt einen Augenblick inne, bis er die Unruhe ausbalanciert hatte. Dann senkte er den Kopf, hob die Stange drüber hinweg und legte sie sich in den Nacken, fuhr mit den Händen vorsichtig daran entlang, bis die Arme ganz gestreckt waren … und ließ los.
Nun war die Menge nicht mehr zu halten. Jubel brandete auf, Hunderte Arme reckten sich in die milde Herbstsonne und schwenkten bunte Tücher. Der Künstler lächelte nach unten und winkte gelassen mit den Fingerspitzen. Es sah alles so leicht aus, und die Damen fanden ihn umwerfend.
Aber Hein Wackel hatte noch keine Zeit für schmachtende Blicke. Er erhob sich langsam und lief den schwankenden Pfad zielstrebig zu Ende. Kurz vor der Aufzugsgaube warf er Fridlieb, der nach oben gestiegen war, die Stange zu, lief kühn die letzten Schritte freihändig und sprang mit einem Satz auf sicheren Boden.
Das Publikum raste und verlangte zugleich nach mehr. Und Hein war bereit, es ihnen zu geben. Er forderte Ruhe und erbat sich dann von einer der Damen einen Schal. Balthasar wählte mit launiger Pantomime aus der Vielzahl der Angebote aus, knotete in das bevorzugte Objekt einen Stein und warf es dem in der Gaube tänzelnden Charmeur zu. Der entflocht es, schnupperte mit Hingabe an dem seidigen Schal und tat so, als ob er verzückt aus dem Fenster fiele, wobei nicht nur die Verehrerinnen kreischten.
Was hatte der Schalk vor? Das … aber nein, doch! Es konnte nicht wahr sein: Er verband sich mit großer Geste die Augen, hielt sich an der Stange in Fridliebs Händen fest und tastete sich rückwärts auf das Seil vor – rückwärts und mit verbundenen Augen! Gütiger Gott!
Die Spielleute riefen um Ruhe, aber ein Gemurmel und Raunen blieb. Bei aller Sensationslust – war solch Tollkühnheit nicht eine Herausforderung des Schicksals, eine lasterhafte Versuchung göttlicher Langmut? Andererseits, er soll ja selbst in Rom …
Hein Wackel übernahm die Stange, stand nun wieder völlig frei und wandelte auf dem Seil, das viele Schaulustige mit einem Mal für so tückisch hielten wie des Teufels Schwanz.
Skepsis auf den Gesichtern wich peinlicher Beklemmung, Unbehagen steigerte sich in schweißtreibende Angst. Die zuvorderst Stehenden drängten unbewußt zurück, Nägel krallten sich ins Fleisch, während graues Gewölk den Marktplatz verdüsterte.
Doch Hein Wackel schritt aufrecht und unaufhaltsam voran, hatte die Mitte schon fast erreicht. Die Menge fieberte.
»Er schafft es … jaaaa … hilf ihm, Herr! Er schafft es!« Nur noch wenig mehr als die Hälfte. Dieser Teufelskerl!
Plötzlich wildes Schreien, tierisch und markerschütternd. Unruhe ergriff das Publikum, das angsterfüllt nach allen Seiten wogte. Panik drohte. »Katzen!« schrie einer. »Es sind bloß Katzen!«
Der Ruf pflanzte sich fort, gefolgt von befreiendem Gelächter. Und dort, wo die Menge auseinanderstob, fegten die wildgewordenen Biester kreischend hindurch. Die armen Kreaturen liefen verzweifelt um ihr Leben. Rohlinge hatten ihnen Werg und Stroh an den Schwanz gebunden und es entzündet. Zum Glück hielten beherzte Bürger die Tiere mit Mantel oder Gugel auf und schlugen die Flammen aus, wobei ihre Sorge nicht den Katzen galt, sondern der allgemeinen Brandgefahr.
Der Spuk war noch nicht zu Ende, als erneutes Entsetzen das Publikum ergriff. Hein Wackel schwankte bedrohlich, und diesmal glaubte keiner an einen Scherz. Der Höllenlärm mußte ihn irritiert haben. Verzweifelt suchte er nach Balance, es wollte ihm nicht gelingen. Den Zuschauern stockte der Atem. Hein ließ die Stange fallen, schlug wild mit den Armen, rutschte vom Seil, und unter einem Schrei aus tausend Kehlen stürzte er in die Tiefe. Aber wie durch ein Wunder stürzte er so, daß die Beine zu beiden Seiten des Seils absackten, wodurch er zwar schmerzhaft und von Übelkeit gefolgt dem Seil aufhockte, es dafür aber gerade noch zu fassen bekam.
Das Publikum starrte gebannt. Schmerzverzerrt klammerte sich Hein, dem Äffchen gleich, an das Tau und hangelte sich mit letzter Kraft zurück zum Haus, wo ihn die Freunde in die rettende Luke zerrten.
Aufatmen! Die Lähmung löste sich in entfesseltem Beifall, der diesmal dem glücklichen Ausgang galt.
Die Vorstellung war zwar abrupt beendet, aber die Menge verlief sich nur langsam, wie zäher Sirup. In Grüppchen wurde noch heftig diskutiert, und es gab etliche, die keinen üblen Burschenstreich gesehen, sondern Schwefel gerochen und höllisches Feuer in den Augen der Katzen gesehen haben wollten.
»Laßt mich! Laßt los, sag’ ich!« Die junge Frau wehrte sich verbissen, schlug mit den Füßen aus, versuchte mit den Ellbogen zu stoßen, aber der Griff war zu fest.
»Gut so, kleine Wildkatze! Ich mag temperamentvolle Weiber«, lachte Niklas boshaft, umklammerte das Spielweib noch fester von hinten und rieb sich an ihr. Die Umstehenden glotzten lüstern.
»Gib mir einen Kuß, wenn du nicht willst, daß …«
Sie verdrehte den Kopf und spie ihm ins Gesicht.
»Verdammt!« Er fuhr sich mit der Hand über die Backe.
Die Schwarzhaarige entwand sich ihm wie ein Wiesel und zerkratzte ihm die andere Backe. Niklas fluchte, hielt noch immer ihr Handgelenk gepackt und schlug mit der Rechten hart zu.
»Es reicht!« Ein fester Griff verhinderte den zweiten Schlag. Niklas schaute verdutzt und würgte eine derbe Entgegnung unausgesprochen hinunter. Sein Widersacher, ein Mann mittleren Alters mit lichtem Haar und Fäßchenbauch, wirkte zwar eher gemütlich, aber sein Blick gemahnte zur Vorsicht. Niklas kannte ihn flüchtig von der Lände und vom Bad.
»Sie ist eine Diebin«, versuchte er sich herauszureden.
»Hat sie dich bestohlen?«
»N...nein.«
»Warum rufst du dann nicht den Eigentümer oder den Fronboten?«
»Weil … weil …«
»Hau ab, und wir vergessen die Sache!«
Niklas zögerte einen Moment, hielt aber den Blick nicht aus. Er murmelte einen Fluch, schleuderte die Hand der jungen Frau von sich und verschwand haßerfüllt im Gewühl der Leute.
Das Spielweib rieb sich die schmerzenden Handgelenke, während sie ihren Retter mit großen Augen anstarrte. Plötzlich sprang sie katzenhaft auf ihn zu, drückte einen heißen Kuß auf seine Lippen und rannte lachend davon.
»Eiei«, stichelte Peter Barth, »haben wir Frühling?«
Paul schmunzelte nur genießerisch und schob den jugendlichen Freund in die Richtung, wo schon die Tische und Bänke für den Festschmaus zusammengestellt wurden.
»Du solltest die Finger von ihr lassen«, riet Peter.
Doch der Kuß schien nachzuglühen. Jedenfalls lächelte Paul noch immer selig, und wie im schönsten Traum redete er vor sich hin: »Sie erinnert mich so sehr … sie ist wie …«
Peter ahnte Schlimmeres. »Du wirst doch um Gottes willen nicht …«
»Ach, laß mich!« reagierte Paul unwirsch.
»Sie ist ein Spielweib, eine Fahrende«, mahnte sein Begleiter.
»Hör sich einer diesen Musbengel an«, brauste Paul auf, »hat eben erst entdeckt, daß er mit seinem Ding nicht nur pissen kann und will mir schon erklären, welchen Rock ich meiden muß.«
»Sie hat außerdem gestohlen«, nörgelte Peter unverdrossen fort. »Wir haben’s beide mit eigenen Augen gesehen und …«
»Herrgott, bist du ein Mucker!« fuhr Paul ihn grob an. »Die Schlinge ist häßlicher Schmuck für einen schönen Hals. Und wenn’s dir um Gerechtigkeit geht: Soviel Hanf wird sich nicht finden, wie es Betrüger in Rock und Kutte gibt, die das Volk prellen. Also, was soll dein Gemecker!«
Peter gab es auf.
Wiltrud wartete seit Stunden. Zum vierten oder fünften Mal lief sie nun schon vergeblich zur Türe, weil sie glaubte, sein Kommen zu hören. Wahrscheinlich gönnte der pflichtvergessene Badscherer sich eben das große Spektakel am Marktplatz, das sie selbst so gerne gesehen hätte. Männer und ihre Versprechen! Bah!
Sogar ihr blaues Kleid für festliche Anlässe hatte sie hervorgeholt. Ein feiner Aufzug, wenn man zu Hause herumsaß. Genug! Sie mußte raus, sonst würde sie platzen. Sie rannte fast die Hintere Angergasse entlang. Noch vor dem Sendlinger Turm hörte sie das Lärmen der Tafelnden. Rund um St. Peter war es erdrückend voll, und selbst auf dem Kirchhof wurde getanzt und floß der Wein durch die Kehlen. Und neben Wein und Kuchen war noch in aller Munde, wie der Sensenmann bedrohlich am Seil gerüttelt hatte.
Wiltrud fand Margret und ließ sich von ihr die tollkühne Luftnummer erzählen. Und der Nachmittag versprach noch einiges an Kurzweil, wo sich heute schon die Bettler und Siechen die größte Mühe gaben, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Da waren die Stümpfe noch blutiger, die Fallsüchtigen taumelten um die Wette zu Boden und zuckten und spuckten Schaum, bis der Groschen fiel, und über Nacht schien jeder zweite auf wenigstens einem Auge erblindet zu sein.
Fridlieb und seine Truppe waren beileibe nicht die einzigen, die die Kirchweih nutzten, um vor dem Winter nochmals den Beutel zu füllen. An jeder Ecke rund um den Marktplatz jonglierte ein bunt Gekleideter mit Bällen und Keulen, stürzte sich ein Halbnackter in zerstoßenes Glas oder zwang ein Tierbändiger irgendeine armselige Kreatur zu widernatürlichen Kunststücken.
Doch die Krone der Gaukler gebührte an diesem Tag zweifellos den Teufelskerlen, die den Seiltanz inszeniert hatten und die sich jetzt wieder durch die Gassen schoben, um mit Musik und heiseren Rufen zu einer weiteren Sensation einzuladen: Diesmal wollten sie es nicht unter der Enthauptung Johannes’ des Täufers tun.
Der hohe, bunte Wagen war vor den südlichen Arkaden abgestellt und seine dem Markt zugewandte Seite als Bühne aufgeklappt. Den Einblick ins Innere verwehrte ein nachtblauer Vorhang, der mit Sonne, Mond und glitzernden Sternen bestickt war.
Auf der Lade saß Siegfried und stimmte versonnen seine Instrumente. Die Spielleute kehrten von ihrer Werbung zurück, und der weite Platz füllte sich rasch mit Publikum. Hein Wackel schien zur Freude der Zuschauer schon wieder wohlauf und vollführte akrobatische Späße. Nur Balthasar, der Mime, fehlte plötzlich, was niemanden störte.
Siegfried blies aus voller Brust die Sackpfeife und eröffnete damit das Spiel. Fridlieb trat vors Publikum, bat um Ruhe und geneigte Aufmerksamkeit und erklärte pathetisch, daß seine Truppe es sich zur hehren Aufgabe gemacht habe, an hohen Festtagen die erhabenen Mirakel der Christenheit darzustellen, um die Gläubigen zu erbauen, verstockte Sünder zu bekehren und ganz allgemein kundzutun, daß sie – obwohl Spielleute – allzeit den Lehren der heiligen Mutter Kirche folgten.
»Fangt schon an!«
Der Sänger schilderte nun in blumigen Worten und untermalt von seiner Knieharfe, wie einstmals der grimmige König Herodes ein Festmahl gab. Hein Wackel trat dabei mit geflicktem Mantel und billiger Krone auf und rollte so furchterregend mit den Augen, daß großes Gelächter entstand.
Danach blies Siegfried die Schalmei, die Rothaarige schlug das Tamburin, und plötzlich sprang das junge Spielweib durch den Vorhang und wirbelte als Salome in seidigen Schleiern und mit hellklingenden Schellen an den Füßen einen sündigen Tanz, worauf sich die Zuschauer noch dichter um den Karren scharten.
Der betörte Herodes wollte ihr nun alles gewähren, und die unzüchtige Salome forderte das Haupt Johannes’ des Täufers, was die beiden Spielleute mit großen Gesten untermalten. Fridlieb, als Henker verkleidet, wuchtete aus dem Bauch des Karrens eine riesige schwarze Kiste auf die Bühne.
Der Täufer trat auf in Gestalt des spindeldürren Benjamin. Er steckte in einer härenen Kutte, das Haar war mit Mehl sorgsam gepudert, und im Gesicht klebte ein wirrer Bart aus verfilzter Wolle. Mit einem Mal wurde es merklich ruhiger. Ein Raunen ging durch die Reihen, denn die Gestalt rührte sie an, und die Zuschauer sahen nicht mehr Benjamin, sondern den wortgewaltigen Prediger von vorzeiten.
Aber noch ehe der ein Wort sprach, trat schon der Henker hinter ihn, band ihm die Hände auf den Rücken, hob ihn mit seinen starken Armen hoch und warf ihn derb auf die Kiste.
Nicht nur die zarteren Damen hielten jetzt die Hände vor den Mund und starrten fassungslos auf den Henker, der einen Kürbis aus seinem Kittel hervorzauberte, das mächtige Schwert ergriff, und ihn mit einem einzigen Streich in zwei Hälfte teilte.
Das Publikum schrie, als sei der Kopf schon gefallen. Aber der Halsabschneider trat erst noch vor die Kiste hin, zog sich den unerschrockenen Täufer zurecht, so daß dessen Haupt über der Kante hing, und prüfte unauffällig nochmals die Kapuze der Kutte, in der die Schweinsblase mit dem künstlichen Blut versteckt war.
Siegfried blies daraufhin die Sackpfeife aus Leibeskräften und erzeugte mit Unterstützung der übrigen Spielleute einen Höllenlärm, und während der Henker unerbittlich das Schwert hob, begann Salome in einem weitschwingenden Mantel sich zu drehen und wirbelte just in dem Moment vor das Antlitz des Täufers, als der Stahl herniederfuhr. Die gebannte Gemeinde nahm den rohen Akt wie durch einen Schleier wahr. Es ging alles so rasend schnell, und nach der Dauer eines Herzschlags lag der Kopf bereits am Boden, die leere Kapuze hing schlaff über den Rand der Kiste, und ein Schwall von Blut ergoß sich auf die Bühne.
Frauen kreischten, Kinder heulten, etliche bekreuzigten sich und fingen ergriffen an zu beten und dies um so mehr, als der Henker jetzt das Haupt aufhob, es unter grausigem Gelächter vorzeigte und dann würdelos zwischen den Beinen des Geköpften deponierte, an denen die Urheberin des Übels sich soeben wieder vorbeidrehte und den Zuschauern Sicht und Sinne verwirrte.
»Aber der Herr vollbrachte ein Wunder«, tröstete der Sänger die Kleinmütigen, »und ließ das Haupt auch ohne Körper seine Herrlichkeit verkünden.« Während die Zuschauer noch ungläubig starrten, schlug der entleibte Kopf des Johannes die Augen auf und fing an Unverständliches zu reden. Das Publikum sah darin keinen Trost, denn jetzt grauste ihm um so mehr.
»Er predigt ägyptisch«, erklärte Siegfried – das Ohr mit der Hand zum lauschenden Trichter gewölbt – begeistert, »oh, und jetzt aramäisch, jetzt chaldäisch …« Und als Johannes auch noch zu grimassieren begann, da schlug der Sänger mit dem Fuß gegen die Kiste, damit das sprechende Haupt es nicht zu toll triebe.
Dann breitete er die Arme aus, blickte zum Himmel und verkündete mit Erschütterung, daß der Herr schreckliche Strafen und ein Erdbeben schickte – Fridlieb rüttelte von hinten mit aller Gewalt am Karren und aus dem Inneren erklang scheußliches Wehklagen –, bis der gebeutelte Herodes, dem Wahnsinn nahe, um Vergebung bat. Hein fegte als verrückter König über die Bühne.
»Da gab der Herr dem Herodes einen Wunsch frei und warnte ihn zugleich, daß er mit falschem Begehr sein Leben verwirke«, tat Siegfried kund, während Hein Wackel sich händeringend am Boden wälzte und das Publikum um seine Hilfe anflehte.
»Wünsch dir Gold … ja, Reichtum … ein Schloß … ewiges Leben …!«
Da sprang Herodes auf die Füße und brüllte über den Platz: »Ihr Wahnsinnigen, Ihr Pfennigfuchser, Ihr Neider und geldgeile Toren, Ihr Natterngezücht und stinkende Brut …« Und er fiel unvermittelt auf die Knie und schrie: »Ein einzig Wunsch – Herr, mach ihn wieder ganz!«
»Amen!« rief Siegfried und feuerte wild mit den Händen das Volk an, bis es vielstimmig tönte: »A-M-E-N«, und es klang wie eine Erlösung.
Dann lief er zur Kiste, auf der das Haupt noch immer munter vor sich hin sprach und lauschte – »Oh, oh! Hört, was Johannes euch aufträgt: Zur Buße und damit das Werk auch recht gelinge, sollt ihr erst dem Henker die Taschen füllen!«
Durch das abrupte Ende des Seiltanzes gewitzt, baten die Spielleute diesmal erst zur Kasse, ehe der Täufer seine heile Gestalt wiedererhalten sollte. Bis auf den Henker schwärmten sie alle aus, und die geläuterten Zuschauer spendeten reichlich. Danach hatte der Züchtiger keine Mühe, mit Hilfe geheimnisvoller Sprüche, ohrenbetäubender Klänge und der wirbelnden Salome, den mißhandelten Vorläufer des Heilands wieder zur Gänze ins Leben zu bringen.
Die begeisterten Zuschauer hätten gerne noch mehr gesehen, aber die Gaukler wußten um das Geheimnis der bekömmlichen Dosis von Wundern, und sie beeilten sich, die Kiste wieder im Wagen verschwinden zu lassen.
»Meinst du, der Henker kann wirklich …« Margret war noch immer tief beeindruckt.
»Unsinn.«
»Aber er hat doch …«
»... leichtgläubige Wesen wie dich angeschmiert«, urteilte Wiltrud nüchtern, »sonst wäre er ein Heiliger, und der da ist nicht mal Henker, sondern Spielmann, und die sind alle Schlitzohren.«
Margret schien gerade das zu beeindrucken. »Komm«, kicherte sie, »laß uns zu ihnen geh’n. Sie sollen bei meiner Hochzeit spielen.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Los, komm schon!« Margret zog Wiltrud lachend auf den Karren zu, wo Siegfried eben die Instrumente in Tücher und lederne Beutel hüllte. Er bemerkte die beiden, hielt inne und grinste übers ganze Gesicht.
Wiltrud entriß sich Margrets Hand, lief aber nicht weg, sondern richtete sich auf wie ein stolzer Flaggenmast und schritt möglichst hochnäsig geradewegs auf ihn zu. »Hattet Ihr neulich Erfolg auf der Burg, hoher Herr?«
»Einerseits«, antwortete Siegfried offen auf die spitze Nachfrage, »man hat mich nicht umgehend als Stinkfuß an die Luft gesetzt. Andererseits ward mir beschieden, daß der König im Westen im Feld steht und folglich anderes im Sinn hat als Minnesang.«
»Bedauerlich«, heuchelte Wiltrud, »dann werdet Ihr wohl bald die Stadt verlassen.«
»Keineswegs! Ich will mich als Kantor bewerben und werde hier noch gebraucht.«
»Richtig«, suchte Margret ein Fünkchen Aufmerksamkeit zu erhaschen, »Ihr müßt bei meiner Hochzeit …«
»Ihr mögt mich«, sagte Siegfried unvermittelt und ließ seine himmelblauen Augen nicht von Wiltrud, deren kurzer Triumph sich verflüchtigte.
»Wie?« stutzte sie mit hochgezogener Braue.
»Aber ja! Sonst hättet Ihr mehr gebetet.« Er grinste unverschämt und strich sich mit der Hand vielsagend übers Kinn. »Euer Wunsch nach Keuschheit kann so groß nicht sein.«
»Pfff«, fauchte Wiltrud, ließ Margret abrupt mit dem dreisten Kerl stehen und verschwand im Gewühl.
Agnes schlenderte, ihre beiden Buben an der Hand und Peter und Paul im Gefolge, von einer Belustigung zur anderen. In der Nähe des hohen Wagens, wo die Musik am schönsten klang, ließ sie die Kinder laufen. Sie hatte Lust zu tanzen, aber der Klotz neben ihr machte keinerlei Anstalten dazu und mit Paul … das war’s nicht, was sie wollte. Peter war gedanklich abwesend, verdrehte ständig den Kopf, als ob er jemanden suchte.
Niklas war in ähnlicher Weise unterwegs. Nur suchte er Streit und ein passendes Opfer. Wiltrud kam ihm da gelegen. »Tanz mit mir!« forderte er sie dörperhaft wie ein Bauernlümmel auf und zog sie mit sich fort.
Siegfried, der sie noch nicht aus den Augen gelassen hatte, stürmte ihr nach und Fridlieb und Balthasar ihm hinterher, um Schlimmeres zu verhüten.
»Laßt sie los!« forderte der Sänger drohend.
»Verzieh dich, du Harfenschinder! Ich tanze mit meiner Verlobten, wann es mir paßt.«
Siegfried stutzte einen Augenblick und suchte in Wiltruds Augen zu lesen. »Die Dame hat besseren Geschmack«, trotzte er dann und ergriff Wiltruds anderen Arm.
»Dich wird gleich der Teufel holen.«
»So wie den Hein beinahe? Das war doch dein Werk, du Saukerl!«
Wiltrud hatte es satt, zwei aufgeblasenen Gockeln als Wurm zu dienen. Es mußte ein Wink des Himmels sein, daß sie den jungen Barth entdeckte und dieser auf sie zuhielt.
»Tanzt mit mir!« bat sie hastig, ergriff seine Hand und zog ihn mitten hinein in den fröhlichen Rundtanz, der eben begann.
»Sieh mal, der mürrische Fragner und sein Weib, die scheinheilige Kuh. Da geben wir schon ein weit besseres Paar ab, meinst du nicht? … Peter?« Agnes wandte sich um … »P-e-t-e-r?«
Da wird er schwer daran kauen, prophezeite Paul, der plötzlich alleine dastand und der davonstürmenden Agnes nachschaute. Seine Backen glühten schon vom Wein. Er verordnete sich einen weiteren Becher, um der Weiber Launen klarer zu sehen. In der Nähe der Gaukler hakte sich jemand unter und hüpfte zwei, drei Schritte neben ihm her.
»Warum habt Ihr mir geholfen?«
»Oh, Ihr seid’s.« Die Spuren des Weins vertuschten, daß der alte Genießer fast ein wenig errötete. Sie hätte seine Tochter sein können. Es war ihm nicht unangenehm.
»Mußte ich doch«, erklärte er verschmitzt, »sonst wärt Ihr heute morgen ganz ohne Einnahme geblieben, und der schmierige Kunz, der alte Geizhals, kann’s verschmerzen.«
»Sie hätten mir die Ohren abgeschnitten.«
»Scheußlicher Gedanke.«
»Ihr seid ein guter Mensch.«
»Hm, manchmal«, schränkte Paul lachend ein, »geb’ mir Mühe. Wie heißt Ihr eigentlich?«
»Sophia.«
»S-o-p-h-i-a«, wiederholte er bedächtig und ließ das Wort wie Bierschaum auf der Zunge zergehen.
Sie schob ihn zielstrebig aus dem Gewühl und lockte ihn zum Anger hinaus. Er wäre dem schwarzen Engel überallhin gefolgt.
Es war eine Kirchweih wie lange nicht: voller Wunder und doch auch enttäuschend, das Füllhorn ausgießend und mit ihm auch Zwietracht, so erbärmlich und ebenso prall wie das Leben.
Als der Schlaf die erschöpften und trunkenen Bürger einhüllte, war es für einige noch nicht genug. Den fahlen Mond störten die Schreie am wenigsten. Man hätte sie für das verzweifelte Quieken einer Sau halten können, aber welcher Tölpel schlachtete schon um diese Zeit. Zudem: Was abgestochen wird, hört irgendwann auf zu schreien. Aber das Gekreische war langgezogen und schrill, schwoll ab, klang wie ein Röcheln, erstarb, dann wieder Stakkato, tierisches Brüllen …
Der alte Färber grinste im Halbschlaf und langte hinüber nach den Brüsten seiner Trud’. Er sollte sie auch mal wieder zum Singen bringen.