Читать книгу Das Labor des Alchemisten - Richard Rötzer - Страница 6

1. Kapitel

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»Ihr werdet alt, Freund Hafner«, stichelte der Nachbar mit aufgesetzter Besorgnis.

»Ist bloß die verdammte Gicht«, knurrte der Gehänselte. »Sonst wollt’ ich Euch schon zeigen, wer mehr vom Roten verträgt und die Baderstöchter juchzen läßt.«

»Schon gut«, wiegelte der Nachbar ab. Er kannte die Prahlerei zur Genüge. »Aber Ihr habt Euren Hausstand nicht mehr im Griff.«

»Was soll das heißen, häh?« brauste der Hafner auf.

»Daß Euch die Weiber im eigenen Haus auf der Nase herumtanzen. Das war früher anders.«

»Hol’s der Teufel«, fluchte der Hafner grimmig, »Ihr könnt leicht reden. Ihr habt ein Weib, das zupackt, und einen tüchtigen Sohn, während ich mit einer Tochter geschlagen bin, die ein Esel werden sollte, so störrisch ist das Biest. Von der verrückten Ahn will ich gar nicht reden.«

»Ein guter Stock hat noch jeden Esel zum Laufen gebracht.«

»Das denkt Ihr. Und von wegen alt – pah! – Ihr seid auch nicht mehr der Jüngste.«

»Wohl wahr, Meister Hafner. Eben deshalb bin ich dabei, mein Haus zu bestellen, und Ihr solltet dies auch beizeiten tun.«

»Ich kenn’ Euch, Drexl, seid ein abgefeimter Bursche. Euch geht’s nicht um die Schrullen meiner Tochter und schon gar nicht um mich. Auf Haus und Hofstatt habt Ihr’s abgesehen.«

»Was Ihr nur wieder argwöhnt«, wehrte sich der Ertappte entrüstet und dachte im stillen: Der Kerl versäuft seinen Verstand und sieht aus wie einer von den Siechen vor der Stadt, aber gerissen ist er wie eh und je.

Arnold Hafner besaß ein bescheidenes Haus an der Hinteren Angergasse gegenüber dem Roßmarkt, und das Verlockende daran war, daß der rückwärtige Hof und Garten an das Grundstück des Besuchers grenzte, dessen Behausung an der Mühlgasse lag, nahe dem Kloster der Klarissen und unweit vom Angertor.

Ainwich Drexl war besessen von der Idee, daß mit des Hafners Herd und Boden sein Anwesen von der einen Gasse zur anderen reichte, was allerhand Vorteil böte, aber er war auch gewitzt genug zu wissen, daß er das Grundstück dem sturen Hafner nicht einfach abschwatzen konnte, selbst wenn der zunehmend gebrechlich wurde und sein Sparstrumpf an Auszehrung litt. Er setzte daher auf die seit alters bewährte Taktik einer vorteilhaften Heirat.

»Ihr versteht Euch doch auf die Annehmlichkeiten des Lebens«, fuhr er einschmeichelnd fort. »Ihr könntet Eure alten Tage um so mehr genießen, wenn Ihr endlich Eure Tochter meinem Sohn zur Frau versprecht. Glaubt mir, er weiß sie zu nehmen.«

»Übergeben, nimmer leben«, knurrte Arnold.

»Dann kauft Euch eben als Pfründner ins Spital ein.«

»Freilich! Und augenblicklich könnt’ ich mich von Wein und Würfel verabschieden, um nur noch auf den Knien rumzurutschen. Das tät’ Euch so passen«, giftete der Hafner. »Hab’ lang genug den verfluchten Trübsinn meiner Alten und den Starrsinn meiner Tochter um mich gehabt. Ich will guten Trunk und Spiel und lustige Gesellschaft auf meine alten Tage. Ist das zuviel verlangt?«

»Ohne Pfennig in der Tasche ist schwer fröhlich sein«, konterte der andere ungerührt. »Ihr habt die Wahl zwischen dürftigem Auskommen und einem guten Angebot.«

»Pah! Das Luder müßt’ nur besser spuren«, erwiderte der Hafner trotzig. »Ich werd’ ihr die Flausen schön austreiben, damit sie wieder anständiges Geschirr fertigt.«

»Macht Euch nichts vor, Hafner!« tat Ainwich von oben herab. »Euer Betrieb ist so lebendig wie der Käfer auf dem Rücken, der strampelt, aber nicht mehr auf die Beine kommt.«

»Und Ihr wollt jetzt der schlaue Vogel sein, der zupickt.«

»Himmel, nein, so versteht doch! Ein schwaches Weib allein kann Euer Werk nicht fortsetzen. Und wer fragt schon nach irdener Ware? Wer sich’s leisten kann, stellt lieber den Kupferkessel übers Feuer, und Eß- und Trinkgeschirr fertigen wir Drechsler allemal billiger. Warum in Gottes Namen wollt Ihr an der schlüpfrigen Kneterei festhalten, die mancher nicht mal für ehrbar hält. Habt Ihr was gegen meinen Sohn?«

»Unsinn! Mir wär’ der Eure so recht wie jeder andere. Nur, sie sträubt sich und ist stachlig wie eine Distel. Aber vielleicht habt Ihr ja recht«, lenkte er mürrisch ein, »doch erst will alles besprochen sein und glaubt nur nicht, Ihr könnt den alten Arnold übers Ohr hauen!«

Er drohte mit seiner Krücke und versuchte sich aufzurichten, fiel aber sogleich wieder mit einem langgezogenen Seufzer auf die Bank zurück. »Verfluchtes Bein! Wiltrud!«

Er stöhnte mit schmerzverzerrter Miene und drosch jähzornig auf den Boden. »Wirst du wohl kommen! Da seht Ihr’s.W-i-l-t-r-u-d!«

»Was brüllst du so, als säß’ der Leibhaftige auf deinem Bein?«

Die beiden Männer wandten sich fast gleichzeitig der jungen Frau zu, die in der Türöffnung stand.

Sie ist nicht unbedingt eine Schönheit, taxierte sie der väterliche Freier unverhohlen, aber sie wird Söhne gebären. Ihre in den Hüften leicht schwellende Gestalt versprach Fruchtbarkeit. Sie war barfuß und trug nur ihr leinenes Unterkleid, das die kräftigen Arme freiließ. Um die Taille hatte sie zum Schutz ein grobes Tuch gebunden, an dem sie sich bedächtig die Hände abrieb. Lehmfarbene Sprenkel auf Kleidung, Armen und selbst noch im Gesicht zeugten von eifriger Arbeit und sprühender Lebendigkeit. Und zugleich erweckten sie einen Hauch unfreiwilliger Komik.

»Na endlich! Bring uns Wein!« fuhr der Hafner seine Tochter an.

»Der Bader hat’s verboten«, widersprach sie trocken und stopfte eine widerspenstige Haarsträhne unter das Tuch zurück, das sie um den Kopf geschlungen hatte.

»Hört Ihr’s? Habt Ihr das gehört?« wandte sich der Hafner schwer atmend an Drexl. »Sie hat weder Respekt vor ihrem Vater noch vor einem Gast, und ich wette, sie wird selbst dem Teufel das Maul anhängen. Dabei hab’ ich nicht mit Schlägen gegeizt.«

»Weiß Gott nicht«, bestätigte ihn die Tochter verächtlich.

»Bring endlich Wein, oder …« Er fuchtelte mit seiner Krücke.

»Wenn du dich unbedingt totsaufen willst«, maulte sie, ging achselzuckend hinaus und kehrte gleich darauf mit einem Bügelkrug und zwei tönernen Bechern wieder.

Während sie ihrem Vater eingoß, drehte Ainwich Drexl den Becher prüfend in der Hand. Er mußte zugeben, daß er vorzüglich gearbeitet, die Wandung so ebenmäßig hochgezogen und von so erstaunlicher Feinheit war, wie er es selten zuvor gesehen hatte. Vielleicht konnte er sich darüber einen Zugang zu seiner künftigen Schwiegertochter verschaffen.

»Ihr habt geschickte Hände, Jungfer Wiltrud. Wirklich, eine hübsche Arbeit.«

»Seid Ihr gekommen, mir das zu sagen?« fragte sie schroff.

»Nun ja, ich …« – der Drechsler räusperte sich verlegen – »so setzt Euch doch ein wenig zu uns.«

Sie widerstand der Aufforderung und hielt statt dessen, wie zum Schutz, den Krug mit beiden Armen vor der Brust umklammert.

»Wir... ich meine... Euer werter Vater und ich sind uns einig, daß es an der Zeit wäre, Euch vorteilhaft zu verheiraten und …«

»... da dachtet Ihr an Euren prachtvollen Herrn Sohn«, fiel sie dem Gast unhöflich ins Wort. Doch der zeigte sich eher erfreut ob ihrer scheinbaren Zugänglichkeit.

»Jaaa... ja, genauso.« Sein Gesicht ging grinsend in die Breite. »Ihr beide wärt ein schickliches Paar. Ihr paßt zusammen wie …«

»... Holz und Ton«, vollendete die Hafnerstochter unwirsch. »Schlagt’s Euch aus dem Kopf!«

»Das schließt sich doch nicht aus«, versuchte der Drechsler mit gewinnendem Lächeln die Situation zu retten. »Ihr könntet …«

»... einen Haufen Bälger großziehen, Eurem Sohn das Haus führen und die Spindel drehen«, fiel Wiltrud abermals patzig ins Wort. »Ich liebe aber meine Handwerk, und es reicht mir.«

Auf dem Gesicht des Gastes begann sich Empörung abzuzeichnen. »So könnt Ihr nicht mit mir reden. Außerdem seid Ihr schutzlos ohne Mann, und es ist schweres Brot.«

»Ich komm’ zurecht.«

»Du hast in dieser Sache nichts zu entscheiden!« platzte endlich der zornbebende Hafner heraus und fixierte seine Tochter von unten herauf mit finsterem Blick. »Du wirst den Sohn des Drechslers heiraten, aus und amen!«

»Eher geh’ ich ins Kloster!« schrie Wiltrud, knallte den Krug auf den Tisch, daß der Wein überschwappte, und rauschte erbost hinaus.

»Du wirst des Drechslers Weib!« krächzte der Alte, gefolgt von einem Hustenschwall.

»Niemals!« tönte es trotzig von draußen.

Arnold der Hafner stieß wütend seine Krücke auf den Stubenboden. »Totschlagen könnt’ ich das Miststück, jawohl, totschlagen! Aber ich schwör’s Euch, sie wird ihn heiraten. Sie wird Euern Sohn übers Jahr heiraten. Bei meinem Leben.«

»Beruhigt Euch!« suchte der Nachbar zu beschwichtigen. »Sie wird sich schon besinnen, wenn sie erst ihren Vorteil sieht.«

»Ihr kennt meine Tochter nicht!«

Gerold, der Wächter bei Unseres Herrn Tor, das Richtung Schwabing führte, rieb sich verwundert die Augen. Den ganzen Vormittag über hatten nur einige Heuwagen und Reisende den nördlichen Zugang zur Stadt passiert, so daß er eben sogar ein wenig eingenickt war. Aber das hier versprach Aufregung und ließ ihn von seiner Bank unter dem Torbogen aufspringen.

Ein Pferdekarren mit merkwürdig hohem Aufbau rollte auf ihn zu. Der Kasten war bunt bemalt und an den vier oberen Ecken mit flatternden Bändern geschmückt. Ein bärtiger Hüne lenkte das Gefährt. Hinterdrein tapste ein zotteliger Bär, mittels einer Kette durch den Nasenring an den Karren gebunden. Ihm folgten zu Fuß junge Männer in grellbunter Kleidung und diesen zwei gutmütige Maultiere, vor einen vollbepackten Planwagen gespannt. Obenauf saß die glutäugige Frau Sünde und schwatzte lebhaft mit der rothaarigen Wollust. Zuhinterst hockte auf einem schmalen Brett ein blondgelockter Jüngling, ließ die Beine baumeln, fiedelte vergnügt und sang dazwischen spaßige Reime.

Eine Schar rotznäsiger Kinder lief aufgedreht hinterher und lachte kreischend über das Äffchen, das bald vom Karren sprang und – soweit es die dünne Kette zuließ – nach Freßbarem heischte, bald sich mit seiner Beute wieder hinaufschwang und die zugeworfenen Apfelbissen und sauren Trauben gierig verschlang.

Der Torhüter bremste achtunggebietend den Zug. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?«

»Sieht man das nicht?« brummte der Hüne. »Wir sind Spielleute, kommen von da« – er zeigte mit dem Daumen gelangweilt nach hinten – »und wollen nach dort.« Er hatte das Spiel schon Hunderte Male gespielt und war seiner überdrüssig.

Gerold runzelte die Stirn. Er war gewiß gutmütig, aber so ließ er nicht mit sich umspringen, schließlich...

»Verzeiht diesem ungehobelten Klotz, Meister des Tores!« Der pfiffig aussehende Bursche neben dem Hünen sprang behende vom Wagen und direkt vor den verblüfften Torhüter hin.

»Er ist... wie soll ich sagen... er ist mehr unter Wölfen und Bären aufgewachsen, wild, ungebärdig, fast wie ein Tier. Seht ihn Euch nur an. Kreuzritter haben ihn zu Zeiten des seligen Barbarossa aus tiefsten Tiefen slawischer Wälder herausgezerrt und gezähmt. Er ist – unter uns gesagt – beinahe kein Mensch.«

Der Schalk gestikulierte wild mit den Händen und vollführte urplötzlich eine galante Verbeugung. »Gestattet, daß ich mich vorstelle: Ich bin Doktor Honorius Pomodorius Strotzvoll-von-Kokolorius, gewesener Leibarzt der Kaiserin aller Pomeranzen, Stravanzen und Extravaganzen, Heilkundiger des Orients, Erfinder des Spekulatius und Kenner aller Kräuter und Tinkturen – du liebe Güte, was seh’ ich da …«

Er strich mit den Fingern tastend über die Wangen des Torhüters und zog erst links, dann rechts die Augenlider prüfend nach oben. »Meiner Seel’, Ihr habt zwei gänzlich verschiedene Augen: ein Triefauge und ein Glanzauge. Das sagt mir, daß Eure Säfte ganz arg durcheinander fließen. Seid ehrlich: Wie steht’s mit der Verdauung? Plagen Euch nicht dann und wann …«

Er betastete mit der Linken das gewölbte Bäuchlein, während der verschreckte Gerold unsicher Zustimmung nickte.

»Auweia! Hier ist’s überdeutlich zu spüren. Ihr seid ein Glückspilz, denn durch die Weisheit Aesculaps führe ich den Wunderbalsam Theriak mit mir.« Er wandte sich um und schnipste mit den Fingern, worauf ihm der Hüne ein kleines Döschen zuwarf. »Er wird Euch augenblicklich kurieren. Steckt nur, so Ihr geplagt seid, zwei Finger voll in den … na, Ihr wißt schon, und Eure flatulae, Eure übelriechenden Winde, werden wie zarter Weihrauch mit einem Duft von Myrrhe und Rosenöl verstreichen. Nehmt nur. Von Euch fordere ich kein Geld, da Ihr uns so großmütig Einlaß gewährt.«

Beinahe hätte der verblüffte Gerold schon den Weg freigegeben, erinnerte sich aber gerade noch seiner Pflicht.

»Was führt Ihr da mit Euch?« fragte er streng.

Da sprang der blonde Jüngling vom Karren, legte die Fiedel beiseite und winkte den Wächter heran. Während der sich unschlüssig näherte, nestelte er einen Beutel vom Gürtel. »Psst, guter Mann, wir führen einen streng geheimen Auftrag durch. Man munkelt, daß unser Herr König trübsinnig geworden ist, seit ihn das Schlachtenglück verlassen hat. Ein weiser Mann hat entdeckt, daß es an den Miasmen liegt, den üblen Essenzen in der Luft. Man hat uns daher ausgesandt, von allen Wohlgerüchen des Reiches etwas einzufangen für die Gesundheit unseres Königs.«

Der gutmütige Gerold starrte offenen Mundes auf den Wagen, von dem der Sänger nun leicht die Plane anhob.

»Seht her, dort in dem Krug ist feiner Rebenduft aus der Pfalz. In jenem Ballen da ist der Weihegeruch von der Stätte seiner Wahl und Krönung zu Frankfurt eingefangen. In der großen Kiste bringen wir ihm die würzigen Schwaden von Pfefferkuchen aus Nürnberg. Ach ja, und in dem Beutel hier hat mir der Herr Bischof zu Freising einen Hauch vom ewig frischen Atem Sankt Korbinians für des Königs Kräftigung mitgegeben. Wollt Ihr ihn schmecken?«

Er öffnete vor den staunenden Augen des Wächters blitzschnell den schmalen Beutel und stülpte ihn um, wobei ein schrilles Pfeifgeräusch ertönte. »Gütiger Himmel, er ist weg. Riecht Ihr’s? Zurückgepfiffen nach Freising. O Unglück! Wollt Ihr vielleicht noch die Kiste oder den Ballen... meinetwegen. Bleibt er eben trübsinnig, unser Herr König, wenn Ihr es so wollt. Aber bitte, bitte, öffnet ruhig …«

»Um Gottes willen, laßt zu!« flehte der Torhüter. »Ich will an seinem Unglück nicht schuld sein. Fahrt zu! Los, fahrt zu!«

»Wie Ihr wünscht, edler Herr« – der Sänger verneigte sich höflich –, »wir werden Euch lobend erwähnen.«

Die Spielleute setzten unter dem Gejohle der Kinder ihren Weg in die Stadt fort. Gerold kratzte sich am Kopf und starrte ihnen nach. Für alle Fälle schickte er seinen Beisitzer zum Fronboten.

Die Gaukler platzten derweil schier vor Lachen. Durch den Spaß hatten sie eben die Erfahrung gemacht, daß selbst ein leerer Beutel von Nutzen sein konnte.

»Wohin nun?« fragte die Sünde, und der Hüne, der der Anführer war, entschied nach Gefühl: »Eines Spielmanns Weg ist selten gerade, laßt uns die Gasse zur Linken nehmen.«

Beim Heumarkt vor dem Kloster der Barfüßer gab es ziemliches Gedränge, und noch ehe die Spielleute in des Dieners Gasse Einzug hielten, folgte ihnen schon ein Rattenschwanz an Gaffern und Belustigten.

»Haltet an!« rief der Blonde plötzlich. »Dort drüben, das wird des Königs Burg sein. Ich muß euch jetzt verlassen.«

»Wie, augenblicklich? Einfach so?« fragte die junge Frau auf dem Planwagen enttäuscht: »Kannst es wohl kaum erwarten, eine neue Liebschaft zu finden, du treuloses Ungeheuer.«

»Es geht um die Kunst, meine Teure, nicht um der Liebe Freuden.«

»Aaah, das sagen sie alle«, keckerte die nicht mehr taufrische Rothaarige und offenbarte dabei eine Zahnlücke zwischen ihren vollen Lippen. »Erst schwafeln sie von Minnen und edler Kunst, dann grapschen sie unters Linnen in geiler Brunst. Seht Euch vor, ihr braven Bürgerstöchter!«

Der Hüne unterbrach ihr Gelächter und fragte in väterlicher Besorgnis: »Warum hast du’s so eilig? Die Burg läuft dir nicht davon.«

»Hast ja recht. Es ist nur... ach, ich hab’s mir eben in den Kopf gesetzt und kann’s nun kaum erwarten. Aber auf ein, zwei Tage kommt’s nicht an. Hüah!«

Auf dem großen Marktplatz inmitten der Stadt empfing sie kräftiger Fischgeruch und dichtes Treiben. Abgesehen von den Mägden und Hausfrauen, die sich mit Forellen und Stockfisch eindeckten, nahm an diesem Tag der Salzhandel den größten Teil des freien Platzes vor der jüngst vom Ritter Gollir gestifteten Kapelle ein. Und die Salzlader und Aufleger waren eben dabei, die schweren Scheiben und die Fässer mit gekörntem Salz wieder auf die Plachenwägen zu verladen. Die vorgeschriebene Zeit für Stapelzwang und Niederlegung auf dem Münchner Markt war fast verstrichen, und die Händler spornten ihre Fuhrleute an, damit sie bald die Stadt verlassen und nach Westen weiterziehen konnten.

»Ihr Tagediebe habt gerade noch gefehlt. Aus dem Weg! Seht ihr nicht, daß hier gearbeitet wird?« Die Fuhrknechte versuchten schimpfend und fluchend die Neuankömmlinge zu verdrängen.

Zum Glück durften an diesem lauen Donnerstag im September des Jahres 1320 nicht auch noch die auswärtigen Händler und Bauersleute ihr Schmalz und ihre Eier feilbieten. So hielten die Spielleute ungeniert vor den Gaden der Tuchhändler neben dem Eingang zum Rindermarkt ihre Karren an. Sie klappten eine Seitenwand des Kastenwagens herunter, stützten sie auf zwei kräftige Balken, und fertig war die Bühne.

Während der Blonde die Fiedel strich, ein anderer die Flöte blies und ein dritter das Tamburin schlug, vollführte das junge Spielweib einen wilden Tanz, um die Zuschauer zu locken, und die strömten auch sogleich in Scharen herbei. Das Äffchen schlug einen Salto nach dem anderen und applaudierte sich zum Gaudium der Gaffer zwischendurch selbst mit gefletschten Zähnen.

»Hochverehrtes Publikum!« lenkte der Hüne die Aufmerksamkeit auf sich. Er hielt fünf lange, gefährlich scharfe Messer in der Hand und erklärte, daß er diese mit Wucht und in höchster Konzentration nach der zierlichen Dame zu seiner Rechten werfen wolle. Die ältere der beiden Spielmannsfrauen knickste dabei artig und zeigte tapfer ein breites Lächeln.

»Er nimmt erst die Alte, falls er daneben wirft«, juxte einer der Umstehenden. »Einen Zahn hat’s die Hübsche schon gekostet.«

Zwei der Gaukler hielten eine senkrechte Tafel fest, auf die mit Kreide die seitlichen Umrisse einer Frau gezeichnet waren. Die Rothaarige stellte sich mutig davor.

»Seid still! Ruhe, sag’ ich! Silentium!«

Aufreizender Wirbel auf dem Tamburin, während der Werfer sich konzentrierte. Dann nahm der Hüne Maß und schleuderte blitzschnell das Messer nach der Frau. Es fuhr um Haaresbreite an ihrem Hals vorbei und steckte zitternd im Holz der Tafel.

»Aaah …« In das Raunen und die spitzen Aufschreie hinein ertönte störend ein energischer Ruf: »Aufhören! Sofort aufhören!«

Zwei Männer bahnten sich einen Weg durch die unwillig zurückweichenden Zuschauer.

»Das könnte euch so passen. Wer seid ihr?« fragte der Amtsträger barsch und ein wenig atemlos, nachdem er sich bis zum Karren durchgekämpft hatte.

»Er ist Samson, der Bär«, flunkerte ein dürres Kerlchen vorwitzig, »weil er mit Meister Petz ringt und alle Ketten zerreißt und neugierige Frager wie eine Laus im Pelz zerquetscht.«

»Sei ruhig, Benjamin!« Der Hüne fuhr dem Schwätzer mit der gespreizten Linken ins Gesicht und wischte ihn grob zur Seite. Er wußte aus langer Erfahrung, wann Späße nicht angebracht waren. »Man nennt mich Fridlieb, den Gaukler«, antwortete er ruhig, »und wer seid Ihr?«

»Ich bin Ulrich und meines Zeichens« – der Störenfried fuchtelte mit dem Amtsstab – »der Fronbote dieser Stadt.«

»Aha«, bemerkte Fridlieb lakonisch und besah sich den gestrengen Amtmann mit seinem roten Hut genauer. Der hatte sich zu seiner Unterstützung gleich einen der Richtersknechte mitgebracht, der die Hand schon bedrohlich auf den Schwertknauf legte.

»Du bist wohl toll, daß du hier mit langen und spitzen Messern herumwirfst! Weißt du nicht, daß Waffentragen in der Stadt verboten ist und Messerwerfen gleich gar? Gib sie sofort dem Knecht hier, wenn du nicht deine Hand mit verlieren willst.«

»Wichtigtuer... Spielverderber!« murrten etliche der Umstehenden. Aber mit den beiden Herren war nicht zu spaßen.

»Wir wollten nur eine kleine Vorstellung geben«, erklärte der Hüne ruhig, »um damit …«

»Nichts da!« unterbrach ihn Ulrich rüde. »Hier kann nicht jeder einfach hereinspazieren und mitten auf dem Markt freche Reden halten und dumme Späße zum besten geben. Nein, nein, Freundchen! Hier hat alles seine Ordnung.«

»Die sind ja noch humorloser als die Nürnberger«, raunte die Tänzerin dem blonden Sänger zu. »Und in dieser Stadt willst du dich niederlassen?«

»Von wo kommt ihr?« forschte der Fronbote weiter.

»Wir haben zuletzt beim Bischof in Freising gespielt«, gab Fridlieb wahrheitsgemäß Auskunft, »und kommen, um Euch zu Kirchweih Spaß und Kurzweil zu bieten. Wir sind in vielerlei Künsten bewandert und Hein Wackel« – er deutete auf einen jungen Burschen in buntem Kittel und mehrfarbigen Beinkleidern, der sich geschmeidig verbeugte –, »ist der größte Seiltänzer im Reich, der zwischen den höchsten Kirchtürmen spaziert.«

Zur Bekräftigung breitete er beide Arme aus, als könne er dadurch St. Peter mit den Türmen von Unserer Lieben Frau verbinden. Und Benjamin stieg gewitzt in den Karren, zerrte das Ende eines dicken Taus hervor und schlang es sich um die Schulter. Ein Jongleur tat es ihm gleich, und Hein Wackel sprang elegant auf das durchhängende Seil, schaukelte verwegen und warf übermütig Kußhände ins Publikum.

Die Menge johlte begeistert und forderte lauthals und vielstimmig: »Wir wollen ihn auf dem Seil sehen! Los, spannt das Seil!«

Ulrich gebot humorlos mit beiden Händen Einhalt und entschied: »Das will alles erst genehmigt sein. Darüber hat der Rat zu befinden. Gebt jetzt den Markt frei und geduldet euch!«

»Wie lange dauert das?« fragte die Tänzerin vorlaut.

»Mit Glück bis morgen. Morgen tritt der Rat wieder zusammen.«

Die Spielleute fügten sich ins Unvermeidliche, und da es ganz offensichtlich nichts mehr zu sehen gab, zerstreute sich die Menge in der Hoffnung auf ein Spektakel am kommenden Tag des Herrn.

Nur der Fronbote stand nach einer Weile noch immer unschlüssig neben dem Karren der Gaukler, so daß Fridlieb fragte: »Gibt’s noch irgendwas?«

»Ihr... ihr habt da so ein Mittel …«, druckste der Amtmann herum, »das gewisse Unpäßlichkeiten beseitigt. Du weißt schon. Möglicherweise …«

»... könnte es auch andere Unannehmlichkeiten beseitigen«, ergänzte Fridlieb mit wissendem Grinsen, »verstehe.« Er kramte aus dem Wagen ein Döschen Wunderbalsam hervor und drückte es dem Fronboten mit besten Wünschen in die Hand. »Eins noch: Wo können wir lagern?«

»In der Stadt auf keinen Fall. Draußen, auf der Spielwiese vor dem Angertor, da könnt ihr eure Zelte aufschlagen.«

Wütend rannte sie aus dem Haus. Die Sonne stand tief im Westen und ließ die hölzernen Giebel in warmen Farben aufleuchten. Aber Wiltrud hatte keinen Blick dafür und dies nicht nur, weil das linke Auge sichtlich anschwoll, obwohl sie einen Lappen mit Schafgarbe dagegen hielt. Sie hatte genug, ein für allemal. Diesmal war er zu weit gegangen. Sie wünschte ihren jähzornigen Vater zum Teufel und erschrak nicht mal bei dem Gedanken.

»Wiltrud!«

O nein! durchfuhr es sie. Das hatte gerade noch gefehlt.

»Wiltrud! Komm schnell, bitte!«

Was blieb ihr anderes übrig. Das aufgeregte Stimmchen gehörte Margret Polmoser, der Tochter der Beutlerin von nebenan, die ihre einzige Freundin war. Ergeben machte sie kehrt und ging die paar Schritte zurück.

»Die Nahterin war eben da. Ich muß es dir unbedingt zeigen«, sprudelte Margret vor Glück. »Komm rein!« Erst in der Stube nahm sie das Pech ihrer Freundin wahr. »Oh, Wiltrud, was ist mit deinem Auge? Was ist passiert?«

»Hab’ mich gestoßen«, wehrte die Hafnerin ab.

»Sieht ja schlimm aus. Soll ich …«

»Nein, laß nur! Es geht schon.«

Die quirlige Margret war auch schon bei der Truhe und entnahm ihr fast weihevoll einen Packen feinsten Stoffes. Sie entfaltete das obere Teil und hielt es sich vor den schlanken Körper: Ein Kleid im frischen Grün der jungen, hoffnungsvollen Liebe, das an den Seiten eng geschnürt wurde und über der Brust schon fast verwegen ausgeschnitten war. Die bauschigen Ärmel in strahlendem Weiß trugen am Unterarm eine enge Knopfleiste.

»Na, was sagst du?« Margret strahlte übers ganze Gesicht und erwartete nicht wirklich eine Antwort in der Gewißheit, der Welt wundervollstes Brautkleid zu besitzen.

»Sieh nur, es hat eine kleine Schleppe. Und jetzt: aufgepaßt!« Sie hob das andere Stück hoch. Es war ein waidgefärbter Surkot in tiefem Blau, das trefflich mit der Farbe des Kleides harmonierte.

»Schau dir den Schnitt an!«

»Etwas wenig Stoff«, bemerkte Wiltrud spröde. »Die Nahterin hat entweder gespart oder dich übers Ohr gehauen. Bist ja auch schier blind vor Glück.«

»Aber das ist es doch gerade«, klärte Margret die schwerfällige Freundin auf. »In Frankreich sollen alle vornehmen Damen schon so gekleidet sein.«

Wiltrud faßte widerstrebend den Stoff an. Das Überkleid war nicht nur ärmellos, sondern seitlich so weit ausgeschnitten, daß nur noch mittig ein schmaler Steg das Oberteil mit dem Rock verband.

»Für die Pfaffen sind’s Teufelsfenster«, kicherte Margret frivol. »Aber den Burschen werden sie den Kopf verdrehen, und das ist gut so bei meinem letzten Auftritt als Jungfer.«

»Ich wollt’ mir die Burschen lieber vom Leib halten«, erwiderte die Hafnerstochter griesgrämig.

»Was ist los mit dir?« fragte die angehende Braut sichtlich enttäuscht. »Du bist in letzter Zeit so … ach, ich weiß nicht.«

»Verzeih mir, Margret! Hab’ heut einen schlechten Tag, tut mir leid.«

»Schon gut«, beschwichtigte die Freundin und strahlte bereits wieder. »Ich freu’ mich so auf den Tanz. Vielleicht entdeckst du deinen Zukünftigen, wie ich damals. Solltest auch ans Heiraten denken. Du …«

»Sicher, Margret, sicher«, unterbrach Wiltrud das Geplapper. »Ich muß jetzt wirklich gehen. Hab’ noch was zu besorgen, ehe es dunkel wird. Nimm’s nicht übel.«

Unter der Türe stieß sie mit dem Lernknecht zusammen.

»Ah, die Frau Nachbarin«, neckte er sie. »Habt wohl auch schon das Brautkleid probiert.« Als Wiltrud ihn unverständig anstarrte, fügte er grinsend hinzu: »Hab’ nur so was läuten hören«, und verschwand.

Wiltrud war zorniger denn je. Posaunte etwa der Drechsler seine unerwünschte Werbung schon überall herum? Er sollte sich vorsehen. Sie war dabei, ihm einen dicken Strich durch seine windige Rechnung zu machen. Mit wehenden Röcken bog sie in die Gasse beim Tegernseer Klosterhof ein und stürmte vorwärts.

Sie ärgerte sich über Margret, die sich manchmal noch wie ein Kind benahm. Ist schließlich ein paar Jahre jünger als du, schoß es ihr durch den Kopf. Gut, gut, aber dies Gegacker und Getue mit den Burschen – es stand ihr bis zum Hals.

Und sie war wütend auf sich selbst, weil sie sich so sehr darüber ereifern konnte und – ja, zugegeben –, weil sie selbst so wenig damit anfangen konnte. Es mangelte ihr nicht an Gelegenheit, oho, keineswegs. Schließlich kam sie durch ihren Beruf unter die Leute. Und hübsch … nun, zumindest war sie nicht häßlich, oder?

Aber was waren das auch schon für Kerle, die sich bisher für sie interessiert hatten: hochnäsig und nur auf ein schnelles Abenteuer aus; oder dumm wie Stroh und langweilig wie ein Klumpen Ton, dafür laut, ungeschlacht und ständig betrunken – nein, vielen Dank! Oder war am Ende doch nur sie selbst schuld daran? War sie wirklich so schwierig? Pah! Es würde alles und immer so enden wie bei ihrem Vater. Und sie wollte nicht leiden wie ihre Mutter all die Jahre. Nein! Niemals! Das Joch der Ehe war nichts für sie. Ihr Entschluß stand fest.

Es war schon spät, als sie vor dem Angerkloster stand und beherzt an die Pforte der Klarissen pochte. Endlos erschien es ihr, bis erst das Guckloch und schließlich die Türe selbst geöffnet wurde. Die alte Pförtnerin, der Wiltrud aufgeregt den Grund ihres späten Klopfens vortrug, verständigte sich mit einer Mitschwester durch eigenartige Zeichen, worauf die Nonne den Besuch schweigend durch lange, stille Gänge führte.

Wiltrud empfand die Ruhe wohltuend und malte sich bereits aus, wie diese Mauern ihr Zufluchtsort sein würden. Das schlichte Ordenskleid unterschied sich kaum von ihrem weltlichen Gewand. Sie hatte sich bislang wenig um die Torheiten ihres Geschlechts geschert und wollte auch künftig gerne darauf verzichten.

Die Äbtissin Kunigunde geruhte Wiltrud noch zu empfangen, da deren Anliegen dringlich erschien. Und sie ging auch sogleich auf die Geschlagene zu und besah sich das schwellende Auge. »Gütiger Himmel! Wer hat dir das angetan?«

Ohne darauf einzugehen ergriff Wiltrud die Hand der Äbtissin, fiel auf die Knie und flehte: »Ehrwürdige Mutter, ich bitte um den Schutz Eures Klosters. Ich will den Schleier nehmen und Euch in allem gehorsam sein. Stoßt mich nicht zurück! Ihr seid meine einzige Hoffnung …«

»Na, na«, unterbrach die Äbtissin sanft, »nun beruhige dich erst mal.« Sie wies ihr einen Schemel an und reichte einen Becher Wasser, ehe sie Wiltrud um ihre Geschichte bat.

Die schilderte lebhaft und erregt den Jähzorn ihres Vaters und das widerwärtige Los, das er ihr zugedacht hatte.

»Und deshalb willst du dich auf der Stelle ins Kloster flüchten?« fragte die Äbtissin ungläubig, und Wiltrud konnte nicht unterscheiden, ob es belustigt oder eher schon ärgerlich klang.

»Jaha …«, bestätigte sie zögernd und schluckte trocken.

»Mein liebes Kind«, hob die Ehrwürdige Mutter an, »wie hast du dir das nur gedacht? Weil dein Vater streng ist und du deinen Willen nicht bekommst, willst du flugs ins Kloster und dich vor der bösen Welt verstecken. Es ist aber nicht der Hafen der Mühseligen und derer, die ein sorgenfreies Leben wünschen. Laß dir gesagt sein, daß du in diesen Mauern zunächst eher Schmerz und Einsamkeit finden wirst, und Honorius von Regensburg hat unser Klosterleben zu Recht mit Kerker und Fegefeuer verglichen. Vor den Freuden eines Lebens in Entsagung stehen große Prüfungen. Der heilige Franziskus legt uns humilitas, die Demut, ans Herz als stärkste Waffe gegen den Dämon und sein Laster Hochmut. Ein zweites ist docilitas, der Gehorsam. ›Siehe, ich bin die Magd des Herrn‹, sprach die selige Jungfrau Maria, ›und sein Wille geschehe also!‹ Dich aber, so scheint mir, haben eher Aufbegehren und Trotz hierher geführt.«

Wiltrud starrte die Äbtissin entgeistert an, und erst jetzt besah sie sich das Gesicht der frommen Frau unterm Schleier näher: Es war hager, kantig und in Stein gemeißelt wie die Zehn Gebote.

Ihrer selbst nicht mehr sicher, rang sie nach Worten: »Aber … es ist doch … ich will es ja versuchen. Ich möchte nur nicht heiraten müssen. Niemals. Und was bleibt mir da …«

»Wie töricht du bist, mein Kind«, unterbrach die Äbtissin, und fast schien ein Lächeln den Stein zu erweichen. »Gott sucht in jedem Stand mehr den Geist als das Kleid, belehrt uns das speculum virginum. Du fliehst jetzt vor einem Mann, aber meidest du deshalb schon alle? Und die Abwesenheit von Männern allein bewahrt uns noch keineswegs vor Sünde, denn auch in Herz und Gesinnung können wir die Jungfräulichkeit verlieren. Die bekehrte Sünderin übertrifft die Nonne, deren Gedanken noch nach Unkeuschheit und Ehe trachten, und eine Witwe in Demut steht vor Gott allemal höher als eine stolze Jungfrau. Hast du dies etwa bedacht?«

»N...nein«, räumte Wiltrud kläglich ein.

»Geh nach Hause und füge dich«, schlug die Äbtissin begütigend vor. »Eine Ehe ist nicht das schlechteste Los, rühmt doch schon der heilige Ambrosius, daß schließlich jede Jungfrau einer Mutter ihr Leben verdankt. Stille in demütiger Mutterschaft deine Kinder, wie Maria ihren Sohn, dann wirst du immerhin dreißigfache Frucht ernten.«

»Aber Maria blieb trotzdem unberührt …«, widersprach Wiltrud.

»Nun, so dir daran gelegen ist«, lenkte die Ehrwürdige Mutter mit hochgezogener Braue ein, »dann prüfe dich erst und kehre in freier Entscheidung wieder. Denn Jungfernschaft bedeutet nicht Flucht vor der Knechtschaft der Ehe, sondern freie Wahl eines höheren Gutes.«

»Und dann nehmt Ihr mich?« fragte Wiltrud erleichtert.

»Hm, da ist noch eine Schwierigkeit«, erläuterte die strenge Kunigunde. »Wir können nicht in der Welt für unser Brot sorgen, und es bedarf einer entsprechenden Mitgift. Wenn also dein Vater … aber nein, ich vergaß. Wenn du nach dem Ableben deines Vaters, was in der Hand unseres Herrn liegt, über ein gewisses Erbe verfügen solltest, dann …«

»... dann wird es zu spät sein«, platzte Wiltrud enttäuscht heraus. »Gibt es gar keine andere Möglichkeit? Ich kann arbeiten und für mich sorgen.«

»Für uns sorgen«, korrigierte die Äbtissin nachdenklich und fixierte die erwartungsvolle junge Frau vor sich. »Unsere Zahl ist zwar klein, aber von Zeit zu Zeit besteht Bedarf an einer Laienschwester.«

»Ich kann töpfern«, erklärte Wiltrud strahlend, »ja, ich kann es ziemlich gut und ich …«

»Das wird nicht gefragt sein«, bremste die Ordensfrau jäh die Begeisterung. »Es würde nur deinem Stolz dienen. Du müßtest waschen, kochen, Böden schrubben … neben den regelmäßigen Gebeten, natürlich.«

»Natürlich«, wiederholte Wiltrud monoton und fing soeben an zu begreifen.

Die Hafnerstochter stand auf der Angerwiese, sog tief die frische Abendluft ein und erwachte langsam aus ihrer Betäubung.

Was bin ich für eine Närrin, schalt sie sich. Mein Gott, was habe ich erwartet? Es kam ihr plötzlich selbst wie törichtes Weglaufen vor. Das Zwielicht der untergehenden Sonne paßte gut zu ihrer Stimmung, als sie sich auf den Heimweg machte: enttäuscht, niedergeschlagen und ein wenig ängstlich, aber zugleich verärgert, aufgebracht und... ja, sie wollte kämpfen.

Die Äbtissin hatte in all ihrer Unnahbarkeit sogar recht. Sie war einer Aufwallung gefolgt, hatte die Sache nicht zu Ende gedacht. Wie auch? Was wußte sie schon vom Kloster. Aber jetzt hatte sie das sichere Gefühl, daß sie dort nur eine Unterdrückung gegen eine andere tauschen würde.

Wiltrud hingegen wollte ungebunden sein: frei von der Bevormundung ihres übellaunigen Vaters, aber ebenso vom drohenden Joch der Ehe und frei für ihre Arbeit. War dies überhaupt möglich? War nicht schon der Gedanke daran Sünde, wo doch einem jeden sein Platz in Gottes gerechter Ordnung vorgegeben war?

Noch stand alles gegen sie. »Wenn nach dem Ableben deines Vaters …«, vertröstete die Äbtissin. Alles eine Frage der Zeit! Und vielleicht konnte man den Lauf ja etwas beschleunigen.

Es mußte etwas geschehen, und es würde etwas geschehen.

Das Labor des Alchemisten

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