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6. Kapitel

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Es war frühmorgens noch ungewöhnlich ruhig in der Gaststube. Während Agnes die paar Fuhrknechte und unentwegten Zecher eigenhändig bediente, schien sie Peter zu ignorieren. Er ließ sich von der Magd einen Becher Bier und ein Stück Pastete bringen.

»Hast du’s schon gehört?« suchte er ungeschickt das Gespräch, als Agnes in seine Nähe kam. »Letzte Nacht haben sie am Anger wieder einer Gewalt angetan.«

»Selber schuld«, erwiderte Agnes kalt, »was treibt sie sich nachts alleine herum, die Gans.«

Peter hob leicht verwundert die Brauen. »Sie war halb tot und übel zugerichtet«, versuchte er es erneut, als sie wieder vorbeikam.

»Hast du geglaubt, sie küssen ihr die Füße?« schnauzte Agnes. »Wie stellst du’s dir denn vor, wenn sechs oder acht Besoffene wie Tiere über einen herfallen?« Scheinbar ungerührt trug sie weiter die Speisen auf.

»Man müßte vielleicht dem Richter Bescheid sagen«, schlug Peter nach einer Weile angestrengten Nachdenkens vor, um wenigstens etwas zu sagen.

Agnes ließ sich auf die Bank vor ihm fallen, beugte sich weit über den Tisch, um in seinem Gesicht zu lesen. »Dem Richter …«, wiederholte sie ungläubig. Dann lachte sie beinahe hysterisch. »Dem Richter – wie einfältig bist du eigentlich? Glaubst du, daß es den auch nur einen Furz interessiert? Wenn es die Frau vom Ratsherrn Sowienoch oder wenigstens die Alte des Kaufherrn Nimmersatt wär’, dann vielleicht. Und auch dann nur, wenn sie mindestens zwei Schreizeugen hätte, aber eher wirst du zehn andere finden, die gerne bezeugen, daß das unersättliche Weib begierig die Beine breit gemacht und vor Lust gequiekt hat … nein, hör mir zu! Deshalb fallen die feigen Schweine auch am liebsten über die ledige Magd, die Betteldirn oder eine Unehrliche her, weil sie genau wissen, daß nach denen keiner kräht. Aber unter den Maulhurern und Schwanzhelden ist vielleicht auch das verwöhnte Söhnchen eines Pfeffersacks oder der falsche Stolz eines hohen Rats, und mit denen will sich dein Herr Richter nicht anlegen.«

»Aber …«

»Ach, sei doch still!« überfuhr ihn Agnes gereizt. »Das einzige, was einer Frau noch am ehesten Schutz gewährt, ist die Ehe, denn am Eigentum eines andern vergreifen sie sich nicht so leicht. Aber von Heirat willst du ja nichts wissen.«

Es klang bitter, und Peter wußte fraglos, daß dies der Punkt war, an dem es schmerzte. »Sieh mal …«

»Und gestern … was war denn gestern?«

»Es war nicht so …« Er versuchte ihre Hand zu fassen.

»Laß mich! Es wird einfach nichts mit uns. Heute nicht und nie mehr!« Sie wischte mit dem Ärmel über die feuchten Augen und rannte aus der Gaststube. Keiner dieser erbärmlichen Kerle sollte ihre Tränen sehen und sich über ihren Schmerz belustigen.

Peter brütete eine Weile vor sich hin, dann gab er sich einen Ruck und ging ihr nach. Agnes lag bäuchlings auf der Bettstatt und schluchzte in die Kissen. Er stand geraume Zeit unschlüssig daneben, räusperte sich. »Agnes, ich … ich liebe dich doch …«

Sie warf sich herum, fuhr hoch: »Dann heirate mich!«

Peter schwieg, sah betreten zu Boden.

»Ich liebe dich doch«, wiederholte Agnes nach einer Weile unerträglichen Schweigens hämisch. »Als hätt’ ich’s nicht gewußt. Aber ich mußte ja auf einen Grünbart hereinfallen.«

»Viel Glück!« sagte Peter kleinlaut. »Ich wünsch’ dir von Herzen alles Glück.« Er ging in seine Kammer und fing an, seine wenigen Habseligkeiten zu packen, diesmal für immer.

Das helle Licht der Morgensonne wärmte noch nicht, kündigte aber einen strahlenden Spätsommertag an. Für Peter war bereits Eiszeit und Wintereinbruch. Er wußte nicht recht wohin und suchte daher, sein karges Bündel geschultert, fürs erste Zuflucht beim Rößlwirt. Paul würde Augen machen.

Als er bei der Dultgasse um die Ecke bog, sah er schon von weitem die Menschentraube in Höhe der Gaststube und Herberge. Mit dem Roßmarkt war dies kaum zu erklären. Beim Näherkommen wurde deutlich, daß auch die Angergasse auf der anderen Seite des Baches dicht mit Gaffern gesäumt war. Aber seltsamerweise fehlte das bei derlei Zusammenrottung übliche Geschrei. Es lag im Gegenteil eine gespenstische Stille über der Gruppe.

Peters Neugier besiegte den Kummer, und er fragte die zuhinterst Stehenden nach dem Grund des Auflaufs. »Jesus, Maria …« bekam er von einer Alten zu hören, die sich laufend bekreuzigte. »Er ist da«, raunte ein anderer, »das ist das Zeichen des Antichrist. Er wird uns alle verderben. Flieht!«

So leicht ließ sich Peter nicht mehr beeindrucken. Er zwängte sich durch die Reihen, reckte den Hals und erspähte in vorderster Reihe Paul, den er schon auf dem Weg zur Lände glaubte. Paul stutzte kurz und nickte wortlos in Richtung Bach. Dort lag am anderen Ufer bäuchlings eine reglose Gestalt. Die Füße zeigten direkt auf den Tegernseer Klosterhof hin, der Kopf hing im trüben Wasser. Es war auf den ersten Blick ein friedliches Bild, ein Dürstender, der sich labte, hinge da nicht der Kopf bis weit über die Schultern im Bach. Der arme Kerl mußte ertrunken sein. Sein graubrauner Rock war wenig bezeichnend und doch glaubte Peter, den Unglücklichen zu kennen.

»Mir sind ja schon etliche Pfaffen ziemlich kopflos erschienen«, unkte Paul sarkastisch, »aber der da hat’s verdammt wörtlich genommen.«

Peter riß die Augen auf, starrte entsetzt ein zweites Mal auf die Leiche. »Gütiger Gott!« entfuhr es ihm. Das Wasser war zwar schlierig und veralgt, aber einen Schatten hätte man doch wenigstens sehen müssen. Da war nichts. So wenig wie der Schädel des toten Gesellpriesters.

Er verstand augenblicklich die Lähmung, die die Schaulustigen ergriffen hatte. Eine Leiche war in diesen Tagen nicht ungewöhnlich – schlimm genug –, aber auf so schreckliche Weise getötet und zudem ein Priester des Herrn, noch dazu von St. Peter …

»Der Richter wird schon verständigt«, erläuterte Paul und deutete auf einen Knecht gegenüber, der gleichmütig, aber in respektvoller Entfernung neben der Leiche postiert war. »Den da haben sie zurückgelassen, während der Hauptmann schon seine Meute zusammenruft. Der Einfaltspinsel glaubt schon wieder an den Fang seines Lebens, um endlich beim Richter gut dazustehen.«

»Weiß man denn schon … ?«

»Denk nach, Schlaumeier! Gestern die Enthauptung auf dem Marktplatz – klingelt’s da nicht im Beutel?« Paul tippte sich an die gerunzelte Stirn, wodurch Peter bemerkte, daß sein sinnenfroher Kamerad vom Vortag noch reichlich verkatert aussah.

»Aber, das ist doch …«

»Hurenmist, genau! Und die Spielleut’ stecken jetzt bis zum Hals da drin.«

»Aus dem Weg! Platz da!« Der Knecht kam zurück, im Gefolge Konrad Diener, den Stadtrichter, und einen Rattenschwanz neugieriger Müßiggänger. Diener war eine imposante Erscheinung im besten Mannesalter, die Leibesfülle in vornehmes Tuch gehüllt. Nur sein Gesichtsausdruck zeigte keine Spur von Adel, denn er war verdrossen über die frühe Störung beim Morgenmahl.

Die Menge wich ehrfürchtig zurück. Der Richter baute sich am Bachrand auf, stemmte die Arme in die Seiten und herrschte den Aufpasser gegenüber an: »Was ist? Zieh ihn schon heraus!«

Der packte ungerührt den Pfaffen bei den knochigen Fesseln und zerrte ihn zwei Ellen zurück.

»Potz Teufel!« knurrte Diener, als habe er’s bis dahin selber nicht geglaubt, während in der Menge das Seufzen und Getuschel lauter wurde. Der Hals zeigte wie ein abgeschnittenes Bein herüber, jedoch fahl und ohne einen Tropfen Blut.

»Steh nicht herum!« fuhr der Richter seinen Knecht an. »Hol den Kopf heraus!« Der Gescholtene hob bedauernd die Schultern und schüttelte sein eigenes Haupt.

»Wie? Was soll das heißen?«

»Verschwunden«, bekam der Richter zur Antwort, worauf der die Gaffer anbrüllte: »Was glotzt ihr bloß müßig? Holt Stangen, zum Teufel! Sucht den Bach ab! Oder wollt ihr, daß euer Pfaffe am Jüngsten Tag so vor den Herrn tritt!«

In die Menge kam Bewegung. Da fiel der Blick des Richters unvermittelt auf Peter Barth und seinen Freund. Er zog die Brauen hoch, als wollte er sagen: Ihr schon wieder?

Peter lächelte etwas verlegen und erklärte wie zur Entschuldigung: »Wir wohnen jetzt beide hier.« Als er nach der üblen Geschichte mit dem Wachsmann vor einigen Monaten das honorige Angebot des Richters auf einen Schreiberposten bei ihm abgelehnt hatte, war Konrad Diener wieder auf Distanz gegangen, und seither war für Peter sein Verhältnis zum Richter etwas diffus und schwer zu berechnen.

»Und?« fragte Diener ruppig. »Habt Ihr was gesehen?«

»So wenig wie all die andern«, versicherte Paul, »er lag wohl schon vor dem Morgengrauen hier. Der Färber hat ihn …«

»Jaja, schon gehört«, unterbrach Diener unwirsch, »aber die Sache scheint ja einfach zu liegen. Ihr könnt gehen. Ihr alle«, rief er laut, »geht nach Hause und an eure Arbeit. Schert euch fort!«

Diese Rechnung hatte er jedoch ohne die Sensationsgier veranschlagt. So leicht ließen sich die Bürger nicht um ein Schauspiel bringen.

»Die Spielleut’ haben ihn auf dem Gewissen«, schrie einer. »Jawohl, bei ihm hat ihr falscher Zauber versagt!« Die Rufe wurden rasch lauter, und schon rotteten sich die ersten zusammen, um den Richtersknechten zum Anger hinaus zu folgen und die verbrecherische Brut zu fangen.

»Komm!« sagte Peter und schob den Freund Richtung Gasthaus. Er sah die Sorge in Pauls Gesicht und vermutete, daß sie dem jungen Spielweib galt. »Wir können hier nichts tun, und der Richter wird selber rasch merken, daß er auf dem Holzweg ist.«

Paul schnaubte nur verächtlich über Peters Glauben an die Vernunft, aber er fühlte sich gegenwärtig auch zu schlecht. Er war begierig auf einen stärkenden Trunk und den Grund für Peters Auszug bei Agnes, obwohl er vom Vortag so seine Ahnung hatte.

Tagsüber hatten sie viel zu tun und kaum Zeit, über den Mord nachzudenken. Beim Abendbrot brummte Paul plötzlich: »Dieser verdammte Pfaffe will mir nicht aus dem Kopf.«

»Der Pfaffe oder die schwarzhaarige Maid?« stichelte Peter.

Paul reagierte mit Ärger im Blick. »Was ist, frag’ ich mich, wenn der Richter keinen Schuldigen findet, und die Volksseele ein Opfer fordert? Wird er dann die Gaukler dem Henker vorwerfen? Wahrscheinlich hat man sie ins Loch gesteckt.«

»Konrad Diener ist aufgeblasen und stur, aber kein Narr oder Feigling.«

»So blöde kann doch auch keiner sein, zu glauben, die Gaukler würden erst öffentlich vorführen, wie sie anschließend einen zu ermorden gedenken. Und sie hätten doch wenigstens die Leiche verschwinden lassen, anstatt sie derart zu präsentieren.«

»Ich habe von Schurken gehört, die Kaufleute beraubten und ihnen anschließend ihr eigenes Gut feilboten«, hielt Peter dagegen.

Paul sah ihn verständnislos an. »Aber der Mörder muß doch einen gewaltigen Zorn auf den Pfaffen gehabt haben, und was hatten die Spielleute mit ihm zu schaffen?«

»Immerhin hat er wütend gegen sie gepredigt.«

»Bah! Dann müßten sie in jeder Stadt etliche Leichen hinterlassen. Das ist doch Unsinn«, ereiferte sich Paul. »Außerdem hat er gegen alles und jeden gepredigt. Da hätten viele guten Grund.«

»Auch du, mein Sohn?« spöttelte Peter mit sonorer Stimme.

»Ein ehrbarer Bürger vielleicht«, gab Paul zurück, »der vor Eifersucht platzte. Die Glocken läut’ ich selber, sagte der Bauer und stieß den Pfaffen von seiner Frau! Wahrscheinlich hat er ein allzu vertrauensseliges Beichtkind geschwängert. Wie kann einer auch so geifernd über das Laster herziehen, wenn er nicht bestens den Sumpf kennt? Die Stinkmorchel hatte wohl selber Dreck am Stecken, ja, bestimmt sogar! Da liegt die Lösung.«

»Und die wirst du jetzt dem Richter vorschlagen«, kommentierte Peter trocken.

»Ach, verdammt! Ich mach’ mir eben Sorgen.«

»Wut ist ein schlechter Ratgeber.«

Paul trank den Becher leer und rülpste verächtlich. »Tu doch nicht so abgeklärt! Sonst bist du derjenige, der nach dem Recht schreit und sich in Spitzfindigkeiten verbohrt. Ist dir das Leben unschuldiger Spielleute auf einmal egal?«

»Herrgott, ich hab’ zur Zeit andere Sorgen«, fauchte Peter, »und das ist allein das Geschäft Konrad Dieners. Ich will mich nicht wieder einmischen.«

»Aber nur mal so als Überlegung«, ließ Paul nicht locker, »das mit dem Schwert ist doch eigenartig.«

Jetzt schaute Peter verständnislos drein.

»Na, überleg doch«, spann Paul den Faden weiter, »der Schnitt war glatt, wie wenn du einen Apfel zerteilst. Das schafft kein Messer und auch kein stumpfes und schartiges Schwert, wie es die Gaukler benützen. Dazu bedarf es eines sauberen Hiebs, mit großer Kraft geführt. Wie wär’s mit dem Henker?«

»Denkst du vielleicht, der ließe die Leiche herumliegen? Und wozu sollte er sich an einem Priester von St. Peter vergreifen?«

»Er hat gegen Unzucht und Huren gewettert, mit denen der Hacher gutes Geld verdient. Aber es gibt ja noch genügend andere Schwertträger in der Stadt.«

»Die Männer des Richters und Ratsherren, du spinnst!«

Paul schwieg beleidigt, während Peter wieder auf einer Brotrinde mümmelte.

»Das Blut«, sagte Peter nach einer Weile und richtete sich auf. »Das Blut und der Kopf!«

»Hmm«, brummelte Paul mürrisch und schien nicht mehr gewillt, dem Gedankenflug zu folgen.

»Der Leichnam war ausgeblutet«, redete Peter unbeirrt vor sich hin. »Das Blut könnte zwar allmählich mit dem Bach dahingeronnen sein, aber der Boden – erinnerst du dich? –, der Boden schien nicht von Blut durchtränkt, was bei einer Enthauptung unvermeidlich wäre. Und wo, um alle Welt, ist der Kopf abgeblieben? Das kann doch nur bedeuten: Der Gesellpriester wurde andernorts getötet und dann gezielt an der Stelle abgelegt. Wozu?«

Paul war wieder hellhörig geworden. »Willst du damit sagen, jemand wollte das Blut …«

»Nein, will ich nicht!«

»Ganz recht«, mischte sich ein verwilderter Fuhrknecht vom Nebentisch ein, »ich habe davon gehört, daß es Weiber geben soll, Unholdinnen, die Blut und Leichenwasser für ihre teuflischen Riten brauchen, und am liebsten hängen sie ein katholisches rothaariges Mannsbild mit dem Kopf nach unten auf, töten ihn durch eine Viper und lassen ihn ausbluten und …«

»Das ist erstens dummes und bösartiges Geschwätz«, überfuhr ihn Peter, »zweitens war der Priester schwarzhaarig und drittens fehlt ihm jetzt der Kopf. Laß uns in Ruhe mit deinen Greuelmärchen!«

»Märchen, häh?«, ging der Fuhrmann auf. »Was bist du denn für ein seltsamer Tropf? Herr Naseweis, dem der Teufel erst noch begegnen muß! Hab’ ihn gesehen, sieht scheußlich aus, glaub’s mir …« Er fing zu lallen an, war zu betrunken für einen Disput und winkte unwillig ab.

»Da siehst du«, zischte Peter verärgert, »wohin solche Reden führen. Damit bringst du deine Spielleute bloß noch mehr in Gefahr.«

»Unsinn!« widersprach Paul gereizt. »Jedermann konnte doch sehen …«

»Einfältige sehen, was sie gerade sehen wollen und glauben ohnehin alles«, beharrte Peter. »Und schließlich stehen Gaukler verbotener Zauberei sehr nahe. Vergiß das nicht!«

»Weil du grad’ Zauberei erwähnst«, stieg Paul schon wieder ein, »erinnerst du dich, was Bruder Servatius uns erzählte? Schädel werden auch zu Weissagungen benutzt und für Schwarze Magie und …«

»Himmel, hör auf damit!« beschwor Peter den Freund. »Laß mich in Gottes Namen zufrieden! Ich will nicht schon wieder damit zu schaffen haben! Und …« – er wandte sich abrupt ab – »ich bin verflucht noch mal nicht in der Stimmung dazu!«

»Madonna!« seufzte Paul mit verdrehten Augen. »Mit diesem lauen Furz soll ich künftig meine Kammer teilen!«

Das Labor des Alchemisten

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