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Prolog

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Wenn Unschuld ein Verbrechen war, dann wurde an jenem kalten Februartag des Jahres 1300 nach Christi Geburt dem Recht auf schreckliche Weise Geltung verschafft. Andernfalls war der grausame Tod, zu dem ein gnadenloser Richter die Kreatur verurteilt hatte, himmelschreiendes Unrecht.

Kaum einen der Gaffer, die dicht gedrängt, mit harten und selbstzufriedenen Gesichtern die Gassen der Stadt München säumten und schon gar keinen der großspurigen Burschen, die lärmend und Zoten reißend den Armesünder-Karren umsprangen, plagte auch nur der geringste Zweifel. Zu eindeutig schienen die Fakten, zu offensichtlich die Schuld.

Der Zug wälzte sich stockend unter dem Klang der Malefizglocke und dem Geschrei der aufgewühlten Menge durch die Kaufingergasse nach Westen. Die Pforten zu Unserer Lieben Frau standen nach altem Brauch weit offen. Aber die Richtersknechte hatten an diesem Tag mehr damit zu tun, übermütige Rohlinge von einem kecken Sprung auf den Karren abzuhalten, als dafür zu sorgen, daß nicht die Malefizperson ins Kirchenasyl entwich.

Die Wachshändler auf dem Kirchplatz reckten die Hälse und brachen ihre Schragentische ab, um dem Schauspiel zu folgen. Für heute war das Geschäft ohnehin gelaufen, und morgen würde sich hier eine ganz andere Prozession bewegen, würden dieselben mitleidlosen Bürger gemessenen Schritts und mit Kerzen in den Händen zur Feier der Reinigung Mariens schreiten, denn an Lichtmeß gedachten die Gläubigen des Mysteriums, daß die allerreinste Jungfrau sich nach Geburt ihres Kindes dem Gesetz unterwarf und ein Paar Tauben opferte, um vom Priester wieder als rein für den Tempel des Herrn erklärt zu werden.

Heute aber dürsteten die Verehrer Mariens nach einem anderen Opfer und forderten erbarmungslos die Sühne unglaublichen Frevels. »Kindsmörderin! Verfluchte Brut!« schrien sie wütend, und am lautesten schmähten die Gattinnen und ehrbaren Mütter die gefallene Jungfrau: »Dreckige Dirn!« und: »Fort mit der schamlosen Buhle! Verbrennt das Weib!«

Die Rechtschaffenen sahen ein Ungeheuer auf dem Karren, eine mörderische Bestie. In Wahrheit war es noch ein Kind, ein halbwüchsiges Mädchen in erbärmlichem Zustand, das zusammengekauert auf dem Leiterwagen hockte und verängstigt wie gestelltes Wild den gröbsten Nachstellungen seiner Peiniger zu entgehen suchte.

Es hieß, sie sei die Tochter des Fuhrknechts, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Brutale Hände hatten jetzt ihre kindlichen Locken erst grob mit der Schere abgefranst, danach ihren schmalen Kopf kahl geschoren. Das schlackernd weite Büßerhemd aus Grobleinen, in das die Frau des Schergenstubenhüters den schmächtigen Körper gesteckt hatte, ließ die zarten Rundungen einer jungen Frau noch nicht einmal erahnen. Und doch hatte sie schon geboren. Geboren und getötet!

Bei Gott, es war nicht ungewöhnlich, daß junge Mütter ihr Neugeborenes töteten, und in den meisten Fällen trieb sie noch nicht einmal Angst ums kärgliche Brot zur Verzweiflungstat, sondern die Angst vor Schande und Ehrlosigkeit.

Natürlich zeterten die Pfaffen und drohten mit Verdammnis. Es war auch leicht, wenn man nicht selbst einen Haufen hungriger Bälger durchbringen mußte und eigene Fehltritte unbemerkt im Findelhaus verstecken konnte. Zwar sprachen auch weltliche Richter von homicidium, also Mord, aber viele waren geneigt, zumindest beim ersten delictum einen bedauerlichen Unfall anzunehmen und der Beteuerung Glauben zu schenken, das Würmchen sei nächtens im Bett versehentlich erdrückt worden. Auch Wahnsinn entschuldete und ersparte den Müttern gleichfalls die Strafe. Warum also, in Gottes Namen, hatte dieses erbärmliche Wesen auf dem Karren in seiner Not keinen milden Richter gefunden?

Der Zug hatte sich inzwischen durchs Kaufingertor gezwängt und schwoll immer mehr an, während er den jüngst mit Mauer und Graben umfriedeten Teil der Stadt durchzockelte. Etliche Meister ließen ihre Lernknechte das Tagwerk beenden und sich einreihen, denn wo ein Zeichen unerschütterlicher Gerechtigkeit und abschreckender Strafe aufgerichtet wurde, da sollte dies die Jugend belehren und heilsames Beispiel sein.

Die Richtersknechte hatten Mühe, das aufgebrachte Volk zurückzudrängen. Unrat und Steine flogen. Diejenigen, die es schafften, sich zum Karren vorzukämpfen, bespuckten die Todgeweihte und schrien gehässig: »Kneift das Luder! Brennt ihr endlich den sündigen Leib!« Zuhinterst auf dem Karren stand ein Becken mit glühenden Kohlen, aus dem heraus die langen Griffe eiserner Zangen das Opfer bedrohten. Aber merkwürdigerweise machten die Schergen davon keinen Gebrauch.

Das Mädchen krümmte sich wimmernd. Seine vor Entsetzen geweiteten Augen fanden keinen Halt in der rasenden Menge, stierten ins Leere und verkündeten die Nähe des Wahnsinns.

Nachbarn hatten sich vor Gericht erinnern wollen, daß ihnen das stille und zerbrechlich wirkende Kind von jeher sonderbar, aber nicht wirklich verrückt erschienen war, bis es heranwachsend vor zwei, vielleicht auch drei Jahren urplötzlich aufgehört hatte zu reden: von einem Tag auf den anderen! Einfach das ohnehin kärgliche Sprechen eingestellt, als habe es der Welt in alle Ewigkeit nichts mehr zu sagen. Bald hieß es: »Ein Dämon hat sie ergriffen, der ihr das Sprechen verbietet!«

Heute war jedermann klar, daß der verkommene Lasterbalg mit dem Leibhaftigen brünstig verkehrt hatte. Wie anders wollte man sonst erklären, daß die Besessene nicht in der Lage war, einen Vater für ihre verdorbene Frucht zu benennen. Nicht, daß es für die Frage der Schuld auch nur entfernt von Bedeutung gewesen wäre, wem sie den Fehltritt anlasten wollte. Abtreibung und Kindsmord waren sündhafte Vergehen der Weiber – und nur der Weiber!

Am Weihnachtsmorgen, noch halb zur Nacht, war die alte Magd durch widerwärtige Geräusche aus dem Schlaf geschreckt. Sie folgte dem unheilvollen Stöhnen, Stampfen und Scharren in den Stall, wo ihr die Sünderin von kaltem Schweiß überströmt, auf allen vieren und mit wirrem Blick entgegenkroch. Ihr Kittel war blutgetränkt, an Händen und Schenkeln klebten dunkle Krusten, und aus dem Schoß baumelte die abgerissene Nabelschnur. Das Mädchen stammelte, gebärdete sich wie wild, und mit der ersten Dämmerung offenbarte sich den Herbeieilenden ein grausiger Fund: Im Stroh zwischen den ängstlich scheuenden Pferden lag ein blutiger Klumpen Fleisch, von Hufen zermalmt.

Der Frevel war greifbar und offensichtlich: Während die Christenheit die Geburt des Erlösers feierte, warf die Verruchte einen Balg ins Stroh, der in jenen Tagen gezeugt worden war, in denen die Ehrfurcht vor dem Leiden des Herrn strenges Fasten auferlegte und jegliche Fleischeslust verbot. Die Frucht der Sünde war daher so sicher verflucht wie vom Satan als Inkubus gezeugt, und um seiner Buhle die Schande zu ersparen, zertrat er den Wurm sogleich, wie es die Jungfrau mit der Schlange tat.

»Kneift sie endlich mit den Zangen! Verbrennt das stinkende Fleisch! Glüht das Loch aus, aus dem das Unheil kroch!« Immer haßerfüllter forderte die Menge Taten, gierte nach Blut und verbranntem Fleisch.

Ihr Haß gründete in der Furcht, durch die Frevlerin um eine große Hoffnung betrogen zu werden, denn es verdichteten sich Gerüchte, daß Papst Bonifaz zu Rom erwog, dieses Jahr zu einem heiligen Jahr auszurufen, in dem allen reuigen Pilgern in der heiligen Stadt ein vollkommener Ablaß zeitlicher Sündenstrafen gewährt werden sollte. Natürlich würde der Flickschuster oder der hungernde Weber die beschwerliche und kostspielige Reise niemals antreten. Um so mehr hegte man weithin die Hoffnung, daß dieses heilige Jahr dennoch allen zum Segen gereichen und eine friedvolle Zeit bescheren würde.

Nach der Zählung der römischen Kurie begann aber das Neue Jahr schon mit der Menschwerdung Christi, und in ebendieser Heiligen Nacht hatte nun in München das verruchte Weib zum Hohn und wider alle Hoffnungen der Stadtbewohner des Satans Balg im Stroh geboren.

Wenn aber Adams Fehltritt dem gesamten Menschengeschlecht als Erbsünde anhaftete, war da nicht solche Verfehlung eines einzelnen auch Angelegenheit aller Mitglieder der Gemeinde? Nur der Tod konnte angemessene Sühne dafür sein! Daher drängte an diesem Tag jedermann, der irgendwie laufen und sich von den Geschäften freimachen konnte, zu der Hinrichtung, als könne er allein schon dadurch den großen Ablaß erringen.

Es war noch ein gutes Stück Weg auf der Straße nach Landsberg bis zum Galgenhügel am Rande des Burgfriedens, und trotz des Tauwetters der letzten Tage und einiger Sonnenstrahlen, war es noch immer ziemlich kalt. Die Delinquentin fror erbärmlich in ihrem dünnen Hemd. »Seht nur, wie sie erregt ist und ihren höllischen Buhlen erwartet!« verhöhnten grausame Witzbolde ihr Zähneklappern und Bibbern. Rotz und Tränen strömten ihr ungehemmt über die Wangen. Sie keuchte rauh und stieß unverständliche Laute aus.

»Sie ruft ihn! Die Dämonen sprechen aus ihr!« verbreitete ein Kleriker vorwitzig, denn durch die Offenbarungen des Abtes Richalmus war ihm geläufig, daß die Teufel sich jedweder Geräusche bedienten und sich selbst durch den Husten, mit dem sie die Menschen plagten, miteinander unterhielten.

Daß die Verworfene nicht längst gerichtet war, lag am dauerhaften Frost und dem Umstand, daß der Rat noch immer am Sold für einen stadteigenen Henker knauserte, wenngleich wohlhabende Pfeffersäcke diesen lautstark forderten, seit mit dem Wachsen der Stadt auch ständig mehr Gesindel Einlaß fand. So hatte man erst Boten ins Schwäbische nach einem tüchtigen Scharfrichter ausgeschickt, und sein Eintreffen hatte Weile. Zudem war es dem Abdecker erst während der letzten Tage gelungen, den frostharten Boden mühsam aufzubrechen.

Am Galgenberg übernahm der Stadtrichter wieder das Kommando und postierte seine Leute so, daß sie die Menge mit gezogenen Schwertern in Schach halten konnten. Es gab heftiges Gerangel um die besten Plätze, denn jeder wollte zuvorderst stehen, aber eine bestimmte, wie von magischer Hand gezogene Grenze wurde nicht überschritten. Keiner wollte ihm ohne Not zu nahe kommen.

Der Henker stand schweigend inmitten der Richtstatt, umgeben von einer Aura aus Schrecken und Blut. Er war in einen weiten roten Mantel gehüllt, das Haupt von einer roten Gugel umschlossen, deren gezaddelter Rand auf Schultern und Brust fiel. Sein Alter war kaum zu schätzen. Ein Gerücht besagte, daß er noch nicht lange ausgelernt, aber andernorts schon Proben seiner grausigen Kunstfertigkeit gegeben hatte. Die Gugel bedeckte auch sein Gesicht zur Hälfte, und nur durch zwei Schlitze musterte er das heutige Werkstück seines blutigen Handwerks, das einer der Knechte nun roh vom Karren zerrte.

Die Zuschauer waren noch nicht zur Ruhe gekommen. Ein Zimmerer rief forsch: »Das Holz! Wo habt ihr das Holz? Die Tölpel haben noch nicht mal den Scheiterhaufen aufgerichtet.« Da fiel es auch den anderen auf, und Gelächter mischte sich mit Mißfallen.

»Ruhe!« forderte der Fronbote wiederholt und nachdrücklich. Als er endlich Gehör hatte, verkündete er Sicherheit und freies Geleit für den Scharfrichter, selbst im Falle einer Mißrichtung.

Der Henker legte bedächtig seinen Mantel ab und zerrte das zitternde Mädchen vor die Grube, an deren Rand es wimmernd auf die Knie fiel. Die Menge wurde unruhig. Was hatte dieser Bastard vor? Wollte er sie um das ersehnte Schauspiel betrügen?

Doch der ging seelenruhig zu dem Korb neben der Grube und entnahm ihm ein paar Stricke. Allmählich dämmerte den Zuschauern, daß die Sünderin ganz offensichtlich nicht zu Pulver verbrannt werden sollte, wie es Ketzern und Teufelsbuhlen gebührte. Murren erhob sich. »Sie ist verflucht! Sie muß brennen!«

Der Henker drehte dem hilflosen Mädchen die Arme auf den Rücken und fesselte seine Hände mit einem rauhen Strick.

»Er gräbt sie ein!« rief einer enttäuscht. »Jawohl, er will das Weib lebendig begraben!« Aufgeregtes Tuscheln folgte, halblaute Proteste. Doch es war hierzulande noch immer das Recht des Henkers, die Todesart zu bestimmen. Einer Kindsmörderin drohte in der Regel Ersäufen oder Lebendigbegraben. Aber wer wollte so närrisch sein, bei dieser Kälte mit einem Floß die Mitte der eisigen Isar anzusteuern, um dort den Sack mit der eingenähten Mörderin in den Fluß zu werfen?

Der Henker ergriff einen langen, zugespitzten Pflock und einen schweren Hammer und zeigte beides der brummenden Menge.

»Er wird sie pfählen... ja, gut! Das ist gut so. Da wird ihr das Nachzehren vergehen.«

Die Zuschauer beruhigten sich, waren zufrieden und jetzt schon wieder gespannt, denn solches bekamen sie weit seltener zu sehen, als den Tod im Feuer. Wie lange wird sie nach Luft ringen, sich aufbäumen? Gibt ihr der Dämon Kraft? Mein Gott, wie wird er wohl ausfahren? Wo ist der Pfaffe? »Holt einen verdammten Pfaffen!« Jetzt rächte sich womöglich, daß man der Unglücklichen den kirchlichen Trost verweigert hatte.

Der Züchtiger ging auf die Verurteilte zu und riß das zitternde Bündel hoch. Er schien auf sie einzureden. Wozu? Was hatte dies zu bedeuten?

Das Mädchen heulte, bäumte sich auf, schrie wie ein Ferkel beim Schlachter. Er schlug sie zweimal hart ins Gesicht, und ihr Heulen ging in hilfloses Schluchzen über. Er packte sie derb am Arm, schüttelte sie. »Sei nicht blöde!« zischte er kaum vernehmbar. »Du wirst leben und wieder Kinder haben. Andernfalls …«

Der Henker erhob die Hand, worauf das gebeutelte Publikum gehorsam verstummte. Breitbeinig verkündete er mit rauher Stimme: »Hört! Ich will dieses Weib zu meiner Frau. Es ist mein Recht und Wille!«

Nach einem Augenblick jähen Entsetzens brach ein Sturm der Entrüstung los, und sich genarrt fühlende Zuschauer schickten sich an, die Richtstatt zu stürmen. Die Knechte hielten sie mit Schwertern und Spießen drohend in Schach.

Heinrich Küchel und Herr Rudolf, die nächststehenden Ratsherren, ruderten mit den Ellbogen auf den Richter zu und bestürmten ihn. Der Richter beugte sich eine Weile hinab, schüttelte mehrmals energisch den Kopf, riß schließlich sein Pferd herum und trieb das ängstliche Tier an die Seite des wahnwitzig scheinenden Henkers. »Meiner Seel«, rief er ihm zu, »Ihr seid ein verdammter Narr! Betet, daß Er mit Euch ist!« Dann brüllte er ins Volk: »Ruhe! Gebt endlich Ruhe! Es ist Recht seit alters her und wird es bleiben, solange ich Richter bin. Wer sich widersetzt, wird’s büßen. Seid still! Bei Gott, ich befehle euch, still zu sein!«

Nachdem das Geschrei wie eine versiegende Quelle zum Stillstand gekommen war, fragte er das Mädchen angewidert: »Willst du das Weib dieses Mannes werden und ein Leben in Unehre führen, oder wählst du den Tod und nach Sühne deiner Sünden ein ehrbares Angedenken?«

Das Mädchen starrte mit wäßrigen, weit aufgerissenen Augen bald auf den Richter, bald auf den Henker und lallte Unverständliches.

»Entscheide dich!« drängte der Hüter des Gesetzes.

»Sei nicht blöde!« zischte der Diener des Todes und verstärkte den Griff. »Du weißt …« Zaghaft und willenlos nickte sie mit dem Kopf. »Sie willigt ein. Sie sagt ja. Sie sagt deutlich ja, Ihr seht es alle …«

Der Richter, dem die arge Posse zuwider war, erklärte kurz und bündig: »So sei es!« und forderte das Volk auf: »Geht! Er hat freies Geleit, wohin ihm beliebt. Geht nach Hause!... Ihr aber«, wandte er sich an den Halsabschneider, »verlaßt noch heute diese Stadt und kehrt niemals mehr wieder!«

Es dauerte lange, bis sich die Bürger zerstreuten, ratlos, entsetzt, zornbebend oder still hadernd. So manchen beschlich an diesem Tag eine dunkle Ahnung, die ihn für lange Zeit nicht mehr verließ. Aber nur wenige kannten die ganze schreckliche Wahrheit und wußten, daß dies erst der Anfang allen Übels war.

Das Labor des Alchemisten

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