Читать книгу Das Vermächtnis. The Legacy - Richard Surface - Страница 11
ОглавлениеKapitel 7
Lech – 24. Februar 2003
Die Gegend wurde bergiger und die Bauernhöfe standen immer isolierter. Viele von ihnen saßen gefährlich nah an den Hängen, als könnten sie jeden Moment herunterrutschen. Weiter oben reihten sich Kiefern auf den geschwungenen Brauen der Berge. All das war ihm vertraut. Erinnerungen von vor zwanzig Jahren, als sein Großvater ihn zum ersten Mal in den Osterferien hierher gebracht hatte, wurden geweckt, und seine Laune flog hoch hinauf wie ein Habicht, der sich von einem alpinen Aufwind tragen lässt, als sie den Arlberg passierten. Der BMW schien sich seltsamerweise kaum zu bewegen, und es war, als würde die Landschaft an ihnen vorbeiziehen, während sie stillstanden. Gabriels Gedanken reisten in der Zeit zurück. Er starrte in den Schnee am Straßenrand, aber in seinem Kopf sah er seinen Großvater, wie er an Gabriels Bett saß, die Krawatte gelöst, Gabriel bis zum Kinn zugedeckt. Der Junge hörte mit großen Augen zu, während ihm sein Großvater die „Unter uns“-Geschichten erzählte. Sie fingen immer an mit „Weißt du, Gabriel, es wird dich vielleicht interessieren, was da passiert ist … aber erzähl niemandem davon. Das hier bleibt unter uns …“ Es waren Fantasien, die ihn bei Verstand gehalten hatten. Er lebte in diesem Drecksloch mit Unkraut vor der Tür, ungewaschenen Baumwolltüchern über Sofas, Betten und Lampen, schmutziger Wäsche, dreckigen Tellern. Zum Abendessen musste er sich Cornflakes machen, weil weder Mutter noch Vater in der Lage waren zu kochen. Mit neun brachte er sich selbst bei, wie die Waschmaschine funktionierte … Und wenn er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, tauchte aus dem Nichts Großvater auf. Vor der Tür, oder noch besser, vor der Schule, um ihn nach Hause zu bringen. Und Großvater schaffte es, dass alles verschwand. Er wusch Gabriels ganzes Leben in wenigen Momenten rein. Er brachte diese faszinierende, pulsierende Außenwelt in die seltsame, abgeschottete Atmosphäre seiner Kindheit.
Er sah sich selbst an diesem sonnigen Morgen, vierzehnjährig, wie er barfuß in der Auffahrt stand, während die Leichen seiner Eltern aus dem Haus gebracht wurden. Diese Polizistin, die ihren Arm um seine Schultern legte. Ihr schlechter Atem und ihr hölzernes Mitleid. Was wusste sie schon, wie es war, aus der Schule zu kommen und beide Eltern vorzufinden, wie sie zombieartig auf die Tapete glotzten. Oder Hausaufgaben zu machen zu plärrend lauter Musik, ‚Sweet Child O’ Mine‘ von Guns N’ Roses lief in einer Dauerschleife. Oder hungrig in einen leeren Kühlschrank zu starren. Oder schmutzige Unterwäsche tragen zu müssen, weil niemand gewaschen hatte. Was wusste sie von den höhnischen Bemerkungen auf dem Spielplatz. Oder wie es war, wenn dein bester Freund, dein einziger Freund, sich neue Freunde suchen musste, weil seine Eltern nicht mehr wollten, dass sie miteinander spielten, damit er nicht „was mit Drogen zu tun“ bekam?
Und dann war da Großvater in der Auffahrt. Sein Arm ersetzte den der Polizistin. Ohne einen Blick auf den Rettungswagen zu werfen, der mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter davonfuhr, brachte er Gabriel hinein, damit er sich anzog. Er sprach eine Weile von den San Francisco Forty-Niners. Dann sagte er, dass er einen Ort kenne, an dem man die Hamburger mit beiden Händen essen müsse. Großvater fand sie ein bisschen fettig, aber er würde sich sehr über Gabriels Expertenrat freuen …
Nun spürte Gabriel, wie die schneebedeckte, abgeschiedene Landschaft in seine Seele einkehrte und die wenigen, noch verbliebenen Funken erstickte, die das Feuer seiner Niederlagen überlebt hatten. Sein Großvater hatte die glühende Asche am Brennen gehalten … Ein Dunst aus Verlust und Schmerz legte sich über ihn wie der Nebel von San Francisco, den Songwriter stets gepriesen hatten, aber er, Gabriel, hatte immer gefunden, dass er von toten Dingen erzählte. Keine reine Bergluft mehr. Keine Funken mehr. Kein Großvater mehr.
„Ich möchte eine Sache mit Ihnen klären, Mr. Whyte.“
„Und das wäre?“
„Wenn ich in Lech etwas finde, Geld oder sonst was, dann geht es an Brandl in München.“
Whyte hob die Schultern.
„Sie denken, dass das falsch ist“, sagte Gabriel.
„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen.“
„Ich rechtfert…“, sagte Gabriel langsam, „… doch, genau das hab ich getan.“
„Musst du nicht. Ist mir scheißegal, was du erbst, falls es was gibt. Ich will nur den Kerl mit dem Seil.“
Gabriel wandte sich ab. Seine Kiefer waren angespannt.
„Strappado“, sagte er dann. „Woher wissen Sie davon?“
„Roark. Er hat mich angerufen.”
Kurz nach Mittag kamen sie in Lech an. Als sie die Hügel am Ortsrand hinauffuhren, verspürte Gabriel zugleich Schmerz und Freude. Wenigstens hier war das vergangene Leben seines Großvaters in der Zeit festgehalten. Lech am Arlberg hatte sich kaum verändert, seit Großvater ihn zum ersten Mal hergebracht hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Dort auf der linken Seite war „Hûs Nummer 8“, ein kleines Touristenrestaurant, und gegenüber der imposante Fünf-Sterne-Gasthof „Post“. Weiter vorne spannte sich die überdachte Brücke über den Fluss, der parallel zur Hauptstraße verlief. Dahinter war die Skischule, wo dieselben Lehrer dieselben Kurse über so viele Jahre gegeben hatten, dass ihre Namen in das Holz der Klassentafeln geschnitzt worden waren. Am anderen Ende der Hauptstraße befand sich die Kirche, hinter der die Anfängerhügel lagen. Großvater hatte ihn dort hingebracht, damit er erste Erfahrungen auf Skiern sammeln konnte.
Gabriel wies Whyte an, bei der überdachten Brücke links zu fahren. Sie kamen an zwei Kutschen vorbei, die Schlittenfahrten anboten. Gabriel öffnete das Fenster einen Spalt breit, und sofort füllte der Geruch von Pferdedecken den Wagen. Sie fuhren den Hügel hinauf, an Männern und Frauen in Designerskikleidung vorbei, die hinuntergingen, um zur Mittagszeit die Restaurants und Cafés zu füllen. Gabriel öffnete seinen Gurt und wandte sich um, um die bevölkerten Bürgersteige anzuschauen. Er dachte an Frau Köberl, Großvaters langjährige Haushälterin, eine typische Vertreterin der Arlberger – zuverlässig und loyal und liebevoll zu denen, die es für immer in ihr Leben geschafft hatten. Mit einem Mal überkam ihn Panik. Wusste Frau Köberl es schon? Der Gedanke, ihr die Nachricht vom Mord an seinem Großvater überbringen zu müssen, ließ sein Herz erzittern.
Whyte fuhr langsamer, um einen Skilehrer in einer roten Jacke vorbeizulassen, der ein halbes Dutzend Kinder über die Straße leitete. Zwischen den Gebäuden erhaschte Gabriel einen Blick auf den Bungalow seines Großvaters und den Bauernhof der Familie Haas. Es waren die beiden Bezugspunkte in seiner Kindheit gewesen, ein Yin und Yang, das ihn einst amüsiert hatte: das schwarze, vor sich hin rottende Fachwerkhaus, das diesem Koboldkönig Haas gehörte, und der cremefarbene, stuckierte Bungalow ein Stück den Hügel hinunter, den sein Großvater gebaut hatte. Zwei Bauwerke, abseits von Lech, am Ende einer einsamen Straße. Das schwarze Gebäude lag auf dem Hügel, als würde es über dem weißen lauern und darauf warten, zuzuschlagen, oder als wollte es das andere beschützen. Sie fuhren weiter hinauf. Der Liftwärter, der vor dem Schlepplift zum Trittkopf herumlungerte, warf dem BMW einen neugierigen Blick zu. Haas nahm schon lange keine Gäste mehr auf, und niemand fuhr so weit hinauf. Außer, um umzudrehen.
Whyte fuhr in den Vorhof und schaltete den Motor aus. Das Haus war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Der Schnee glitzerte im Sonnenlicht.
„Sie ist noch nicht von der Kirche zurück“, sagte Gabriel.
Whyte war sehr ruhig. Seine Hände lagen in der „Zehn vor zwei“-Position auf dem Lenkrad. „Aber warum sind die Vorhänge zugezogen?“, fragte er.
Als Gabriel nicht antwortete, griff Whyte zum Handschuhfach und nahm die .25er heraus.
Gabriel öffnete umständlich die Tür. Mit schnellen, nervösen Schritten ging er zur Straße vor. Er hoffte, Frau Köberls gebeugte, etwas o-beinige Gestalt zu sehen. Aber die Straße unter ihm war verlassen, so weit er sehen konnte, bevor sie sich um eine Pension schlängelte. Er drehte sich um und ging zurück zu dem Bungalow. Dort holte er seinen Schlüssel heraus, schloss die Tür auf und schaltete das Licht an. Er ging hinein und erstarrte.
„Was zum …“
Der Raum war verwüstet. Die Regale an den Wänden waren leergefegt, Bücher lagen auf dem Boden. Die Gläser der Bilderrahmen waren zerschlagen, wie es aussah von einem Hammer, und die Bilder waren zerrissen oder zerknüllt worden. Hängeordner aus den Schreibtischschubladen waren auseinandergerupft und der Inhalt in lange Streifen gerissen worden. Eine Leinwand mit der Reproduktion eines Temperagemäldes von della Francesca war aus dem Rahmen gerissen und in den Kamin geworfen worden. Das Gehäuse des Computers war geöffnet worden, die Festplatte entfernt.
Whyte entsicherte die .25er und huschte durch den Flur. Einen Moment lang sah sich Gabriel noch mit offenem Mund in dem Raum um. Dann stolperte er denselben Weg entlang bis zum großen Schlafzimmer. Dort ging er zum Schrank und öffnete ihn. Das Aufnahmegerät war eingeschaltet, sein Licht blinkte, aber es gab keine Kassette. Er wollte gerade gehen, als er Whyte aus dem Schlafzimmer der Haushälterin rufen hörte.
Sie lag auf dem Boden neben dem Bett, mit dem Gesicht nach unten. Ihre Hände waren ineinander geklammert und nach vorne gestreckt, als hätte sie das kleine, Öl-auf-Glas-Gemälde der Kreuzigung angebetet, das über der Stelle hing, an der einmal der Nachttisch gestanden hatte. Nun lag er auf der Seite. Die Matratze lehnte an der Wand. Die Schubladen waren aus der Kommode herausgezogen worden, und ihr Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Das Telefonkabel war aus der Wand gerissen worden. Hatte sie versucht, Hilfe zu rufen, als er sie fand? Ein Rosenkranz aus Holzperlen war um die Finger ihrer rechten Hand gewunden. Von ihrem Körper stieg stechender Uringestank auf.
Whyte kniete sich neben sie. Er zeigte auf einen entfärbten Kreis am Hals der alten Frau.
„Der Henker?“, flüsterte Gabriel und wagte es nicht, sich von der Tür wegzubewegen.
„Muss wohl.“
Gabriel starrte auf die ausgestreckten Arme und die ineinander geklammerten Hände. Dann hob er langsam den Blick zu dem Gemälde.
„Er hat sie beten lassen“, sagte Whyte, der seinem Blick folgte. „Er hat sie beten lassen, während er sie tötete.“
Gabriel stieg über die Leiche und hob das Kreuzigungsgemälde an. Er fing das schwarze Stück Plastik auf, das hinter dem Rahmen herunterfiel. Es war eine Kassette.
„So hat sie immer auf etwas gedeutet“, sagte er und musste schlucken, als ihn die Erinnerungen überfielen. „Beim Ostereiersuchen. Um mir zu zeigen, wo …“
Er konnte den Satz nicht beenden.
Whyte fuhr schnell in den Ort hinunter und hielt vor der Polizeistation, um Gabriel rauszulassen. „Ich treffe dich nachher da drüben“, sagte er zu Gabriel und zeigte über die Schulter auf eine Bar. „Wenn du mit den Bullen fertig bist.“
„Was machen Sie in der Zeit?“
„Nachforschungen“, sagte Whyte grimmig.