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Kapitel 8

München – 24. Februar 2003

Der Interpolhubschrauber erhob sich vom Münchner Flughafen in einen wolkenlosen Himmel und drehte nach Süden in Richtung der schneebedeckten Bergspitzen der Voralpen ab. Hinter diesen erhoben sich die österreichischen Alpen wie Glasscherben. Commandant Georges Savarin ignorierte das beeindruckende Panorama. Er sah in Richtung Westen über die flache, monotone Ebene, die sich bis Paris zog … südlich von Paris. Seine Gedanken sollten bei der ermordeten Haushälterin in Lech sein, wo sie gerade hinflogen. Stattdessen erinnerte er sich an einen anderen Hubschrauberflug, einen, der vor langer Zeit während eines schrecklichen Sturms stattgefunden hatte, nicht an einem strahlend blauen Himmel. Savarin selbst hatte diese Reise nicht unternommen. Jemand anderes, ein Fremder, hatte sie ihm vor fünfzehn Jahren beschrieben. An diese Beschreibung erinnerte sich Savarin jedes Mal, wenn er in einem Hubschrauber saß, und er sah alles so klar und glänzend vor sich wie Bergschnee.

Savarin hatte auf seinem privaten Computer genaue Aufzeichnungen darüber, was er in dieser Nacht gehört hatte. Spät am gestrigen Abend hatte er das Worddokument „Schopenhauer“ geöffnet und zu lesen begonnen, um seine Erinnerung aufzufrischen. Nach ein paar Zeilen hatte er sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und aus dem Fenster geschaut. Es war nicht nötig. Er konnte alles Wort für Wort auswendig aufsagen, als hätte er es gestern erst geschrieben. Er konnte sogar die eklige Zigarre riechen und den Hundeblick des Rentners, der sie gepafft hatte, vor sich sehen …

„Ein Haufen Geld … aus all den illegalen Verkäufen“, lautete die offizielle Linie, die Begründung für die Beteiligung der Abteilung für Kunstdiebstahl an dem Fall Schopenhauer. Das wahre Mordmotiv hielt Savarin zurück. Es war in seinen privaten Aufzeichnungen dokumentiert und in sein Gedächtnis gebrannt. Es war seine, Georges Savarins, Entdeckung gewesen. Es würde allein sein Verdienst sein, wenn er es entdeckte, bewies, der ganzen Welt verkündete, damit diese ihn bewundern konnte. Und es hatte alles angefangen mit der seltsamen Begegnung in einer Bar. Mit einem jämmerlichen Rentner.

Klatsch nahm Savarin als Kunstraubermittler sehr ernst. Andere Kriminelle hatten ihre omertà, ihre Schweigepflicht. Kunstdiebe hatten ihre Klatschkreise. „In diesem Job“, erklärte der Commandant neuen Anwärtern, „müssen Sie sich unter die Leute mischen.“ Und Savarins bedeutendste persönliche Erfahrung, welchen Wert dieses Sich-unter-die-Leute-Mischen tatsächlich hatte, fand vor fünfzehn Jahren in der Bar César des Hôtel de Crillon in Paris statt. Er war gerade damit fertig geworden, eine Flasche von dem 66er Clos de Mouches in die Kehle eines zügellosen Kunsthändlers zu schütten, in dem fruchtlosen Versuch herauszufinden, wer den Dürer, der von einer serbischen Putzfrau aus der Kunsthalle Bremen gestohlen worden war, an das Tong-Syndikat in Macao vertickt hatte. Savarin bekam nichts für seine Anstrengungen, außer pochenden Schläfen. Die Kopfschmerzen kamen allerdings nicht vom Wein, den sein Gast komplett allein getrunken hatte, sondern von dem Zigarrenrauch, den ein alter Mann, der allein an der Bar saß, produzierte. Als der Kunsthändler einsah, dass keine weitere Flasche für ihn herausspringen würde, ging er. Savarin orderte die Rechnung und wollte möglichst schnell an die frische Luft, als sich, zu seiner Verwunderung, der alte Mann zu ihm setzte.

„Ich konnte leider Ihr kleines Tête-à-Tête mit diesem Mann nicht überhören.“

Savarin wusste, dass er selbst leise gesprochen hatte. Der Kunsthändler hingegen hatte mit jedem Glas mehr Volumen in der Stimme gehabt.

„Sie sind von der Polizei“, sagte der alte Mann. „Richtig?“

„Stimmt.“

„Und Sie suchen nach verschwundenen Kunstwerken?“

„Sicher. Haben Sie welche?“

Der alte Mann ignorierte seinen Sarkasmus. Er sah Savarin bewundernd aus seinen trüben Augen an. Savarin fand ihn dreist. Er unterschrieb die Rechnung und stand auf.

Der Rentner hielt ihn am Arm fest. „Ich weiß etwas“, sagte er. „Etwas Wichtiges. Es ist vor langer Zeit passiert, und seitdem beschäftigt es mich. Nicht damals, da nicht. Da war es ein Abenteuer. Aber jetzt, na ja, das Denken ändert sich in meinem Alter. Sie werden sich dafür interessieren.“

Die Ernsthaftigkeit in den Worten des Mannes brachte Savarin dazu, sich wieder hinzusetzen und zuzuhören, wenigstens für ein paar Minuten. Er drehte sich so, dass er so weit wie möglich von der Zigarre weg saß. „Sie haben mit Kunsthandel zu tun?“, soufflierte Savarin und hoffte, es möge schnell gehen.

„Ich bin im Öl- und Gasexplorationsgeschäft. Ich bin Chemieingenieur. Meine Firma fertigte Karten vom Ozeangrund in tausenden Metern Tiefe an.“

Mein Gott, dachte Savarin. „Ähm, Monsieur …?“

„Gossens.“

„Monsieur Gossens, das einzige Öl, mit dem ich zu tun habe, ist Leinöl.“

Der Rentner sah ihn aus feuchten, roten Augen an. Savarin fühlte sich sofort schuldig, so als hätte er gerade den Familienhund getreten, und sagte schnell: „Für welche Ölfirma haben Sie denn gearbeitet?“

„Für Kitchener, zuvor Getty, Statoil, Mobil … ich hatte eine Consultingfirma. Wir arbeiteten nach Auftrag.“

„Und Sie haben ein Gemälde viele hundert Meter tief auf dem Grund der Nordsee entdeckt?“

„Sie sind ein zynisches Arschloch, hab ich recht?“

Savarin hob die Schultern. „Mag sein.“

„So war ich auch. Wegen des Krieges. Ich habe meine Firma nach dem Krieg gegründet. Ich konnte nicht mehr für eine Organisation arbeiten. Das Militär ist nämlich nichts anderes: eine Organisation … Erst war es hart. Es war gleich im ersten Jahr, als es geschah …“

Savarin warf einen Blick auf die Uhr.

„… und als ich es fand. Nicht hunderte von Metern tief. Zwei Meter tief. Nicht in der Nordsee. In einem Fluss …“

„Was haben Sie gefunden?“

„… tausend Kilometer von der Küste weg auf dem Festland, mitten in …“

„Was haben Sie gefunden?“

„… Frankreich. Während eines höllischen Sturms. Aber ich danke Gott für diesen Sturm. Er hat unser Leben …“

„Was haben Sie gefunden?“

Die glasigen Augen des Rentners wurden undurchdringlich, und sein Blick schien sich nach innen zu wenden. „Ich weiß es nicht“, sagte er schlicht.

Savarin schnaufte kurz – und meinte damit sich selbst. Er stand wieder auf. „Ich denke, Monsieur“, sagte er gelassen. „Es ist schon spät …“

„Der Auftraggeber sagte, es sei ein Schatz. Die anderen, die Arbeiter, die Jungs, die mit der Ausrüstung arbeiteten, die das Ding hochzog, die haben ihm das abgekauft. Ich nicht …“

Savarin rührte sich nicht. Eine Erinnerung klopfte leise an. Savarins enzyklopädisches Wissen über verschwundene Kunstwerke saß, so jedenfalls stellte er es sich vor, in einem bestimmten Teil seines Gehirns. Dieser Teil war gerade stimuliert worden. „Monsieur Gossens, in einem Fluss in Frankreich, sagten Sie. Welcher Fluss?“

„… weil ich es wusste. Ich hatte die Schallaufnahmen gemacht, das Profil von dem Ding. Ich, ganz allein. Der Auftraggeber wollte es so.“

„Entschuldigen Sie, Monsieur, aber wo in Frankreich ist dieser Fluss, bitte?“

Der Rentner schien genervt. „Wo? Ich weiß nicht wo. Mitten in einem Sturm, wir ertranken fast in der großen Flut, wir …“ Plötzlich lächelte der Rentner und unterbrach sich, um die Zigarre wieder anzuzünden. „Ja, ich erinnere mich. Lustig, wie eine Unterhaltung die Dinge zurückbringt. Das hab ich nie. Darüber gesprochen, meine ich. Außer mit meiner Frau, bevor sie starb. Und sie sagte: ‚Louis, du musst damit zur Polizei gehen, versprich mir das‘. Aber die Polizisten vor Ort, die würden nur gähnen, oder nicht? Sie spielen offensichtlich in einer anderen Liga. Übrigens, haben Sie eigentlich so etwas wie einen Ausweis? Ich meine, es wäre schon gut zu wissen, ob Sie wirklich ein Bulle sind.“

Savarin zeigte ihm seine Marke.

„Interpol, was?“

„Monsieur … der Ort in Frankreich?“

„Jetzt sind Sie höflich. Setzen Sie sich wieder hin?“

Savarin blieb stehen und wartete.

„In der Nähe von Paris: Daran habe ich mich gerade erinnert. Unser Auftraggeber hatte einen Hubschrauber in Deutschland entdeckt. In Frankreich konnte er nach dem Krieg keinen finden, aber im besetzten Deutschland, im französischen Sektor, konnte man alles bekommen. Also ging ich nach Deutschland, wo er eine Crew zusammengestellt hatte, alles Deutsche, alles Verzweifelte, die für Geld alles tun würden. Aber in der Nacht zu fliegen, war selbst den Deutschen nicht geheuer. Zu Tode erschrocken hat uns der Flug. Das Wetter, unglaublich. Jeder im Frachtraum bekreuzigte sich und fluchte. Der Pilot und sein Copilot schrien sich gegenseitig an, um den Sturm zu übertönen. Es machte die Sache nur schlimmer, dass wir nicht wussten, wohin wir flogen. Wir durften es nicht wissen. Es war Teil des Deals … Setzen Sie sich jetzt hin?“

„In der Nähe von Paris, sagten Sie, Monsieur. Welche Richtung? Norden? Osten?“

„Der Flug war wie der schlimmste Moment des Krieges, wenn – bumm! – Ihr bester Freund eine Granate abbekommt. Sie berühren seine Brust, und die ist Hackfleisch, und …“

„Monsieur …“

Der Rentner rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarre. „Wir sind nur so herumgeworfen worden. Die Flügel haben versucht, sich durch den Orkan zu hacken, und schließlich rief der Copilot etwas und zeigte nach rechts, wo ein schwaches Glimmen zu sehen war. Paris. Der Pilot drehte nach links ein, als wir gerade ein Luftloch erwischten und wie ein Stein herunterfielen. Dann stabilisierte er das Ding. Einer der Deutschen kotzte über die Bank. Um von dem Gestank wegzukommen, kroch ich ins Cockpit. Ich hörte, wie der Pilot etwas rief und auf etwas deutete. Es war Ne-irgendwas oder Meirgendwas. Und dann begann unser Landeanflug …“

Savarin setzte sich abrupt hin. Er beugte sich vor und achtete nicht auf den Rauch der Zigarre, der über sein Gesicht strich.

„Mennecy“, sagte er.

Der Rentner sagte, er hätte gern einen Armagnac, einen guten. Savarin ging an die Bar und brachte ihm ein Glas. Der alte Mann wirbelte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in dem tulpenförmigen Glas herum und steckte die Nase hinein. Er inhalierte lautstark. „Es ist Ihnen doch nicht zu spät, Monsieur le Capitaine?“

„Nein.“

„Vor einem Moment haben Sie noch auf die Uhr gesehen.“

„Es war Mennecy, richtig?“

Der Rentner trank einen Schluck, zog dann an seiner Zigarre und dachte über die Frage nach. „Ich kann es nicht beschwören, aber ja, Mennecy … das klingt sehr nach …“

„Mennecy liegt südlich von Paris.“

„Süden, ich bin mir mit Süden sicher. Wir haben Paris von Osten aus angeflogen. Als die Piloten Paris sahen, drehten wir nach links ein. Ein paar Minuten später waren wir auf dem Boden. Die deutsche Mannschaft … Ich erinnere mich, dass ich dachte, unser französischer Auftraggeber musste sie aus einem Kloster angeheuert haben. Sie küssten dauernd ihre Kruzifixe. Wir stolperten raus. Ein paar wurden vom Wind umgeweht. Es war wirklich …“

Savarin beugte sich über den Tisch. „Sie haben etwas gefunden, Monsieur, in Mennecy, richtig? Nachdem Sie gelandet sind. Etwas, das ungefähr zwei Meter hoch ist. Es war aus …“

„Holz.“

Savarin lehnte sich wieder zurück. „Nicht Holz“, sagte er. „Nein. Das kann nicht sein.“

„Eine Kiste“, antwortete der Rentner. „Ungefähr zwei Meter lang, wie Sie gesagt haben. Sie war tief im Schlamm des Flusses vergraben.“

Savarin starrte ihn an. „Eine Kiste.“

„Ein Schatz, hatte mir der Auftraggeber gesagt. Rudolf nahm an, es handelte sich um ein teures Service, Tafelsilber, Familiensachen mit einem Wappen drauf, vielleicht ein paar Fotoalben. Für einen Deutschen war Rudolf realitätsfern. Ich meine, Fotoalben in Wasser und Schlamm vergraben für wer weiß wie lange. Toller Ingenieur, der Rudolf, aber …“

„Aber Sie wussten es, richtig, Monsieur?“

Der Rentner wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so jämmerlich, sondern sehr weise.

„Die Kiste raufzuholen hat eine Weile gedauert. Ich hatte die Ausrüstung schon in Aktion gesehen. Sie konnte problemlos eine halbe Tonne Ölrohre heben. Aber jetzt zog sie gegen den Schlamm. Schweren, feinsandigen Schlamm. Es spannte, es spannte … die Ablagerungen, das Gewicht, wahrscheinlich hundert Jahre, vielleicht mehr. So lange braucht eine Kiste mit diesem Gewicht, um sich so tief in diese Art Flussbett zu setzen. Nur eine Vermutung, natürlich.“

„Eine, die auf Sachkenntnis beruht, Monsieur. Zweihundert Jahre, das wäre meine sachkundige Vermutung. Allerdings weiß ich nichts über Geologie.“

„Dafür, Monsieur le Capitaine, kennen Sie sich mit Geographie aus.“

Savarins Gesicht verriet nichts.

„Mennecy, Monsieur le Capitaine, was war in Mennecy?“

„Das wollten Sie mir gerade erzählen, Monsieur. Sie wissen, was in der Kiste war. Kein Tafelsilber, kein Familiengeschirr, keine Fotoalben, kein Nazigold …“

Gossens starrte ins Nichts. Seine unteren Augenlider hingen weit genug herab, um die rötliche Schleimhaut zu zeigen. „Ich hätte etwas sagen sollen. Aber ich hatte Angst. Es war acht Jahre nach dem Krieg, aber ich war noch immer verzweifelt …“

Savarin hob in einer verständnisvollen Geste die Hände.

„… und wollte endlich loslegen. Ich brauchte das Geld. Das taten wir alle. Nicht so wie heute. Wenn heute die Kids Geld brauchen, dann für etwas, das sie sich in die Ohren stecken, um die Welt auszublenden. Damals bedeutete Geld eine Mahlzeit am Tag statt keiner. Es war eine harte, eine wirklich harte Zeit.“

„Monsieur“, sagte Savarin ruhig, „die Sorte Kunst, die nicht durch Wasser zerstört wird, wie Sie sicherlich …“

„Außerdem konnte ich nicht zur Polizei. Wie denn auch? Es war die Polizei. Oder das Militär. Oder eine kriminelle Bande. Ich hatte Angst. Der Priester hat mir vergeben. Meine Frau hat mir vergeben. Ich will es jetzt, fünfunddreißig Jahre später, wiedergutmachen. Vielleicht können Sie dieses Verbrechen ja noch aufklären. Ich kann es nicht.“

Savarin hatte es aufgegeben, irgendeinen Sinn in diese Freistilerzählung zu bringen. Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und wartete.

„Rudolf war brillant“, fuhr der alte Mann fort. „In diesem Sturm, in dem man nicht mal die Augen offen halten konnte. Als würde jemand mit einem Feuerwehrschlauch direkt in Ihr Gesicht spritzen, so hat einem der Wind den Regen ins Gesicht gepeitscht. Aber Rudolf hatte es geschafft, die Ketten durch den ganzen Matsch da runterzubekommen, damit wir das Ding hochziehen konnten. Gott, wie das gestunken hat! Wie Schwefel, wie faule Eier! Aber das Ding kam direkt hoch. Dafür hatte der Franzose mir zu danken. Rudolf hat das später gesagt. Meine Kartografie war präzise, sagte er. Wenn sie auch nur einen halben Meter daneben gewesen wäre, hätte uns das Ding wegrutschen können, so bedeckt mit glitschigem Matsch, wie es war. Und dann hätte das Tafelsilber Schaden nehmen können. Tafelsilber!“

Mit einem Mal spürte Savarin, wie seine Ungeduld verschwand. Er sagte mit aufrichtiger Neugier: „Wissen Sie, Monsieur, das ist interessant. Interpol hat es nie mit Schallmessgeräten versucht. Wie funktioniert das? Kann man die Geräte, sagen wir mal, auf ein Schloss ausrichten oder einen Banktresor, und die Umrisse von Dingen sehen? Wie bei einer Röntgenaufnahme?“

Der alte Mann zündete seine Zigarre neu an und betrachtete die Flamme.

„Eine Statue“, sagte er.

Das Wort schien in der Luft zu hängen und sich mit dem Rauch zu verbinden. Savarin atmete seinen köstlichen Geruch ein. Für einen Moment konnte er es bildlich in den sich kräuselnden Wölkchen, die von der Zigarre aufstiegen, vor sich sehen.

„Zuerst“, sagte der Rentner, „dachte ich ja, es sei eine Leiche. Eine Leiche, die auf der Seite liegt, mit einer Kiste zu ihren Füßen. Aber die Werte der Dichte zeigten, dass es Metall sein musste, hohles Metall. Auf einem Steinfundament.“

Savarin saß ganz still und starrte auf die Zigarre. Der Alte nahm einen langen Zug und blies den Rauch gegen die Decke. „Dann haben wir es rausgezogen, wie ich gesagt habe, und ans Ufer geholt. Wir haben es aufgestellt, dazu mussten alle zehn von uns mitanpacken, fünf auf jeder Seite. Das Ding drückte uns in die Schultern, unsere Füße rutschten im Gras weg und die Kiste war glitschig vor Matsch. Der Franzose brüllte uns an, wir sollten vorsichtig sein, als würden wir den Sarg seines Sohnes tragen. Wir schafften das Ding in den Hubschrauber. Und es flog weg. Und dann passierte das Schreckliche. Und deshalb danke ich Gott für den Sturm. Wenn der Sturm nicht gewesen wäre, wären wir alle gefangen genommen worden. Sogar getötet.“

Der Alte hob sein Glas und leerte es. Er sah Savarin teilnahmslos an, der zurückstarrte und eifrig darauf bedacht war, ihm etwas anzubieten. Er deutete auf das Glas. „Noch einen, Monsieur?“

„Oh ja, gern.“

Savarin schnippte herrisch mit den Fingern. „Zwei Armagnac“, rief er dem pikierten Kellner zu, dann lächelte er und sagte zu dem Rentner: „Ich denke, ich schließe mich Ihnen an. Noch eine Zigarre?“ Wieder schnippte er nach dem Kellner. „Und den Humidor, bitte.“

Bis die Drinks kamen und eine Zigarre gewählt war, sprachen sie nicht. „Für später“, sagte Gossens und steckte die Zigarre ein.

„Santé, Monsieur“, sagte Savarin und hob sein Glas. Sein Gebaren zollte von Respekt und deutete eine Entschuldigung an.

Der alte Mann neigte würdevoll den Kopf und akzeptierte beides. „Santé, Monsieur le Capitaine.“ Er ließ sich Zeit mit seinem Drink, und Savarin wartete geduldig und still.

„Sie werden wissen wollen, was ich mit der ‚schrecklichen Sache‘ meine“, sagte Gossens endlich. „Es ist einfach nur folgendes passiert: Die Polizei kam. Oder das Militär. Oder Kriminelle. Wie will man das in so einem Sturm sagen? Ich wusste durch die wenigen Worte, die sie über ein Megaphon riefen, dass es Franzosen waren. Dann kamen sie über eine Brücke gerannt, die fünfzig Meter weiter flussaufwärts war. In dem Moment war es wieder wie im Krieg. Mir wurden die Knie weich. Dann rannte ich. Wir alle rannten.

„Außer dem Franzosen, meinem Klienten. Er blieb stehen, ganz ruhig, als hätte er genau damit gerechnet. Er hob eine Pistole. Er zielte auf den Kerl mit dem Megaphon. Peng. Er fegte ihn weg. Und dann ging es erst richtig los. Sie hatten … Maschinengewehre. Ich sprang in den Fluss und versteckte mich hinter einem Büschel Schilf. Zwei von diesen Männern rannten die Böschung hinunter und schwenkten, nur einen Schritt von meinem Kopf entfernt, ihre Maschinengewehre hin und her. Ich dachte, sie würden den Förderbagger überprüfen …“

Der Alte starrte in sein Glas. Ein Schauer überlief ihn, und er nahm einen tiefen Schluck.

„Haben diese Soldaten oder Kriminellen – haben sie gesagt, wonach sie suchten?“, fragte Savarin.

„Alles, was ich gehört habe, waren Kugeln.“

Savarin spürte Enttäuschung, die aufgewogen wurde, sagte er sich, von einer unbezahlbaren Enthüllung: die Kiste und was, wie er wusste, darin gewesen sein musste. Und doch …

„Dann“, sagte Gossens, „hörte ich meinen Auftraggeber.“

Savarin schaute auf. „Den Franzosen?“

„… etwas, das mein Auftraggeber sagte, der Franzose, ja. Aber erwarten Sie nicht zu viel. Es war sehr wenig. Aber wer weiß? Vielleicht hilft es Ihnen ja.“

Savarin stützte das Kinn auf seine Hände und blieb absolut ruhig.

„Ich stand also bis zum Hals im Wasser und betete, dass sie endlich verschwanden, diese beiden bewaffneten Männer, bevor ich erfror. Aber sie gingen nicht. Weil sie auf ein Boot feuerten, ein kleines, das mit voller Geschwindigkeit den Fluss runterfuhr. Und auf diesem Boot war mein Auftraggeber, der Franzose … und noch ein Mann.“

Gossens sah zu den hohen Spiegeln hinter der Bar, die die schwirrenden Lichter des Verkehrs reflektierten, der um den Place de la Concorde wogte. „Mennecy, hm?“, sagte er nachdenklich.

„Mennecy, Monsieur“, sagte Savarin leise. „Nur eine kurze Fahrt nach Süden von hier, wo wir uns gerade befinden.“

„Eine Ewigkeit von hier, Monsieur le Capitaine.“ Er hob das Glas und prostete ihm zu. „Da stand ich, wissen Sie, und wurde langsam zu Eis. Ich hielt mich an dem Schilf fest, der mir die Hände zerschnitt, und versuchte, ruhig zu atmen, obwohl der Sturm ohnehin jedes Geräusch übertönte. Weshalb der Franzose wohl auch dachte, es sei sicher, seinen Namen zu rufen.“

„Wessen Namen, Monsieur?“

„Den Namen seines Begleiters.“

„Der Franzose war Ihr Auftraggeber, sagen Sie.“

„Richtig. Wir kannten ihn nur als ‚Monsieur‘.“

„Aber es war jemand bei ihm.“

„Jung genug, um sein Sohn zu sein. Aber das bezweifle ich.“ „Warum?“

„Weil er Deutscher war.“

„Deutscher?“

„Oder Österreicher oder aus der deutschen Schweiz. Aber ich glaube deutsch.“

„Und das wissen Sie, weil …“

„Als ich in den Fluss gesprungen bin, schlug ich mir fast den Schädel an dem Boot auf – es war im Schilf versteckt. Der Franzose war gleich hinter mir, und er kletterte auf das Boot, als er glaubte, allein zu sein. Dann rief er nach seinem Begleiter, rief seinen Namen. Dann ließ er den Motor an, und ich hörte, wie jemand schwer auf das Boot sprang. Es war der Begleiter. Er muss eine Kugel abbekommen oder sich beim Springen wehgetan haben, weil er fluchte. ‚Scheiße!‘, sagte er, gerade als der Motor voll aufdrehte. Es schoss direkt an mir vorbei. Kugeln prasselten auf das Wasser. Die Angreifer feuerten auf das Boot.“

„Und Sie hörten also den Namen des Deutschen.“

„Nur den Vornamen.“

„Und der wäre?“

„Max.“

Savarin ließ die Hände sinken und lehnte sich zurück.

„Könnten Sie ihn mir beschreiben?“

„Von der Statur her wie Sie, Monsieur le Capitaine: groß, breitschultrig, kräftig. Ungefähr mein Alter zu der Zeit. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es nicht viele Deutsche in meinem Alter gab, die den Krieg überlebt hatten, geschweige denn die mit Franzosen befreundet waren.“

„Befreundet?“, fragte Savarin neckisch.

„Nein, Monsieur le Capitaine, nicht diese Art von Freundschaft. Aber da war eine Intimität. Enge Freunde, vielleicht, oder Verwandte.“

„Der Franzose“, rechnete Savarin laut, „wäre heute um die achtzig. Vielleicht ist er schon tot. Und der Deutsche, Max, müsste so um die sechzig sein, vielleicht älter.“

Jetzt fühlte sich Savarin entmutigt. Es war nicht genug, um damit etwas anzufangen. Es klingelte nichts in seinem geistigen Archiv. Ein Franzose, heute um die achtzig, ein Deutscher namens Max, heute um die sechzig. Er würde bei der Police nationale nachfragen und auch beim Militär. Aber seine Erwartungen, irgendwas in den Akten über jene Nacht vor fünfunddreißig Jahren zu finden, lagen bei null.

Savarin war in dieser Nacht nach Hause gegangen, zu aufgewühlt, um zu schlafen. Der Bericht, den er in den frühen Morgenstunden schrieb, war extrem detailliert und betonte das Fachwissen von Louis Gossens sowie die völlige Abwesenheit irgendeines Motivs, sich eine solche Geschichte auszudenken. Aber als er es im kalten, grauen Bürolicht am nächsten Tag durchlas, wurde ihm klar, dass seine Begeisterung ihm die Urteilskraft verwässert hatte. Louis Gossens’ Erinnerung an zwei Männer, ein Franzose und ein Deutscher namens Max, wozu sollte die gut sein? Er dachte darüber nach, Gossens für weitere Befragungen einzubestellen, nahm dann aber davon Abstand. Savarin war überzeugt, dass alles, was Gossens wusste, in der letzten Nacht gesagt worden war. Als Informationsquelle hatte ihm der pensionierte Chemieingenieur gegeben, was er hatte. Savarin konnte seinen Bericht nur noch zu den Akten legen, warten und die Augen offen halten.

Und dann, fünf Jahre später, war er da: Max. Maximilian Schopenhauer, deutsch, groß, breitschultrig, und vor allem: ein Kunsthändler und Berater von Top-Klienten wie Jean Paul Getty und Sidney Kitchener, den zwei Magnaten, die ein Vermögen mit weltweiten Ölgeschäften gemacht hatten. Getty Oil und Kitchener Petroleum besaßen die neueste Hochleistungsförderbaggerausrüstung. Und sie beschäftigten Ingenieure als Berater, die Experten in Sonartechnik waren.

Zu diesem Zeitpunkt stürzte Savarin in sein persönliches Elend.

Weil er davon überzeugt war, dass Maximilian Schopenhauer die Statue hatte oder wenigstens wusste, wo sie war, ordnete Savarin an, dass der deutsche Kunsthändler überwacht wurde, dass seine Telefone abgehört und seine Kreditkarten überprüft wurden, und das alles ohne einen gerichtlichen Beschluss. Es war unvermeidlich, dass Schopenhauer davon Wind bekam. Er engagierte einen Anwalt, zerrte Interpol vor Gericht und verklagte die Behörde und Savarin erfolgreich wegen Belästigung durch die Polizei und Missbrauch der Datenschutzgesetze. Savarin wurde öffentlich von Interpols Generalsekretär gerügt, vor die Kommission gezerrt, die für den Zugang zu und die Verwendung von Interpolakten verantwortlich war, und kurzerhand degradiert, für den Verstoß gegen Artikel sechzehn der Regeln für internationale Polizeizusammenarbeit und die interne Kontrolle der Interpolarchive.

Savarin hätte kündigen können, aber stattdessen entschied er sich für das Fegefeuer, was für jemanden mit seinem Stolz eher die Hölle war. Er saß in der Telefonzentrale des I-24/7 Supportcenters in Lyon. Er organisierte internationale Symposien über Diebstahl und illegalen Kunsthandel. Er leitete das Team, das die Datenbanken der Interpol mit neuen Einträgen über dreißigtausend gestohlene Kunstwerke fütterte. Einmal sollte er Münzhändler anrufen, um sie vor dem illegalen An- oder Verkauf so genannter „Lavaschätze“, bestehend aus alten römischen Goldmünzen und Goldtafeln, die von Tauchern im Golf von Lava vor der korsischen Küste gefunden worden waren, zu warnen. Näher kam er einem echten Kunstraubfall in dieser Zeit nicht. Als ihn einer der Händler fragte, welches Recht die französische Regierung hatte, die Münzen als „einzigartiges maritimes Kulturerbe und Teil des französischen Staatseigentums“ zu bezeichnen, lachte Savarin nur düster und antwortete: „Die Franzosen machen das seit Jahrhunderten, Monsieur, angefangen mit der Revolution. Der Staat richtet die Eigentümer hin und beansprucht deren Besitz als kulturelles Erbe. C’est la vie.“

„C’est la mort“, murmelte der Händler und legte auf.

Aber die meiste Zeit hielt Savarin den Mund, verhielt sich unauffällig und schließlich, nach Jahren demütigender Schufterei in Interpols Schützengräben, bekam er eine zweite Chance als Leiter der Abteilung für Kunstdiebstahl. Zu verdanken hatte er das seinem angeborenen Ermittlertalent und seiner umfassenden Kenntnis der Kunstraubszene. Aber diese Jahre der Sühne hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war zu einem Mann geworden, der nach Rache dürstete, und er hatte nur eine einzige Mission: Zu beweisen, dass er immer schon richtig lag, was Schopenhauer betraf, wurde zu einer dauerhaften Besessenheit.

„Monsieur le Commandant“, rief der Co-Pilot durch den Lärm, den der Hubschrauber machte, und zeigte mit dem Finger auf die Plexiglasscheibe. „Lech“, rief er. Savarin sah hinunter. Mühsam konnte er einen Tennisplatz unter ihnen erkennen, der während des Winters als Landeplatz diente. Der Hubschrauber schwebte ein paar Sekunden in der Luft, dann senkte er sich ab. Der Lärm der Rotorblätter wurde von den sie umgebenden Bergen verstärkt. Der Co-Pilot zeigte wieder auf etwas, diesmal auf einen Streifenwagen, der neben dem Landeplatz wartete.

Die Blätter lösten einen blendenden, grauweißen Schneesturm aus, aber die Landung war sanft. Der Rotor wurde ausgeschaltet, und der hohe Heulton ließ sofort nach. Ein örtlicher Polizist lief geduckt zur Hubschraubertür. Savarin konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er wusste, dass der Mann zu jung war, um einer der Beamten zu sein, die beteiligt gewesen waren, als man Schopenhauers Telefon verwanzt hatte.

Der Beamte stellte sich vor und zeigte den Berg hinauf. In einiger Entfernung, da, wo die Straße endete, stand Schopenhauers Bungalow.

Als Savarin hinaufblickte, dachte er, dass es nie eine bessere Chance gegeben hatte, seinen Ruf wiederherzustellen, als jetzt. Schopenhauers Mord konnte nur eines bedeuten: Nicht Geld, sondern die Statue. Jemand oder mehrere waren hinter ihr her. Die Statue war im Spiel. Er dachte an den öffentlichkeitsscheuen EU-Kommissar Martin und seine ‚Kultur für alle‘-Gesetzgebung. So viele verschwundene Meisterwerke waren in den vergangenen elf Monaten aufgetaucht. Aber nicht die Statue. Zweihundert Millionen Euro für ein Kunstwerk. Ein Werk, das, falls es noch existierte, der Inbegriff westlicher Kulturgeschichte war.

Auf Augenhöhe mit der Mona Lisa.

Savarin nahm auf dem Rücksitz des Streifenwagens Platz. Während sie den Berg hinaufkrochen, versuchte er, seinen Eifer zu dämpfen, indem er sich immer wieder warnend vor Augen hielt, dass derjenige, der nun im Besitz dieser Statue war, sie einfach behalten könnte. Sie musste gut versteckt sein. Sehr gut versteckt. Und doch … Der Commandant hielt seinen Blick fest auf das Wohnhaus gerichtet. Seine Handflächen waren feucht. Sein Atem kurz. Dies würde ihn nun endlich entlasten und zu seinem Triumph werden. Und er würde es diesen heuchlerischen Bürokraten, die ihn vor vielen Jahren im Dreck hatten sitzen lassen, unter die Nase reiben. Aber nur, wenn er fündig wurde, dachte er …

… und meinte damit die Statue. Nicht den Mörder.

Das Vermächtnis. The Legacy

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