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Kapitel 3

München – 22. Februar 2003

Gabriel Schopenhauer blieb vor der Doppeltür im Gebäude des Münchner Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße stehen, starrte sie an und wartete. Detective Inspector Roark ging an ihm vorbei, warf ihm einen kurzen, ernsten Blick zu und stieß die Türen auf. Um ihn herum nahm Gabriel helles Licht und metallische Oberflächen wahr, aber alles, was er sah, war eine Leiche auf einer Bahre. Die Leiche war mit einem Tuch bedeckt, aber jemand in einem weißen Kittel zog es herunter, damit er das Gesicht sehen konnte. Gabriel kam näher. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, als kämpfe ein Gift in ihm. Er schlug eine Hand über Mund und Nase, unterdrückte einen Schrei, konnte aber die Tränen nicht aufhalten. Sie liefen ihm über Wangen und Finger und verschleierten seinen Blick. Jemand berührte seine Schulter, und er schreckte zurück. Zwei Hände legten das Tuch über das Gesicht, und Gabriel schlug sie weg. Er riss das Tuch wieder herunter und legte damit nicht nur das Gesicht, sondern auch den Oberkörper frei. Als er ihn sah, rang er nach Luft. Die Schultern des Toten waren schwarzblau verfärbt und auf die doppelte Größe angeschwollen. Die Haut an den Oberarmen hing schlaff und lose herunter, als hätten sich die Knochen darin aufgelöst. Gabriel hielt sich eine Hand an die Stirn, als müsse er seine Augen vor grellem Licht schützen.

Hinter ihm räusperte sich DI Roark. „Mr. Schopenhauer …“

Gabriel streckte die Hand aus und berührte die wächserne Haut an der Schläfe. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann drehte er sich um und schritt zur Tür.

Eine halbe Stunde später saß er in einem Vernehmungsraum der Kriminalpolizei in der Ettstraße und starrte mit leerem Blick auf den dampfenden Kaffee, der vor ihm auf dem Holztisch stand. Ihm gegenüber saßen DI Roark, der ihn vom Flughafen „Franz Josef Strauß“ abgeholt hatte, und Hauptkommissar Brandl, Leiter der Mordkommission. Brandl trug einen imponierenden Schnauzer und ein hellbraunes, kurzärmeliges Hemd, das akkurat gebügelt und perfekt sauber war. Seine kräftigen Arme ruhten auf dem Tisch. Stirnrunzelnd sah er auf den Schreibblock, der vor ihm lag. DI Roark war mit einem Aufnahmegerät beschäftigt. Er hatte blondiertes Haar und grüne, schräg nach oben verlaufende Augen, die seinem Gesicht etwas von asiatischer Unergründlichkeit gaben. Gerade öffnete sich die Tür, und ein großer Mann von beeindruckender Statur kam herein. Er ignorierte den anderen Stuhl am Tisch und ging zur Wand, als wäre er Zuschauer, nicht Teilnehmer. Er nickte Gabriel kurz zu und schwieg.

„Das“, sagte Detective Inspector Roark, „ist Monsieur le Commandant de la police judiciaire Savarin, er leitet bei der Interpol die Abteilung für Kunstdiebstahl.“ Er drückte auf den Aufnahmeknopf. „22. Februar 2003, als Zeuge vernommen wird Gabriel Schopenhauer, neunundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Pistoia, Italien, in Anwesenheit von Hauptkommissar Brandl von der Kripo München und Commandant de la police judiciaire Savarin sowie Detective Inspector Roark von der Abteilung für Kunstdiebstahl bei der Interpol.“ Er sah Gabriel an. „Mr. Schopenhauer“, sein Mundwinkel zuckte, „der Tod ihres Großvaters … schreckliche Sache. Unser Beileid. Hauptkommissar Brandl leitet die Ermittlungen in Deutschland. Interpol ist hier, um die grenzübergreifenden Aktivitäten zu koordinieren. Maximilian Schopenhauer war in vielen Ländern zu Hause, und wir glauben, dass uns unsere Ermittlungen nach Italien, Österreich und möglicherweise auch nach Großbritannien führen werden.“ Roark hielt kurz inne. „Ich weiß, dass dies eine schwere Zeit für Sie ist, aber wir…“

„Wer hat das getan?“, fragte Gabriel leise.

Der Hauptkommissar räusperte sich. „Sprechen Sie deutsch?“

„Nur ganz schlecht“, antwortete Gabriel auf Deutsch und wechselte wieder ins Englische. „Also, wer hat das getan?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte der Kommissar mit einem amerikanischen Akzent. „Aber wir von der Mordkommission tun alles, was in unserer Macht steht, um diese Männer …“

„Was wissen Sie?“, fragte Gabriel.

„Ziemlich wenig“, sagte Roark. „Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Dann lassen wir Sie wieder zum Flughafen bringen.“ Seine Augen wanderten über Gabriels Gesicht. „Vertrauen Sie der Münchner Kriminalpolizei und Interpol! Wir werden die Mörder fassen! Alles, was Sie tun können, ist uns dabei zu helfen, unsere Arbeit zu machen.“

Gabriel warf Roark einen Blick zu, der ihn nervös zusammenzucken ließ. In diesem Moment war der einzige klare Gedanke, den Gabriel fassen konnte, der Entschluss, die in ihm hochkochende Wut resolut zu unterdrücken. Niemand konnte auch nur verstehen, wie es war, wenn ein Enkel seine zerbrechliche Welt um eine verlorene Generation aufbaute, weil Vater und Mutter allein vom Großvater ersetzt worden waren. Sein Rettungsanker war von einem Wahnsinnigen zerstört worden.

Jetzt hob er den Blick und sah Commandant Savarin an. Dieser Mann hatte seine Gedanken gelesen, und von dem Schimmern boshafter Zustimmung, das er in seinen Augen las, bekam er feuchte Hände. Brandl wandte sich zu Savarin um. Sein Schnauzer schien sich bei dessen Anblick zu sträuben.

„Mr. Schopenhauer“, sagte Brandl und drehte sich wieder zu ihm. „Wir wissen so viel: Die Leiche Ihres Großvaters wurde auf dem Gelände der Alten Pinakothek gefunden. Der geschätzte Todeszeitpunkt liegt zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht der vergangenen Nacht. Im Garten der Pinakothek stehen ein paar Statuen, sonst nichts. In der Gegend gibt es keine Restaurants. Nachts ist es dort dunkel und einsam. Kein Ort, an dem sich Ihr Großvater hätte aufhalten sollen.“

„Vielleicht war er auf dem Heimweg. Er wohnt ja nicht sehr weit entfernt.“

„Ja, in der Prinz-Ludwig-Straße.“

„Wie ist er gestorben?“

Brandl warf einen Blick auf seinen Block. „Vorläufig gehen wir davon aus … Es gibt einen braun umrandeten, punktuellen Einstich im Hals. Vermutlich eine Nadel. Das bedeutet höchstwahrscheinlich Gift.“ Er hielt inne. Seine Augen verengten sich verärgert. „Wann haben Sie Ihren Großvater zuletzt gesehen?“

„Das ist lange her … letztes Jahr“, sagte Gabriel und hörte die Worte, als hätte sie jemand anderes gesagt. „In Lech … Österreich … Arlberg. Großvater hat …“ Sein Mund war so trocken, dass seine Lippen zusammenklebten. „Gift?“

„Ihr Großvater hat dort ein Haus. In Lech“, vervollständigte Brandl den vorletzten Satz Gabriels.

„Wir haben aber telefoniert. Oder uns gemailt. Aber nicht in den letzten Tagen.“ Gabriel wollte die Kaffeetasse nehmen, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er sie wieder zurückzog. „Gift? Sind Sie sicher?“

Brandl räusperte sich und ignorierte die Frage. „Könnten Sie uns die Namen von den Bekannten Ihres Großvaters geben? Jeder, der Ihnen einfällt: Geschäftspartner, Klienten, Freunde …“

Gabriel beugte sich jetzt vor. Unter seinem Stuhl hatte er die Füße gekreuzt, seine Hände umklammerten die Knie. „Sie sprachen von Männern.“

„Bitte?“

„Mördern, Plural. Nicht Mörder, Singular. Woher wissen Sie das?“

Brandl neigte den Kopf und schrieb eifrig etwas auf seinen Block.

Roark beugte sich über den Tisch. „Hat Ihr Großvater jemals von etwas sehr Wertvollem gesprochen, das sich in seinem Besitz befindet? Etwas, das eines Tages Ihnen gehören würde?“

Gabriel sah ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf. „Der einundzwanzigste Februar“, fuhr Roark fort. „Gestern. Das war der Geburtstag Ihres Großvaters. Haben Sie ihn da angerufen?“

„Er ruft sonst immer mich an seinem Geburtstag an.“ Gabriels Stimme stockte. „Und er schickt mir ein Geschenk. Ich mache dasselbe an meinem.“

Roark sagte: „Hat Ihr Großvater jemals über seine Geschäfte gesprochen?“

„Er war Kunsthändler.“

„Nicht irgendein Kunsthändler“, sagte Roark. „Der Kunsthändler. Für die Stars: Getty, später dann Kitchener. Das waren die Wichtigsten. Wie sah es mit anderen Klienten aus?“

„Abteilung für Kunstdiebstahl“, sagte Gabriel und sah Roark an, um Blickkontakt mit Savarin zu vermeiden. „Was bedeutet das? Gestohlene Gemälde? Wie der Vermeer aus dem Bostoner Museum?“

Roark sagte: „Neuerdings bedeutet es: ‚Kultur für alle‘.“

Drei Augenpaare beobachteten ihn. „Was?“, sagte er und fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen am Körper herunterlief. Er blinzelte. „Sie vermuten, dass mein Großvater von Leuten ermordet wurde, die was mit Kunstraub zu tun haben?“

Es entstand eine lange Pause. Brandl runzelte die Stirn und Roark lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wir vermuten“, sagte Roark endlich, „dass Ihr Großvater etwas mit Kunstraub zu tun hatte.“

Gabriel fühlte, wie sich der Boden unter ihm bewegte.

„… und dass er eine bedeutende Geldsumme aus all seinen illegalen Transaktionen über die Jahre beiseite geschafft hat, und dass jetzt Sie, sein einziger lebender Verwandter, alles erben werden. Es sei denn, wir finden das Geld. Und wenn wir es finden, wird es uns hoffentlich zu den Leuten führen, mit denen er Geschäfte gemacht hat …“

„Sie lügen“, sagte Gabriel durch aufeinandergepresste Zähne.

„… und wir hoffen, dass wir durch diese Leute die Kunstwerke finden …“

„Das ist nicht wahr.“

„… und sie wieder ihren rechtmäßigen Besitzern zuführen können. Meist sind es Museen. Vielleicht sogar das Isabella Stewart Gardner Museum in Boston.“

„Sie lügen!“, bellte Gabriel und sprang auf. Dabei stieß er seinen Stuhl um.

In der Stille, die nun folgte, ging Savarin langsam um den Tisch herum, baute sich vor Gabriel auf und betrachtete ihn wie etwas in einer Glasvitrine.

Die grünen Augen von Roark schossen zwischen Gabriel und seinem Chef hin und her. „Mr. Schopenhauer“, sagte er schnell, „Ihr Großvater ist ziemlich sicher vergiftet worden, aber bevor er starb, wurde er gefoltert. Das bedeutet, jemand wollte etwas von ihm wissen. Und genau danach suchen wir …“

Gabriel richtete seinen Blick auf ihn. „Seine Schultern?“

„Das wollen Sie nicht wissen“, sagte Roark.

Gabriel tastete hinter sich nach seinem Stuhl, hob ihn auf und setzte sich wieder hin.

Savarin trat auf ihn zu. „Strappado“, sagte er. „Während der Inquisition wurde ausgiebig davon Gebrauch gemacht. Man nimmt dafür ein Seil. Der Schmerz war so qualvoll, dass allein die Androhung den härtesten Mann brach.“

Savarin beugte sich herunter, um Gabriel ins Gesicht zu sehen. Sein Atem roch sauer; seine Lippen waren feucht. Roark lehnte sich mit verschränkten Armen und fast geschlossenen Augen zurück. Brandl starrte Savarin an.

„Das war nicht irgendein Straßenraub“, sagte Savarin. Seine Worte streiften Gabriels Wange wie Nebel, der aus einem Moor aufstieg. „Das war bis ins Detail geplant von jemandem, den wir den Henker nennen. Ein gebildeter Sadist – zusammen mit anderen Sadisten, wie Sie ganz richtig angemerkt haben. Für Strappado braucht man mindestens zwei Personen. Und je schwerer das Objekt, desto effektiver ist Strappado. Savonarola, zum Beispiel, wurde gebrochen. Interessanterweise hatten die Schwächlinge bessere Chancen. Strappado hat bei Machiavelli nicht funktioniert. Man kann keine gekochte Nudel brechen.“

Gabriel starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Er fühlte, wie sich das Blut in seinen Wangen sammelte. Er hörte, wie Brandls Stuhl zurückgeschoben wurde.

Savarins Stimme klang nun weicher und näher. Von seinem übelriechenden Atem verkrampften sich Gabriels Nasenflügel. „Max Schopenhauer war hart.“

„Schluss!“

Gabriel sah auf.

Der Hauptkommissar war aufgesprungen, sein Gesicht war gerötet. Savarin warf ihm einen ungerührten Blick zu und klappte sein Handy auf. „Wir verlieren nur Zeit, Mr. Schopenhauer“, sagte er und checkte seine Nachrichten.

In dem Moment flog die Tür auf. Ein Beamter winkte Brandl dringlich zu sich, der ohne ein Wort ging, gefolgt von den beiden Interpolbeamten. Auf dem Flur wurden stakkatoartig Anweisungen gebellt. Das Geräusch eiliger Schritte folgte. Wenige Minuten später kam Roark zurück in den Raum, setzte sich und schaute nachdenklich auf das Aufnahmegerät.

„Wie hat er das gemeint“, fragte Gabriel und zeigte zur Tür, „dass wir Zeit verlieren?“

„‚Kultur für alle‘“, antwortete Roark nach einer Weile. Er schien abgelenkt zu sein und über etwas nachzudenken.

„Das haben Sie vorhin schon gesagt. Als müsste ich wissen, was es bedeutet. Aber das weiß ich nicht.“

Roark nahm einen Stift und tippte damit auf den Tisch. „Ich vermute mal“, sagte er schließlich, „dass Sie absolut im Dunkeln tappen, was Ihren Großvater angeht.“ Er ließ den Stift fallen. „Was ist mit der Wohnung in der Prinz-Ludwig-Straße?“

„Was soll damit sein?“, blaffte Gabriel. Dann fügte er leise hinzu: „Haben Sie ihn da …“

Roark schüttelte den Kopf. „Für Strappado“, sagte er, „braucht man eine hohe Decke mit einem Haken. Oder einen Baum. Oder eine moderne, baumähnliche Skulptur.“ Roark rieb sich die Augen mit den Handrücken. „So eine“, fuhr er fort, „wie es sie im Garten der Alten Pinakothek gibt. Hauptkommissar Brandl hat Ihnen schon gesagt, dass wir die Leiche dort gefunden haben.“ Gabriel schoss hoch. „Kommt er …“, sagte Gabriel und zeigte wieder auf die Tür.

„Savarin. Le Monsieur Commandant de la police judiciaire Georges Savarin.“

„Kommt Savarin nochmal wieder?“

„Der ist weg“, sagte Roark. „In der Prinz-Ludwig-Straße.“ Seine Finger schwebten über dem Ausschalter des Aufnahmegeräts. „Hatte Ihr Großvater irgendeine Art Tonbandgerät in seiner Wohnung?“

Gabriel schien ihn nicht zu hören. Er ging einen Schritt auf die Tür zu, dann wandte er sich an Roark. „Was?“

„Es ist nah genug.“ Roark dachte laut. „Die Prinz-Ludwig-Straße ist nah genug, um Signale von der Pinakothek aufzunehmen.“

„Wie komme ich zum Flughafen?“

„Die Rechtsmedizin hat Abdrücke auf der Brust Ihres Großvaters gefunden. Klebeband, verstehen Sie? Er hat einen Sender getragen.“

Gabriel ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Roark sagte mit schwerer Stimme in den Rekorder: „Maximilian Schopenhauer hat seinen eigenen Tod aufgezeichnet. An seinem Geburtstag.“

Der Inspector sah Gabriel direkt an. Seine grünen Augen schienen einen Moment lang groß und verletzlich. „Was für ein Geschenk!“

Der Ausknopf klickte mit einem dumpfen, schneidenden Geräusch, wie ein Messer, das ein Seil durchtrennt.

Das Polizeiauto vermied die Baustellen des Altstadtrings. Als sie vom Karlsplatz in die Barer Straße einbogen, hörte Gabriel die Glocken der Frauenkirche. Er drehte sich im Beifahrersitz um und sah die grünen Zwiebeltürme, die hinter den Dächern der modernen Gebäude aufragten. Sein Großvater hatte ihn einmal mit dorthin zur Messe genommen. Er erinnerte sich an die Weihrauchschwaden, die während Mozarts Lacrimosa aufgestiegen waren, als würden sie von einem unsichtbaren Chor hinaufgezogen. Jetzt lag die Leiche seines Großvaters nicht weit entfernt in der Rechtsmedizin und wurde von einem Fremden in einem weißen Kittel seziert. Und der widerwärtige Savarin sezierte seine Wohnung, um … was? Nach Geld zu suchen?

„Bringen Sie mich in die Prinz-Ludwig-Straße.“

Der Fahrer warf ihm einen strengen Blick zu. „Nee“, sagte er. „Wir fahren zum Flughafen.“ Er lehnte halb an der Tür, eine Hand nur am Lenkrad, und trat die Kupplung.

Gabriel starrte ihn kurz an. „Prinz-Ludwig-Straße“, wiederholte er. Als der Fahrer nicht reagierte, schnallte sich Gabriel ab und öffnete die Tür.

„Scheiße!“ Der Fahrer stieg auf die Bremse, und der Wagen knallte gegen die Bordsteinkante. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und empörtes Hupen war zu hören. Der Fahrer drehte sich rasch um, aber Gabriel war schon ausgestiegen und schlenderte die Straße entlang zum Karolinenplatz.

Zehn Minuten später stand er in der Lobby des Wohnhauses, in dem sein Großvater gelebt hatte. Roark fuhr gerade in einem Streifenwagen vor. Der Inspector schüttelte den Kopf, als er ihn sah, wirkte aber nicht überrascht.

Gabriel durchschritt den Flur zur Erdgeschosswohnung seines Großvaters. Die Eingangstür war angelehnt. Er ging hinein und direkt auf Savarin zu. Dieser unterhielt sich gerade mit einem uniformierten Beamten und einem besorgt wirkenden Mann mittleren Alters, in dem Gabriel den Hausverwalter erkannte.

„Ich will, dass Sie sofort diese Wohnung verlassen“, sagte Gabriel.

Der Commandant warf ihm einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Hausverwalter zu, den er mit einem seiner Wurstfinger antippte und dabei Englisch sprach. Der uniformierte Beamte übersetzte schnell. Am anderen Ende des Wohnzimmers beugten sich Brandl und ein forensischer Techniker über ein Aufnahmegerät. Zwei Spurensicherer mit weißen Handschuhen durchschritten Schulter an Schulter den Raum, die Köpfe gesenkt und die Blicke auf den Teppich geheftet. Als sie Gabriels Stimme hörten, unterbrach jeder seine Tätigkeit und sah ihn an.

Savarin bildete die Ausnahme. Dessen Aufmerksamkeit war auf seinen Untergebenen gerichtet, der gerade durch die Tür trat. „Roark“, rief er ihm zu, „rufen Sie in Lyon an. Das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, aber die Kassette fehlt. Und raten Sie mal, wer vor zwei Stunden hier war.“

Inspector Roark musste nicht lange nachdenken. „Whyte?“

Der Commandant nickte knapp. Roark zog sogleich sein Handy heraus und sprach eindringlich hinein, während er wieder im Flur verschwand: „Nachname Whyte, mit y. GPS auf seinem Handy. Das ist in der Akte … Können Sie gern versuchen, aber ich meine mich zu erinnern, dass er Bargeld benutzt, keine Kreditkarten …“

Gabriels Blick ruhte weiter auf Savarin, der sich endlich zu ihm wandte und mit übertriebener Höflichkeit sagte: „Also. Was wollten Sie gleich noch sagen?“

„Interpol hat keine Befugnisse in Deutschland – oder anderswo. Das gilt auch für die Wohnung meines Großvaters“, sagte Gabriel. „Sie können also verschwinden. Machen Sie draußen auf dem Flur mit Ihrem irischen Kollegen doch ein paar Telefonate.“

Der Leiter der Abteilung für Kunstdiebstahl warf ihm einen eisigen Blick zu. Dieser Blick sollte vermutlich den kalten Stahl, der sein gallisches Temperament überzog, vermitteln. Gabriel fragte sich, ob der Mann vorm Spiegel übte. Die deutschen Beamten hielten inne und warteten darauf, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiel. Alle außer Brandl, der seine kräftigen Arme vor der Brust verschränkt hatte und Gabriel durch den Raum zunickte. Der Hausverwalter trat nervös blinzelnd einen Schritt zurück.

„Sie werden jetzt gehen“, sagte Gabriel. „Sonst wird morgen ein Anwalt in Lyon anrufen und eine formelle Beschwerde bei Ihren Vorgesetzten von Interpol einreichen.“

Savarins Augenbrauen schossen hoch.

„Natürlich, Mr. Schopenhauer“, sagte er sanft, legte einen baumstammgroßen Arm um Gabriels Schultern und steuerte ihn von den anderen fort. Laut sagte er: „Tut mir leid, wenn ich vorhin im Vernehmungsraum etwas grob mit Ihnen war. Sie haben jedes Recht, empört zu sein. Und es stimmt absolut, dass Interpol kein Mandat hat, um normale polizeiliche Ermittlungen durchzuführen. Wir sind nur hier, wie Detective Inspector Roark es erklärt hat, um zu koordinieren.“

Gabriel ließ sich außer Hörweite der anderen bringen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Beamten entspannten und mit ihrer zeitlupenartigen Untersuchung des Teppichs fortfuhren. Dann bemerkte er Savarins Mund nah an seinem Ohr.

„Ihr Großvater war der Kunstdieb des Jahrhunderts …“, sagte er leise.

Gabriel stieß seinen Arm weg. Der Commandant zog ein gutmütiges Gesicht für die anderen im Raum, falls sie herübersahen.

„… und ich werde es der Welt beweisen“, sagte er. Seine Lippen bewegten sich kaum. Er tätschelte freundschaftlich Gabriels Schulter, nickte Brandl kühl zu und verließ die Wohnung.

Gabriel starrte ihm nach. Der Geruch des Mannes schien sich in seiner Nase festgesetzt zu haben. Einen Moment später bemerkte er, dass Brandl neben ihm stand.

„Ja“, sagte er und klang zynisch, „so ein ‚Commandant‘ …“ Er sprach den Titel aus, als würde er sich dabei die Zunge schmutzig machen. „Er lässt sich entschuldigen. Das sollte er wohl.“ Brandl trat von einem Fuß auf den anderen. „Mr. Schopenhauer, dieser Arthur Whyte … Er hat einen Schlüssel zu dieser Wohnung, hat uns der Hausverwalter gesagt. Kennen Sie ihn?“

„Vom Namen her“, sagte Gabriel und beobachtete immer noch die Eingangstür. „Der Geschäftspartner meines Großvaters.“

Der forensische Techniker winkte Brandl aufgeregt vom Schreibtisch aus zu.

„Hansi“, rief er durch den Raum und zeigte auf die Seite des Aufnahmegeräts. „Da gibt’s einen Rufweiterleitungsknopf.“

Brandl spielte an seinem Schnauzer und sah Gabriel auf eine Weise an, die ihn nervös machte. Dann wandte er sich wieder an den Techniker.

„Rufweiterleitung?“

Er hetzte zurück zum Schreibtisch, und Gabriel begab sich in eine entlegene Ecke des Wohnzimmers. Er ließ seinen Blick durch das schweifen, was für ihn immer Großvaters Büro gewesen war – mit einem angeschlossenen Schlafquartier. Zu Hause, das war der Bungalow in Lech, wo das Sonnenlicht auf den silbergerahmten Familienfotos funkelte, die Frau Köberl, ihre langjährige Haushälterin, täglich polierte … Wie dieses, dachte er überrascht, als er ein gerahmtes Foto auf einem Beistelltischchen bemerkte. Und dann schrak er zusammen, als er es erkannte: Großvater und er. Sie standen vor einer Steintreppe, und Großvater hatte noch all seine Haare. Glückliche Tage in Rom. Wie lange war es her? Sein halbes Leben? Der Anblick seiner heiteren Miene traf ihn wie ein Schlag, und er legte den Rahmen mit dem Foto nach unten auf den Tisch. Dann starrte er auf die Adern auf seinem Handrücken, eine Konzentrationsübung, die ihm vor vielen Jahren von seinem „Lernbehinderungstutor“ beigebracht worden war. Konzentriere dich auf die Daten. Mache dir die Fakten klar … Die Steintreppe auf dem Foto war sehr lang gewesen, erinnerte er sich. Sie führte hinauf zu einer Kirche neben diesem bombastischen weißen Denkmal, das aussah wie eine Hochzeitstorte … Vittoriano, das Monumento a Vittorio Emanuele II., das war’s. Die Kirche am Ende der Treppe war merkwürdig, erinnerte er sich. Sie hatte eine raue Backsteinfassade ohne die üblichen barocken Ornamente. Er hatte den Namen der Kirche vergessen. Es war ein seltsamer Name …

Gabriel steckte sich das Foto in die Manteltasche.

Ein paar Minuten später stand er draußen auf dem Bürgersteig und fühlte sich ausgelaugt. Er empfand nicht einmal mehr Trauer. Dass Brandl ihm nachgekommen war, hatte er nicht bemerkt.

„Ich versichere Ihnen, dass wir von der Kripo Ihren Großvater als Opfer ansehen. Sonst nichts“, sagte er und winkte den Streifenwagen herbei. Das Auto setzte sich in Bewegung und fuhr vor. Brandl öffnete die Beifahrertür und schritt zur Seite, um Gabriel einsteigen zu lassen. „Wir tun, was wir können“, sagte er und presste die Lippen zusammen, bevor er fortfuhr: „Ich denke, Sie sollten sich von diesem … Savarin fernhalten.“ Sanft schloss er die Tür.

Das Vermächtnis. The Legacy

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