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Kapitel 4

Pistoia – 22. Februar 2003

Es war fast Mitternacht, als der Streifenwagen, der ihn in Pisa abgeholt hatte, Gabriel zu dem Palazzo brachte. Emily hatte ein paar Kleinigkeiten zu Essen und eine Flasche Rotwein aus der Umgebung auf den Küchentisch gestellt.

„Glaubst du, du kannst was essen?“, fragte sie ihn.

Gabriel setzte sich und starrte einen Moment auf den Teller. „Interpol glaubt, dass Großvater ein Krimineller war. Dass er mit gestohlenen Kunstwerken gehandelt hat. Er wurde von jemandem gefoltert, den sie den Henker nennen, und dann vergiftet, wegen verstecktem Geld, das jetzt mir zufällt. Falls ich es vor den Bullen finde.“

Er sah, wie sich leise der Schock in ihrem Gesicht ausbreitete, als hätte sie einen alten Feind entdeckt, der langsam die Straße herunterkam.

„Gabriel, egal, was du tust, es wird nichts daran ändern, was die Polizei denkt. Dein Großvater war ein guter Mann. Aber er war sein eigener Herr.“

„Die Reputation meines letzten Blutsverwandten wird vernichtet, nachdem er selbst es auch wurde. Ich kann da nicht einfach nur zusehen.“

Sie sah ihn über den Tisch hinweg an. Dann nahm sie ihre Gabel und legte sie sofort wieder hin.

„Du musst es der Polizei überlassen“, sagte sie.

„Großvater hat sich einen Sender auf die Brust geklebt. Er hat seine eigene Ermordung aufgenommen. Sie haben das Aufnahmegerät in seiner Wohnung gefunden, aber die Kassette ist verschwunden. Gestern war sein Geburtstag, aber er hat mich nicht angerufen. Ich habe an seinem Geburtstag nicht mit meinem Großvater gesprochen, am letzten Tag in seinem Leben.“

Emily hatte den Kopf gesenkt. Er sah zu, wie sie mit ihrer Gabel Salamischeiben und Käse auf dem Teller herumschob. Dann stand sie auf und ging ans Waschbecken. Sie sah aus dem Fenster. Der Mond stand tief hinter dem Dom. Gabriel dachte, dass sie vielleicht nach den richtigen Worten suchte und feststellen musste, dass es keine gab. Sie öffnete einen Schrank, nahm zwei Plastikschüsseln heraus, ging zurück zum Tisch und bedeckte die Teller damit.

„Komm mit“, sagte sie.

Sie nahm ihn wie ein Kind an der Hand und führte ihn aus der Tür und durch die knarzende Pforte. Sie gingen schweigend um das dunkle Rechteck des Platzes. Aus einem versteckten Garten drang Hundegebell. Fledermäuse drehten in den Schatten der Zitronenbäume ihre Runden. Die beiden hatten ihren Rundgang beendet und kehrten wieder zur Eingangspforte zurück, als Gabriel stehenblieb.

„Ich weiß, dass du so etwas schon durchgemacht hast, Emily. Schlimmer noch, du warst direkt dabei. Ich kann das Gesicht meines toten Großvaters nicht vergessen. Ich denke an seine Schultern und was sie ihm angetan haben und … Jemand muss dafür bezahlen!“

Er glaubte, ein Seufzen gehört zu haben. Vielleicht war es auch nur ein Windstoß in den Bäumen gewesen. Emily schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und öffnete die Pforte. Als sie ins Haus gegangen waren, drückte sie kurz seine Hand, bevor sie in die Küche ging. Gabriel ging nach oben in die Bibliothek und setzte sich hin, das Kinn in die Hände gestützt. Er starrte auf die Modellbrücken und versuchte, nicht das silbergerahmte Foto aus der Münchner Wohnung anzusehen, das er auf den Schreibtisch gestellt hatte. Er nahm ein Buch, das auf dem Tisch lag, und zog es zu sich. Brücken der Welt war vor fünfzehn Jahren veröffentlicht worden. Seit ihn die Leidenschaft, Konstrukteur zu werden, aus dem Nichts gepackt hatte, war es seine persönliche Bibel. Brückenkonstrukteur. Jahrelang hatte ihn dieser Traum aufgerichtet, nun war er tot. Der Schutzumschlag des Buches war an mehreren Stellen eingerissen und am Buchrücken zusammengeklebt. Behutsam öffnete er das Buch und sah sich die handgeschriebene Widmung auf dem Deckblatt an:

Für Gabriel

Von Lego zu wer weiß? Alles ist möglich. Tu’s einfach.

Dein dich liebender Großvater

Sein Handy klingelte.

„Spricht da Gabriel Schopenhauer?“

„Wer sind Sie?“

„Diese Arschlöcher von Interpol sind nicht hinter den Mördern Ihres Großvaters her.“ Es folgte eine kurze Stille.

„Hallo?“, sagte die Stimme.

„Sie müssen Arthur Whyte sein. Mit y.“

„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“

„Die Polizei hat gesagt, dass Sie die Kassette aus der Wohnung von meinem Großvater mitgenommen haben.“

„Ach ja?“

Gabriel schwitzte im Gesicht, und seine Glieder fühlten sich an, als hingen bleierne Gewichte an ihnen. Kopfschmerzen bahnten sich an. Er hatte nicht mehr genug Energie, um kühl den aufgewühlten Aggressionen zu begegnen, die er am anderen Ende der Telefonleitung knistern hörte. Aber er hatte noch genug, um ausfallend zu werden. „Beweise zurückzuhalten ist eine kriminelle Handlung, Sie Penner. Außerdem macht Sie das zum Scheißverdächtigen Nummer eins für mich.“

„Was?“

„Wer wusste denn, dass mein Großvater seinen eigenen Tod aufgezeichnet hat? Der Mörder!“

„Kleiner, du hast echt Glück, dass wir uns nicht gegenüberstehen. Sonst würde ich dir eine reinhauen.“

„Hören Sie, ich bin so kurz davor …“

„Nein, du hörst mir zu. Max durfte alles zu mir sagen. Ich hab’s geschluckt. Aber sein dämlicher Enkel darf das nicht. Ich will meine Schulden zahlen und raus aus der Nummer. Ich will rausfinden, wer das war, und ihn zu Staub zermalmen. Ich mach’ hier nicht einfach nur ’rum. Ich brauch deine Hilfe. Ja oder nein?“

„Hilfe?“

Gabriel hörte ein Rascheln, das sich anhörte, als würde der Mann sein Telefon in die andere Hand nehmen. „Triff mich morgen um zehn beim Bahnhof. Da gibt’s einen Sandwichladen mit einem Illy-Schild dran. Nur du. Keine Freunde, keine Bullen.“

Emily schlief schon, als Gabriel ins Schlafzimmer kam. Sie lag auf der Seite. Mondlicht fiel in Streifen auf die Bettdecke. Er zog die Schuhe aus und hängte sein Hemd über einen Stuhl. Dann ging er zum Fenster und sah hinaus. Der Mond war nun hinter einer Wolke verschwunden, und in der Dunkelheit sah der Garten aus wie ein tintenschwarzer Tümpel in einer Grotte. Alles war ruhig, außer den Krähen, die in den Zypressen saßen und müde krächzten. Die Domuhr schlug mit gedämpftem Schwengel zur halben Stunde.

„Hey“, sagte Emily.

Gabriel drehte sich um und zog sich die Hose aus. Er hörte das Rascheln der Bettdecken.

„Ich hab’ nicht geschlafen, Schatz“, sagte sie. „Du musst kein schlechtes Gewissen haben.“

Er hängte die Hose über den Stuhl und setzte sich in T-Shirt und Boxershorts auf den Bettrand. Er sah zum Fenster, als er anfing zu reden. „In mir ist eine Truhe, in der schlechte Dinge eingesperrt sind, und es fühlt sich an, als hätte jemand den Deckel aufgerissen. Ich hab mir immer eingeredet, dass ich über all die kleinen Verletzungen und Beleidigungen im Leben hinweg bin. Aber nein, jetzt weiß ich … Es ist, als hätte ich versucht, neue Muskeln aufzubauen, die dort nicht sein wollen. Jetzt ist es geschehen, und das Böse ist rausgekommen … Ich will meine Hände in das Blut des Mannes tauchen, der das getan hat.“

Die Matratze sackte herunter, als sie sich hinter ihn setzte. Er fühlte die Wärme ihres Körpers durch sein T-Shirt.

„Ich habe gerade einen Anruf von dem Typen bekommen, der ich weiß nicht wie viele Jahre für meinen Großvater gearbeitet hat. Er ist aufgekratzter als ein Speedjunkie, und vielleicht ist er der Mörder. Ich treffe ihn morgen und werde ihm wahrscheinlich mit bloßen Händen die Gedärme rausreißen, wenn ich herausfinde, dass er’s war. Jemand, der normal im Kopf ist, würde so etwas nicht mal denken.“

Ihre Hände legten sich auf seine Schultern, und er fühlte ihr Haar über seine Schläfe streichen. „Du bist der einzig normale Mann, den ich in dieser bösen Welt je getroffen habe, Gabriel“, sagte sie. „Du lässt dich nicht auf das Böse da draußen ein. Das ist das Kreuz, das du trägst, Liebster, und du kannst es nicht einfach abwerfen und gehen. Du musst es tragen.“

Er drehte den Kopf und presste seine Wange an ihren Mund. Ihre Lippen formten sich zu einem Kuss. Sie hielt den Kuss, als wüsste sie, dass all seine Sinne in diesem Moment auf die wenigen Zentimeter Haut unter ihren Lippen ausgerichtet waren. Dann ließ sie ihn los und fiel wieder auf ihr Kissen. Gabriel sah zu ihr hinunter. Emilys schwarzes Haar sah im Mondlicht grau aus. Ihr tief ausgeschnittenes Oberteil zeigte die Kuhle zwischen ihren Brüsten. Sie klopfte auf den Platz neben sich.

Er legte sich zu ihr und schmiegte seinen Körper an ihren. Als er etwas sagen wollte, legten sich ihre Fingerspitzen über seine Lippen.

„Schsch“, flüsterte sie. Ihr Atem strich über sein Ohr, als brächte er den Schlaf. „Lass es sein, Schatz. Überlass es der Polizei. Bleib hier bei mir.“

Er entspannte seine Arme und fühlte, wie die Decke über ihn gelegt und sein Kopf an ihre Brust gezogen wurde. Sanft streichelte sie seine Schläfe. Er schlief mit dem Geruch ihrer Haut ein, die so warm und duftend wie die blumengeschwängerte Luft einer Sommernacht war.

Die schmiedeeiserne Brücke verlief über einem ausgetrockneten Flussbett hinter dem Hauptbahnhof von Pistoia. Sie stammte noch aus der Mussolini-Zeit und war teilweise verrostet. Ein paar Arbeiter ersetzten die mit Rost übersäten Streben mit neuen schwarzen. Der Vorarbeiter bemerkte Gabriel, näherte sich ihm mit trotzigem Gesicht und sagte streng etwas auf Italienisch.

„Scusi“, sagte Gabriel. „Ich spreche kein Italienisch.“

Der Vorarbeiter sah ihn verschämt an. „Dachte, du bist von der Stadtverwaltung. Warst schon mal hier. Schon oft.“

„Ich sehe gern zu.“

Der Vorarbeiter sah ihn zweifelnd an. „Bei dem hässlichen Teil?“

Gabriel lächelte. „Es gibt keine hässlichen Brücken.“

„Bist du ein Ingenieur?“

Gabriel schüttelte den Kopf. „Student. Oder vielmehr, das war ich mal.“

Der Vorarbeiter sah ihn stumm an.

„Ich habe mal die Streben gezählt“, sagte Gabriel und zeigte auf die Konstruktion. „Es gibt über viertausend. Und dann habe ich ausgerechnet, dass gut fünfzehnhundert unnötig sind.“ Er sah den Vorarbeiter von der Seite an. „Ich wette, Sie habe keine Ahnung, wovon ich rede …“

Der Vorarbeiter breitete entschuldigend die Hände aus, grinste und schüttelte den Kopf.

„Egal“, sagte Gabriel. „Nur dummes Geschwätz.“

Er drehte sich um und ging zurück zum Bahnhof, wo der Laden mit dem Illy-Schild war. Ein paar Minuten zuvor war er an ihm vorbeigegangen.

„Ist okay, wenn du kommst und schaust“, rief der Vorarbeiter ihm nach. „Kein Problem.“

Als er sich dem Sandwichladen näherte, hielt Gabriel inne. Er wollte das Café nicht betreten. Er wollte den Mann nicht treffen, der mehr Zeit mit seinem Großvater verbracht hatte als sein eigener Enkel. Er wollte nichts von der Welt seines Großvaters hören, von der er nie etwas gewusst hatte. Trotzdem straffte er die Schultern und ging hinein.

Der braune Lack des Tresens war zerkratzt und platzte an manchen Ecken schon ab. Hinter einer Glasscheibe lagen Croissants und belegte Brötchen. Zur Rechten stand die Tür zu den Toiletten halb offen. An der Wand waren runde Tische aufgereiht. Sie alle waren belegt von Arbeitern und anderen Gästen. Auf einem Flachbildschirm lief Fußball. Der Ton war ausgeschaltet.

An einem Tisch am Ende des Raums sah Gabriel einen blonden Mann mittleren Alters. Er saß allein vor einer leeren Mokkatasse und trug eine ärmellose, wattierte Weste über einem Kordhemd. Seine Hände lagen, zu Fäusten geballt, auf dem Tisch. Er hatte den halbkonzentrierten Ausdruck von jemandem, der alles im Blick hatte, ohne auf etwas Besonderes zu achten. Als er Gabriel sah, nickte er ihm zu.

Gabriel setzte sich ihm gegenüber. „Bringen wir’s bitte schnell hinter uns, Mr. Whyte. Was brauchen Sie?“

„Junge, ich verstehe, dass du wütend bist, aber du bist auf den Falschen wütend. Ich versuche nur, dir einen Gefallen zu tun.“ „Noch einen?“

Whyte sah ihn abschätzig an.

„Du spielst auf die Kassette an“, sagte er schließlich.

„Das ist ein wichtiges Beweisstück für den Mord an meinem Großvater. Und Sie haben es gestohlen.“

„Wär’s dir lieber, Commandant Georges Savarin von Interpols Abteilung für Kunstdiebstahl hätte es in seine schmierigen Finger bekommen?“

Es war weniger eine Frage als eine verachtende Feststellung. Gabriel spürte, wie sich etwas Unbestimmtes in ihm regte. Er ging an die Bar, holte sich einen Macchiato und setzte sich wieder hin. Er nippte daran und schob dann die Tasse beiseite. „Was haben Sie noch aus seiner Wohnung mitgenommen?“

Whyte versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, als betrachtete er einen Psychiatriepatienten durch eine Einwegscheibe. „Erinnerungen. Hör zu, bevor ich …“

„Was ist ‚Kultur für alle‘? Die Bullen haben dauernd davon geredet.“

„Himmel. Wo warst du die ganze Zeit? Liest du keine Zeitung?“

Gabriel wurde rot.

„Dyslexie, stimmt’s?“, sagte Whyte. „Hat mir Max erzählt.“

„Was ist mit Ihrer verdammten Hand los?“, lenkte Gabriel ab.

Whyte überging die Frage. „Ich habe die Kassette genommen, weil es zu meinen Aufgaben gehört. Wenn Max mit bestimmten Leuten verhandelt hat, war er immer verkabelt. Ich sollte dann die Kassetten einsammeln und an einen sicheren Ort bringen. Ich ging in seine Wohnung, suchte nach ihm, fand das.“ Er warf eine schwarze Kassette auf den Tisch, als wäre sie ein Jeton und er in einem Casino. „Dann bin ich schon auf halbem Weg in Österreich, und die Bullen rufen mich an.“

Whyte sah mitgenommen aus, die Haut spannte über seinen Wangen. „Ich will den Schlüssel für das Haus in Lech.“

„Geht er dorthin? Der Mörder?“

„Wenn er nach etwas sucht, das Max besitzt, wird er es versuchen, bevor die Bullen dort sind. Die von Interpol werden so zwei, drei Tage brauchen, bis sie einen Durchsuchungsbeschluss haben, denk’ ich. Sie müssen das erst mit dem Arlberger Gericht abklären.“

„Die Haushälterin, Frau Köberl, ist dort. Ich müsste mitkommen.“

„Ich kann nur auf einen Arsch aufpassen, nämlich auf meinen. Bleib in deinem Schloss, ruf sie an und sag, dass ich komme.“

„Was ist mit der Kassette?“

Whyte wandte den Blick ab und zog scharf die Luft ein. „In der Nacht, in der Max ermordet wurde, hinterließ er eine Nachricht auf meinem Handy. Nur, dass da keine Nachricht war. Er wurde unterbrochen, als hätte ihm jemand das Telefon aus der Hand geschlagen. Was glaubst du denn, was auf der Kassette drauf ist, Strahlemann?“

„Haben Sie sie sich angehört?“

Hilflosigkeit huschte über Whytes Gesicht. „Das kann ich nicht … Das ist mir zu heftig.“

Gabriels Blick fiel auf die Kassette. Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann es auch nicht.“ Er steckte die Kassette ein und stand auf. „Auf dem Weg zur Autobahn halten wir bei der Polizei in Florenz, und da hinterlasse ich sie. Zum Abendessen sind wir in Lech.“

Das Vermächtnis. The Legacy

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